Vor dem Landgericht Oldenburg fand kürzlich der Prozess um mutmaßliche Vergewaltigungen in einer islamischen Ehe statt. Weil das vermeintliche Opfer vor Gericht seine Anschuldigungen nicht wiederholte und Widersprüchliches aussagte, endete er nach zwei Verhandlungstagen mit einem Freispruch. Die Aussagen geben einen Einblick in die islamische Parallelgesellschaft.
Laut der Anklageschrift, die auf Aussagen beruht, die Frau I. bei der Polizei getätigt hat, habe der Angeklagte Mohammed Y. sie zu der Zeit, als sie in einer gemeinsamen Wohnung lebten, zweimal vergewaltigt. Dabei habe er sie gegen den Kopf geschlagen und sie an den Haaren gezogen. Sie habe eine Lippenverletzung davongetragen, ein Schneidezahn sei abgebrochen. Blut sei an ihrem Schlafanzug gewesen. Dass sie dem Geschlechtsverkehr nicht zugestimmt habe, hätte Mohammed Y. spätestens daran erkennen müssen, dass sie „erheblichen Widerstand“ geleistet habe. Sie habe ihn so fest in die Brust gebissen, dass er geblutet habe.
Mohammed Y. ist Anfang 30 und etwa 1,75 Meter groß, hat schwarze Haare, die vor nicht langer Zeit geschnitten wurden, und einen ebenso gepflegten schwarzen Vollbart. Vor Gericht erscheint er in einer dunklen Winterjacke. Obwohl er nach eigenen Angaben recht ordentlich Deutsch spricht („verstehe 90 Prozent“) bekommt er einen Dolmetscher. Zu seiner Biografie sagt Mohammed Y., er sei in „Tulkarem in Israel“ geboren, als „staatenloser Palästinenser“. Er habe eine kleine Tochter, die bei der Mutter wohne. Die Mutter, das ist Frau I. Sie hat Y. beschuldigt, sie zweimal vergewaltigt zu haben und wird bei diesem Prozess als Zeugin auftreten. Mohammed Y. und Frau I. waren nach islamischem Recht verheiratet, nicht aber standesamtlich.
Auf Nachfrage der Richterin gibt Mohammed Y. an, seine Tochter alle zwei Wochen für jeweils drei Tage zu sehen. Er lebe von Hartz IV, habe keine Ausbildung. 2012 sei er als Student nach Deutschland gekommen. Das Studium habe er aber „noch nicht abgeschlossen“, fügt er hinzu. Die Richterin erkundigt sich nach seinem Aufenthaltsstatus. Er habe eine Duldung, antwortet er.
Mohammed Y. sagt erst mal nichts
Die Richterin will wissen, wie sich das Verhältnis zwischen Mohammed Y. und Frau I. entwickelt habe, nachdem diese nach der Vergewaltigung, die sie ihm vorgeworfen habe, aus der gemeinsamen Wohnung in Oldenburg ausgezogen sei. Sie hätten sich weiter gesehen und sogar mehrere Monate wieder in einer gemeinsamen Wohnung in Hannover gelebt, behauptet Mohammed Y.
Die Richterin erkundigt sich nach der Wahrnehmung des Sorgerechts für die gemeinsame Tochter. Wie gelangt die Tochter zu Mohammed Y.? Er hole sie in der Wohnung der Frau I. in Emden ab, sagt er. Ob das so ablaufe, dass Mohammed Y. klingele und Frau I. das Kind an die Tür bringe, fragt die Richterin. Ja, genau so, sagt Mohammed Y.
Der Richterin entfährt ein kurzes verlegenes Lachen. Sie fragt den Verteidiger, ob sein Mandant sich heute schon zur Sache äußern wolle. Der Anwalt sagt, er sehe Mohammed Y. heute zum ersten Mal, sie hätten noch nie miteinander gesprochen. Darum werde sich sein Mandant erst in der nächsten Verhandlungssitzung äußern. Die Richterin beendet die Sitzung und schärft Mohammed Y. ein, am nächsten Verhandlungstag auf jeden Fall zu erscheinen, damit sie ihn nicht von der Polizei holen lassen müsse. Offenbar hält sie diese Ermahnung aus irgendeinem Grund für notwendig.
Keine Erinnerung an das Datum der Hochzeit
Zweiter Verhandlungstag. Mohammed Y. wird befragt. Schon die Feststellung der einfachsten biografischen Daten gestaltet sich schwierig. Etwa, wann Mohammed Y. und Frau I. zusammengewohnt haben. Mohammed Y. vermag sich auch nicht daran zu erinnern, wann er Frau I. nach islamischem Recht geheiratet hat. Er gibt verschiedene Daten an, es wirkt, als würde er raten. „Was denn nun?“, fragt die Richterin. Ob er denn wisse, wann er Frau I. kennengelernt habe, forscht die Richterin nach. Mohammed Y. sagt, das sei „Anfang 2019“ gewesen. Die Richterin erinnert ihn daran, dass seine Tochter im Sommer 2019 geboren wurde. „Da müssen Sie sich doch vorher kennengelernt haben.“
Vielleicht sei es „im August oder November“ 2018 gewesen, sagt Mohammed Y. Wie er sie kennengelernt habe? „Auf der Straße.“ Sie sei allein gewesen, sie hätten ihre Beziehung und Heirat verheimlicht. Er glaube, dass sie „Anfang 2021“ zusammengezogen seien und geheiratet hätten. „Das ist ja alles durcheinander“, sagt die Richterin genervt. Wenn Y. nicht etwas erzähle, das Sinn ergebe, werde sie an dieser Stelle mit der Befragung aufhören.
Mohammed Y. bittet um Erlaubnis, sein Handy benutzen zu dürfen, damit es seinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Beim Scrollen der auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Fotos merkt er allerdings, dass auch das nicht ausreicht. Es gebe da „ein Video“, wenn er sich das ansehe, werde er bestimmt wieder wissen, wann sie geheiratet hätten, allerdings „dauert das sieben Minuten“. An dieser Stelle schlägt der Verteidiger vor, „erst einmal“ über andere Dinge zu reden.
„Sie schlägt wie verrückt“
Mohammed Y. erzählt, wie sie zusammen in einer 1-Zimmer-Wohnung gewohnt hätten. Frau I. sei von ihrem früheren Ehemann stark unter Druck gesetzt worden. Sie habe keine Sozialleistungen erhalten, er, Mohammed Y., habe „als Student“ arbeiten müssen. Er habe mit anderen Mädchen gechattet, das habe immer wieder zu Streit geführt, der von Frau I. ausgegangen sei. Nachbarn könnten das bezeugen. Er habe Frau I. nicht geschlagen. Sie habe im Gegenteil ihn geschlagen und immer wieder „Gegenstände kaputt gemacht“. Einmal, im April 2020, habe sie ihn mit einem Staubsauger am Arm verletzt. „Sie schlägt wie verrückt“, sagt Mohammed Y. Er habe einmal auf Video aufgenommen, wie sie „alles kaputt“ gemacht habe, sie sei „anormal“. Wann er seine Tochter das letzte Mal gesehen habe, fragt die Richterin. „Vorgestern.“
Mohammed Y. bestreitet den Vorwurf der Vergewaltigung. Er behauptet, dass Frau I. zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt im April 2020 gar nicht mit ihm zusammengelebt habe. Er habe mit dem Vater von Frau I. gesprochen, erzählt er. Der Vater glaube, dass seine Tochter ihn, Mohammed Y., „in Misskredit“ bringen wolle. Der Vater habe versucht, ihr „auszureden“, den Vorwurf der Vergewaltigung aufrechtzuerhalten, seine Tochter sei aber „stur“ geblieben. „Man muss nun abwarten, was sie heute sagen wird“, so Mohammed Y. Weiß er etwas, das der Staatsanwalt und die Richterin nicht wissen?
„Eigentlich hätten sie mich umbringen müssen“
Frau I., die „Hausfrau“ als ihren Beruf angibt, ist von zierlicher Statur, 22 Jahre alt und westlich gekleidet. Sie trägt ein Kopftuch, das ihr Haar auf der Mitte des Kopfes bedeckt, während vorne, hinten und an den Seiten Strähnen zu sehen sind. Sie spricht kein Deutsch, alles wird aus dem Arabischen gedolmetscht.
Die Richterin bittet Frau I., frei und zusammenhängend etwas über ihr Leben zu erzählen. Frau I. nimmt sich die Aufforderung vielleicht etwas zu sehr zu Herzen: Im Folgenden erzählt sie viel über ihr Leben und kaum etwas über die mutmaßliche Straftat, die verhandelt werden soll. Doch was sie zu erzählen hat, ist in jedem Fall interessant.
Frau I. berichtet, dass sie aus Syrien stamme und im Mai 2016 in der Türkei verheiratet worden sei, und zwar mit ihrem Cousin. Aus dieser Ehe stamme ihr Sohn. Zu der Heirat sei sie „genötigt“ worden. Sie hätten kein gutes Leben gehabt, ihr Mann, der als Polsterer arbeite, habe die Verantwortung für die Eltern und seine Schwester übernehmen müssen. Die Ehe habe bis 2018/19 gedauert. Sie hätten eine gute Beziehung gehabt, bis Mohammed Y. aufgetaucht sei. Sie habe ihn zum ersten Mal am Bahnhof gesehen. Dann im Supermarkt. Sie hätten nicht weit entfernt voneinander gewohnt. Er habe sie angesprochen und nach ihrer Handynummer gefragt. Sein Aussehen habe ihr gefallen. Sie hätten geredet, ohne dass es ihr Mann erfahren habe.
Mohammed Y. habe sie gefragt, ob sie ihren Mann verlassen, ihn heiraten und von ihm „ein Baby haben“ wolle. Sie sei dann „direkt“ schwanger geworden. Als Mohammed Y. von der Schwangerschaft erfahren habe, habe er ihr gesagt, dass das „falsch“ sei: Sie müsse sich erst scheiden lassen, dann zu ihm ziehen und ihn heiraten – erst dann könnten sie beide ein Baby haben. Nun solle sie erst einmal das Baby abtreiben lassen. Sie habe gesagt: „okay“. Der Arzt, von dem sie die Abtreibung habe vornehmen lassen wollen, habe ihr zwei Tage Bedenkzeit auferlegt.
Zur Abtreibung gedrängt
In dieser Zeit habe ihr Ehemann von der Schwangerschaft erfahren. Er habe sie dann bei seinem Bruder eingesperrt. Sie habe Mohammed Y. eine Textnachricht geschickt, in der sie ihn gewarnt habe, dass er die Stadt verlassen müsse. Er solle sich keine Sorgen machen, sie werde eine Abtreibung vornehmen. Um fünf Uhr morgens solle er unter dem Fenster des Raumes stehen, in dem sie gefangen gehalten werde, dort werde er einen Brief von ihr erhalten. Mohammed Y. sei aber nicht gekommen. Ihr Mann habe von ihr wissen wollen, wie der Vater des Kindes heiße und ob er „ein Auto“ habe. Er sei „sauer“ geworden und habe sie geschlagen. Dabei sei der Brief auf den Boden gefallen. Aus jenem Brief sei klar geworden, dass das Baby von Mohammed Y. stamme. Ihr Mann habe geflucht, der Vater von Frau I. habe ihn beschwichtigen müssen: Frau I. sei „noch sehr jung“ gewesen, als sie mit ihm verheiratet worden sei.
Einen Monat lang sei sie dann eingesperrt gewesen. In der Zeit hätten einige Verwandte versucht, den Ehemann von Frau I. zu beruhigen. Sie selbst habe versucht, ihm einzureden, dass das Kind von ihm sei. Ihr Ehemann habe dann die folgende Forderung gestellt: Das Kind müsse abgetrieben werden, Frau I. müsse jeden Kontakt zu Mohammed Y. einstellen. Auch Mohammed Y. habe sie erpresst: Wenn sie das Kind nicht abtreibe, werde er Fotos von ihr veröffentlichen und ihrem Vater zuspielen. Er werde sie „blamieren“.
Als sie zum Arzt gegangen sei, habe sich herausgestellt, dass es für eine Abtreibung zu spät gewesen sei. Der Vater habe dann einen Plan gemacht: Sie werde das Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben und allen Leuten, die sie kenne, erzählen, dass es „gestorben“ sei. Sie habe sich gefügt und allem zugestimmt, denn:
„Eigentlich hätten sie mich umbringen müssen. Eine Frau, die so etwas macht wie ich, muss umgebracht werden. So ist das bei uns.“
Heirat nach der Vergewaltigung?
Frau I. durfte das Haus nur noch in Begleitung ihres Mannes verlassen. Aus ihrem Handy sei die SIM-Karte entfernt worden. Dennoch sei es ihr gelungen, weiter Kontakt zu Mohammed Y. zu halten; sie habe ihn in Nachrichten weiter zur Flucht gedrängt. Unterdessen begann das Kind in ihrem Bauch zu wachsen und sich zu bewegen und Frau I. wollte es nicht mehr weggeben. Mohammed Y. arbeitete weiter gegen sie: Nach einem Termin beim Frauenarzt habe er ihren Ehemann angerufen und ihm davon erzählt. Der sei wütend geworden und habe gefragt, woher Mohammed Y. das gewusst habe. Fortan habe sie auch zum Arzt nur noch in Begleitung gehen dürfen.
Bei der Geburt der Tochter sei Mohammed Y. im Urlaub „in Palästina“ gewesen. Drei Tage später habe er das Kind dann für „fünf Minuten“ gesehen. Er habe ein Foto des Babys an den Ehemann geschickt. Dieser sei wieder wütend geworden und habe wissen wollen, woher Mohammed Y. das Foto habe. Das müsse er wohl von ihrem Instagram-Account haben, erklärte ihm Frau I. Ungeachtet all dieser Vorfälle „versöhnten“ sich Frau I. und Mohammed Y., berichtet Frau I. Geheiratet hätten sie 2021– das wäre, wenn es denn stimmt, in dem Jahr nach den zwei behaupteten Vergewaltigungen gewesen. Inzwischen seien sie wieder geschieden. Das sei im Islam einfach, erklärt Frau I., man müsse nur dreimal „Du bist geschieden“ sagen. Probleme habe es in ihrer Ehe wegen des Haschisch-Konsums von Mohammed Y. gegeben und wegen der anderen Frauen, zu denen er Beziehungen unterhalten habe. Es seien auch „Sachen kaputt gegangen“.
Die Richterin fragt, ob Frau I. wisse, was eine Vergewaltigung sei. Frau I. antwortet: Das sei, „wenn jemand mit dir schläft, obwohl du das nicht möchtest, auch wenn keine Gewalt verübt wird“. „Hat Herr Y. Sie geschlagen?“, fragt die Richterin. Ja, erwidert Frau I. „Hat er Sie vergewaltigt?“ Gemäß ihrer genannten Definition habe er das, so Frau I.
Plötzlich fehlt die Erinnerung
Sie habe keine Möglichkeit gehabt, nein zu sagen. Einmal habe sie Mohammed Y. im Wohnzimmer zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Sie habe sich nicht wehren können, weil sie dann ihren Sohn geweckt hätte, der im Zimmer nebenan geschlafen habe. Sie habe nicht gewollt, dass ihr Sohn sie in dieser Situation antrifft. Immer wieder fragt die Richterin nach den Gewalttaten von Mohammed Y., die Frau I. gegenüber der Polizei konkret beschrieben hatte. Doch daran will sich Frau I. nun nicht mehr erinnern. An einer Stelle sagt Frau I., die Vergewaltigung sei ihr „nicht mehr so präsent“. Weil Frau I. nichts mehr sagt, das für eine Verurteilung benutzt werden könnte, beschließt die Richterin im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft, das Verfahren mit einem Freispruch zu beenden.
Wieso wiederholte Frau I. vor Gericht nicht ihre früheren Anschuldigungen? Entweder waren diese von Anfang an nicht wahr gewesen. Oder aber in der Zeit, die zwischen der Aussage bei der Polizei und der Gerichtsverhandlung verstrich, war Druck auf sie ausgeübt worden. Mohammed Y. selbst hatte ja vor Gericht gesagt, der Vater von Frau I. habe versucht, ihr auszureden, den Vorwurf der Vergewaltigung aufrechtzuerhalten. Dass der Vater Sanktionsmöglichkeiten hat, zeigt die Aussage von Frau I, dass man sie eigentlich „hätte umbringen“ müssen. Und warum sagte Mohammed Y.: „Man muss nun abwarten, was sie heute sagen wird“? Hatte er Grund zu der Annahme, dass sie einen Sinneswandel hatte?
Die Frage, wann die „islamische Ehe“ nun eigentlich geschlossen wurde – war es wirklich nach den behaupteten Vergewaltigungen? –, wurde vor Gericht nicht geklärt. Eigentlich sollte es auch über eine islamische Eheschließung Dokumente geben – andere als ein Handy-Video. Doch diese Dokumente lagen dem Gericht nicht vor. Dem Gericht zu erzählen, dass das mutmaßliche Opfer der Vergewaltigung ihren Vergewaltiger anschließend (und nicht etwa vorher) geheiratet hat – könnte das eine Taktik gewesen sein, um eine Verurteilung zu verhindern? Man muss an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass es Frau I. nach dem Stellen ihrer Strafanzeige nicht möglich war, diese zurückzuziehen; von nun an lag der Fall bei der Staatsanwaltschaft. Wohl aber konnte Frau I. durch ihre Aussagen vor Gericht verhindern, dass es zu einer Verurteilung kommt.
Wie nicht unüblich bei Gerichtsverfahren, bei denen sowohl der Angeklagte als auch die Zeugen muslimisch sind, blieb auch diesmal einiges im Dunkeln, gab es Fragen, die sich einfach nicht beantworten ließen.