Alles begann mit einem „nicht hilfreich“ vor 14 Jahren. Die Gesprächsverweigerung führte zur Spaltung, zu Politikversagen und zum Niedergang des ganzen Landes. So mancher der hier dargestellten exemplarischen Dialoge dürfte Ihnen bekannt vorkommen.
In einem alten Cartoon des legendären Berliner Allround-Künstlers Fil sitzen unter dem Titel „Man kann doch drüber reden“ drei männliche Figuren unterschiedlichen Alters und aus erkennbar unterschiedlichen sozialen Schichten nebeneinander in einer Kneipe. Der Erste, ein älterer Kulturbetriebs-Intellektueller fachsimpelt über Beethoven, der Zweite, ein übergewichtiger Proll, klagt: „Bin arbeitslos, scheiße!“, und der Dritte, ein Junge von vielleicht zehn Jahren, schwärmt von Legosteinen. Jeder der drei monologisiert vor sich hin, ohne auf die anderen Redebeiträge einzugehen. Eine typische Eckkneipenkommunikation, die ihre Komik aus dem Kontrast zum Titel bezieht, der suggeriert, hier fände ein echtes Gespräch statt.
Das selbstbezogene Vor-sich-hin-Labern erfüllt eine wichtige psychologische Funktion: Dampf ablassen, seinem Herzen Luft machen, sich den Kummer von der Seele reden – alles besser, als ihn schweigend in sich hineinzufressen. Doch ein Gespräch, das seinen Namen verdient, sieht anders aus. Der Duden definiert es als „mündlichen Gedankenaustausch in Rede und Gegenrede über ein bestimmtes Thema“. In einem echten Gespräch überschreiten wir unseren durch das eigene Ich beschränkten Horizont und öffnen uns für die Gedankenwelt des Gesprächspartners, entwickeln zumindest Verständnis dafür, wie und warum dieser zu seiner Meinung gelangt ist, auch wenn wir sie nicht teilen. Vielleicht modifizieren oder revidieren wir den eigenen Standpunkt, was dann möglicherweise sogar Auswirkungen auf unser Handeln hat.
Der verkümmerte Diskurs
Im realen Leben läuft es leider nicht so, jedenfalls nicht, wenn es um politische Themen geht. Mein eigener Bekanntenkreis begann sich nach 2010 zu spalten, seit der Diskussion um Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Die einen neigten – meist aufgrund einschlägiger Erfahrungen in Berliner Bildungseinrichtungen – Sarrazins Thesen zu bzw. hielten diese zumindest für diskutabel. Die anderen brachen jedes Gespräch darüber schon im Ansatz ab und schlossen sich den „Hetzer!“- und „Rassismus!“-Vorwürfen einer großen Koalition aus Politik und Medien an. Es waren die ersten Merkeljahre. Die Kanzlerin hatte beschieden, Sarrazins Buch sei „nicht hilfreich“ und damit erstmals die autoritären Neigungen erkennen lassen, mit denen sie das Land in den Folgejahren in Richtung eines postdemokratischen Gesinnungsstaates transformieren sollte. Die Spaltung vertiefte sich massiv mit der Grenzöffnung 2015, die Merkel aus Angst vor den hässlichen Bildern einer Zurückweisung von Migranten mithilfe der populistischen Losung „Wir schaffen das!“ durchsetzte.
Sie war es auch, die mit dem Diktum von der „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik den Anstoß für die Gründung der „Alternative für Deutschland“ gab, auf die fortan alles abgeladen und projiziert wurde, was im Land schief lief. Die AfD wurde verantwortlich gemacht für die Spaltung der Gesellschaft, für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, für die mangelhafte Integration von Millionen Zuwanderern, ja selbst für wirtschaftliche Misserfolge.
In den sechzehn Jahren der Kanzlerschaft von Angela Merkel veränderte sich das Land zur fast völligen Unkenntlichkeit. Der öffentliche Diskurs verkümmerte, weil die entscheidenden Themen in der Migrations-, Energie- und Sozialpolitik mit Tabus belegt wurden. Wer diese nicht beachtete, wurde von Politik und Medien in die rechte Ecke geschoben und damit mundtot gemacht. Und da nicht mehr offen über die bestehenden Probleme und Missstände geredet wurde, wurden diese auch nicht mehr angepackt, sondern nur noch verwaltet.
Von oben nach unten sickerten Sprach- und Denkverbote, Heuchelei, Unaufrichtigkeit und die Angst vor Ausgrenzung in alle gesellschaftlichen Bereiche und durchsetzten auch die private Kommunikation. Seit Corona und erst recht seit dem Krieg in der Ukraine wurde aus der Spaltung eine vielfache Zersplitterung, oft quer zu den bisherigen Parteibildungen. Dabei gab es mindestens 5 Themenbereiche, an denen sich regelmäßig heftige Kontroversen entzündeten.
Du redest wie die AfD
Man kann darüber reden? Nein, eigentlich nicht. Schon gar nicht mit Coco. Trotzdem habe ich es in den letzten Jahren immer wieder versucht. Solche Versuche, die meist schnell endeten, sahen etwa folgendermaßen aus:
1. Über die unkontrollierte Massenzuwanderung
Ich: „Wir können nicht Abermillionen aus aller Welt aufnehmen. Außerdem geht unser Asylrecht kaputt, wenn wir Wirtschaftsmigranten als „Flüchtlinge“ oder „Schutzsuchende“ deklarieren.“
Coco: „Du redest ja wie die AfD! Warum nicht etwas abgeben von unserem Wohlstand? Wir sind doch ein reiches Land!“
Ich: „Wir sind längst nicht mehr so reich. Andere europäische Länder haben eine viel höhere Wohneigentumsquote.“
Coco: „Das wäre mir neu.“
So redet eine bestens gesettelte Doppelverdienerin, die mit ihrem langjährigen Freund eine geräumige 4-Zimmer-Altbauwohnung in einem gutbürgerlichen Bezirk Berlins bewohnt. Die beiden leisten sich ein E-Auto und vier bis fünf kleinere oder größere Urlaubsreisen pro Jahr, haben null Kontakt zu Menschen aus niederen Schichten, außer zu ihrer polnischen Reinigungskraft. Trotz ihres gehobenen Lebensstandards bezeichnet sich Coco weiterhin als „Linke“ und ist jederzeit bereit, sich für „Teilhabe“ angeblich diskriminierter Minderheiten und „gegen Rechts“ zu engagieren.
Das Problem bei diesem Gespräch war auch das unterschiedliche „Wir“. Ich meinte damit unser Land, Coco redete von sich und ihresgleichen. Jedes Gefühl für das, was früher Gemeinwohl hieß, ist ihr abhanden gekommen.
2. Über den Islam
Ich: „Die mit der Migration verbundenen Probleme sind meist solche mit muslimischen Zuwanderern. Ein beträchtlicher Teil von ihnen verachtet die Aufnahmegesellschaft und will sich gar nicht integrieren. Das könnte was mit dem Islam zu tun haben.“
Coco: „Wieso das denn? Du redest wie die AfD! Der Islam ist ja wohl eine Religion wie jede andere auch.“
Ich: „Ich habe mal in den Koran reingelesen. Auf jeder zweiten Seite geht es um Ungläubige und Feinde, die zu bestrafen oder zu töten sind.“
Coco: „Das ist doch in der Bibel ganz genauso.“
Ich: „Hast du die Bibel denn gelesen?“
Coco: „Brauche ich nicht. Mir reichen die Kreuzzüge und die Hexenverbrennungen!“
Obwohl sie keine Ahnung von Religionen und ihren unterschiedlichen Hintergründen hat, lässt Coco am Christentum kein gutes Haar, springt aber aggressiv auf jede kritische Äußerung am Islam an, wittert sofort „antimuslimischen Rassismus“.
Corona und das Gendern
Während ich im Frühsommer 2020 nach zwei Monaten Lockdown misstrauisch wurde und die Corona-Politik zu hinterfragen begann, trug Coco alle Maßnahmen der Bundesregierung über drei lange Jahre mit und setzte sie in ihrem privaten Umfeld konsequent um. Bei unseren immer seltener werdenden Treffen trug sie stets Maske, auch im Freien.
3. Über Corona-Demos
Ich: „Ich war selbst auf der großen Demo gegen die Corona-Maßnahmen, und da habe ich in der überwiegenden Mehrheit keine Schwurbler gesehen, sondern völlig normale Leute, davon viele aus dem eher linksalternativen Spektrum.“
Coco: „Du gehst auf eine Demo, wo Nazis mitlaufen?“
Ich: „Wenn man sich bei jedem öffentlichen Protest vergewissern muss, dass keine Extremisten und Spinner dabei sind, kann man überhaupt nicht mehr protestieren. Dich hat der schwarze Block auf den linken Demos auch nie gestört, der sich hinter der Masse versteckte, um Steine zu werfen, oder?“
Coco: „Willst du etwa Nazis und Autonome auf eine Stufe stellen? Du redest wie die AfD!“
Ich: „Vielleicht sollten die anderen Parteien endlich mal die Probleme aufgreifen, die den Leuten unter den Nägeln brennen. Dann müssten die Leute nicht AfD wählen.“
Coco: „Nein, man darf sich von den Rechten nicht die Themen diktieren lassen. Und wer Nazis wählt, ist selbst ein Nazi.“
Es war eben in der Corona-Zeit, als unsere Medien das Gender-Thema groß machten. Coco war voll angefixt. Plötzlich flocht sie überall das „-Innen“ ein, ständig mussten alle auch noch so abseitigen Zwischen-Identitäten „mit gemeint“ sein. Ich grübelte, warum das Thema ausgerechnet in den Monaten des Lockdowns so hochkochte. Dieselben Leute, bei denen diese unangenehme, uralte deutsche Blockwart-Mentalität wieder zum Vorschein kam, die argwöhnisch darüber wachten, dass der Nachbar keinen Besuch empfing und die Masken der Mitfahrer in der U-Bahn richtig saßen, maßregelten zugleich andere, wenn sie nicht „richtig“ genderten oder bei brandneu entdeckten Queer-Existenzen die falschen Pronomen benutzten. Wieso korrespondierte der eskalierende Sprachpurismus mit dem Lockdown-Fanatismus?
War die plötzlich aufkommende Genderei inmitten der Kunstwelt einer aufgebauschten Pandemie ein Abdriften in eine weitere Sphäre des Irrealen, wie bei einem Astronauten, der bei einem Ausflug aus seinem Raumschiff die Leine kappt und sich in den Weiten des Alls verliert? Oder war das verbohrte Beharren auf der „Sichtbarwerdung“ erfundener Geschlechter eine verquere Kompensation der eigenen Einsamkeit und sozialen Isolation?
Ukraine und Gaza
Dann kam der russische Überfall auf die Ukraine, und schlagartig verschwand das Corona-Thema aus den Medien. Von einem Tag auf den anderen lockten die angeblich zu hohen Inzidenzen und überfüllten Intensivstationen keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Und, o Wunder, bei der Ukraine waren Coco und und ich uns ausnahmsweise einmal einig, jedenfalls in den ersten Monaten des Krieges: Putin musste Einhalt geboten, die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit und Souveränität unterstützt werden.
Umso erstaunter war ich, als wir uns nach einigen Monaten wiedersahen, denn unser beider Standpunkte hatten sich gehörig verschoben. Mich hatten mittlerweile Zweifel ergriffen. Die Videos von den durch die Drohnen des jeweils anderen getöteten jungen ukrainischen und russischen Soldaten gingen mir an die Nieren. Einerseits sollte Deutschland angesichts der russischen Bedrohung „kriegsfähig“ werden, andererseits blieb die Bundesregierung untätig gegenüber der explodierenden Kriminalität im Inland und packte keines der massiven hausgemachten Probleme an. Das passte nicht zusammen. Nein, ich fand, das Blutvergießen in der Ukraine musste aufhören, und dafür musste Druck von allen Seiten her, um beide Kriegsparteien zu einem Waffenstillstand zu bewegen.
Coco stimmte zu, nun aber mit einem Zungenschlag, der mich zum Widerspruch reizte. Der Krieg habe ja eine sehr lange Vorgeschichte, deutete sie an, sprach höhnisch vom „Schauspieler“ Selenskyj und bezeichnete die Ukraine als einen der korruptesten Staaten der Welt. Außerdem würden viele der sogenannten ukrainischen Flüchtlinge mit teuren Luxuswagen in Deutschland herumfahren und hier Sozialleistungen absahnen.
4. Ukraine
Ich „Egal, was vorher passiert ist, mit seinem Einmarsch hat Putin eine neue Qualität geschaffen. Er verheizt an der Front Sträflinge und nationale Minderheiten, verwandelt sein Land in eine Diktatur. Schau dir bloß mal an, wer jetzt seine besten Freunde sind: Weißrussland, China, Iran und Nordkorea. Und egal, wie korrupt die Ukraine ist und was man Selenskyj vorwerfen kann, das alles trifft auf Putins Russland doppelt und dreifach so schlimm zu.“
Coco: „Ich muss leider feststellen, dass du auch auf die Anti-Putin-Propaganda der westlichen Medien reingefallen bist.“
„Jetzt klingst du wie die AfD!“, sprengte diesmal ich die Diskussion mit einem Revanchefoul, bevor wir in beiderseitiger Verstimmung auseinander gingen.
Warum verabredete ich mich eigentlich noch mit Coco? Wir kannten uns schon so lange, und ich war immer der Meinung gewesen, man dürfe sich lange Freundschaften oder gute Bekanntschaften nicht durch politischen Streit kaputt machen lassen. Deshalb trafen wir uns nach einer längeren Pause wieder und umschifften zwei Stunden lang erfolgreich alle politischen Themen. Schließlich brachte Coco das Gespräch auf den Israel-Gaza-Konflikt.
5. Israel-Gaza
Coco: „Schon am Abend des 7. Oktober dachte ich: Die armen Palästinenser!“
Ich: „Hä? An diesem Tag wurden 1.200 Israelis abgeschlachtet, weil sie Juden sind!“
Coco: „Ja, aber ich dachte mir schon, dass Israel darauf überreagieren würden.“
Hin und her ging es, „Nakba“ vs. die Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern (Coco: „Davon höre ich zum ersten Mal!“), „Eigentlich sind wir Deutschen schuld, da ohne Holocaust kein Israel auf dem Land der Palästinenser“ vs. „Nein, da lebten schon immer Juden, und im Übrigen gibt es die „Palästinenser“ erst seit Arafat“ etc.pp.
Wie war das gleich noch? Ein Gespräch ist ein „mündlicher Gedankenaustausch in Rede und Gegenrede über ein bestimmtes Thema“. Mehr wollte ich doch gar nicht von Coco, die sich in Wahrheit aus verschiedenen Einzelpersonen zusammensetzt, wobei die Diskussionen mit den diversen Cocos beiderlei Geschlechts genauso geführt wurden, wie hier aufgezeichnet.
Man kann doch drüber reden? Ja und nein. Auch ich selbst bin natürlich nicht gefeit vor Irrtümern und Fehleinschätzungen und höre mir deshalb die Argumente der Anderen an. Ich möchte, dass meine Stimme im Chor der Meinungen gehört wird, nicht mehr und nicht weniger. Wenn aber Wissensstand, Informationsquellen und vor allem das Erkenntnisinteresse so unterschiedlich sind wie in den obigen Beispielen, verkümmert das Gespräch bestenfalls zu einem wechselseitig einander verfehlenden und beide Seiten befremdenden Monolog.
Die ehrliche Debatte nicht ausgehalten
Etwa zur selben Zeit wie „Deutschland schafft sich ab“ machte noch ein anderes Buch Furore: „Das Ende der Geduld“ der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig. Es handelte von jugendlichen Gewalttätern (mit und ohne Migrationshintergrund) und beeindruckte aufgrund seiner lebensnahen Beschreibungen der Problematik und der konstruktiven Lösungsvorschläge, die Heisig über das von ihr entwickelte „Neuköllner Modell“ in konkrete Politik umzusetzen versuchte.
Im Nachwort zu ihrem Buch schrieb die ebenso mutige wie einsam kämpfende Jugendrichterin, sie wünsche sich, dass künftige Generationen in Deutschland dieselben privaten und beruflichen Chancen erhielten, die sich ihr in ihrem eigenen Leben geboten hätten. Hier sehe sie jedoch Gefahren: „Die Gesellschaft befindet sich aus meiner Sicht an einem Scheideweg, Sie könnte sich spalten in „reich“ und „arm“, in „links“ und „rechts“, in „muslimisch“ und „nichtmuslimisch“. Es ist deshalb […] notwendig, eine ehrliche Debatte jenseits von Ideologien zu führen. Sie wird kontrovers, wahrscheinlich auch schmerzhaft sein. Deutschland wird sie aushalten – und mich auch.“
Mit dem zeitlichen Abstand von 14 Jahren ist festzustellen, dass Heisig prophetisch die heutige Spaltung der Gesellschaft vorhergesehen, sich mit ihrer Schlussbemerkung aber leider doppelt geirrt hat. Deutschland hat diese Frau nicht ausgehalten, was – neben den zweifellos vorhandenen persönlichen Ursachen – mit dazu führte, dass sie unmittelbar nach Fertigstellung ihres Buches den Freitod wählte. Und diejenigen, die das Land seitdem politisch und medial dominieren, haben eine ehrliche Debatte „jenseits von Ideologien“ über all die Themen, die den Bürgern auf der Seele liegen, hartnäckig verweigert – und tun dies bis heute.
Was mit Gesprächsverweigerung begann, setzt sich fort im eklatanten Versagen der herrschenden Politik und im Niedergang eines ganzen Landes, wie wir es in diesen Wochen erleben.
Für unsere Rubrik „Achgut zum Hören“ wurde dieser Text professionell eingelesen. Lassen Sie sich den Artikel hier vorlesen.
Oliver Zimski ist Übersetzer und Autor. Im Juni 2024 erschien sein neuer Roman „Jans Attentat“.