David Harnasch / 28.04.2007 / 15:28 / 0 / Seite ausdrucken

SZ-Interview mit Vaclav Havel

“Die größte Gefahr für Europa ist Europa selbst”
Tschechien ist in der Nato und der Europäischen Union gut aufgehoben, sagt Vaclav Havel. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung plädiert der frühere tschechische Staatspräsident nachdrücklich dafür, dass sich sein Land am geplanten Raketenschirm der USA beteiligt und äußert sich beunruhigt über die innere Entwicklung in Russland. Eine neue Verfassung für die EU müsse so einfach und klar sein, dass die Kinder sie in der Schule auswendig lernen könnten. Das deutsch-tschechische Verhältnis empfindet Havel als “sehr gut”.
Interview: Klaus Brill, Hans Werner Kilz

SZ: Heute geht es um vergleichbare Fragen. Russland wehrt sich vehement gegen die Pläne der USA, in Polen Raketen und in Tschechien eine Radarstation zu installieren. Was ist Ihre Meinung?

Havel: Ich bin eindeutig der Meinung, dass dieser Radar bei uns zu stehen hat. Ich habe eine ganze Reihe von Gründen dafür. Mir scheint, dass das Projekt zu einer Festigung der Sicherheit beiträgt. Unser Land ist zwar Mitglied der Nato-Allianz, was unter dem Aspekt der Sicherheit sehr gut ist, aber es ist sicherheitsmäßig noch nicht völlig verankert. Das Projekt Radarschirm ist für die Sicherheit des Staates sehr gut, es ist ein sehr guter Schutz gegen mögliche Bedrohungen. Überdies kostet es uns nichts, und es stärkt die tschechisch-amerikanischen Beziehungen. Es ist immer gut, wenn Amerika ein bisschen in Europa verankert ist. Denn die größte Gefahr für Europa ist Europa selbst. Seien wir uns immer dessen bewusst, welche Weltkriege hier in Europa ausgebrochen sind, und die Amerikaner haben dann immer die Situation gerettet. Mir scheint, dass deren Anwesenheit im ganzen auch für Europa gut ist, zumal wenn es um Systeme geht, die durch und durch der Verteidigung und nicht dem Angriff dienen.

SZ: Aber es gibt in Tschechien starken Widerstand dagegen.

Havel: Wenn sich heute bei uns Stimmen dagegen erheben, sind das durchaus unglaubwürdige und heuchlerische Stimmen, weil im vorgesehenen Stationierungsgebiet 20 Jahre lang ganze Divisionen ausländischer Truppen eines totalitären Staates standen, und niemand hat einen Laut von sich gegeben. Und wenn die Menschen Freiheit haben, dann beginnen sie zu meckern gegen eine Radarkugel im Brdy-Gebirge. Mir kommt das so tschechisch-kleinkariert vor, so heuchlerisch und miefig. Jeder möchte jetzt darüber reden, ob diese Raketen auch die anderen Raketen treffen, die sie treffen sollen, und wieviel das die Steuerzahler kostet und ob dieses ganze System nicht überflüssig ist. Sie machen sich Sorgen, ohne dafür auch nur eine Krone zahlen zu müssen. Dieses System wird jetzt seit 15 Jahren entwickelt, und wenn die Amerikaner dafür ihre Milliarden ausgeben, dann hat das ja wohl Hand und Fuß. Aber mehr als diese fachliche Seite interessiert mich die moralische Seite dieser tschechischen Haltung, dieser Tradition - ob wir die sein werden, die immer abwarten, wie eine Sache ausgeht, oder ob wir uns an einer gemeinsamen Sicherheit und Verteidigung beteiligen wollen. Und interessanterweise bringen einige Politiker das halbgare Argument vor, sie würden zustimmen, wenn das Radar ein Bestandteil der Streitkräfte der Allianz wäre. Es sei aber nur eine bilaterale Angelegenheit, sodass sie nicht zustimmen könnten. Nun, das ist eine technische Sache, dass das derzeit ins Nato-System nicht eingegliedert werden kann. Aber vor allem amüsiert mich, dass das Leute sagen und sich auf die Nato hinausreden, die früher gegen unsere Mitgliedschaft waren. Und jetzt ist sie ihnen wieder recht.

SZ: Sie haben vor dem Irak-Krieg sehr stark auf die amerikanische Karte gesetzt. Es gab da einen Brief von acht Staats- und Regierungschefs, die sich im Gegensatz zu ihren Kollegen in den anderen Ländern Europas für den Krieg aussprachen. Das hat Irritationen hervorgerufen. Haben Sie heute eine andere Haltung zum Irak-Krieg als damals?

Havel: Prinzipiell habe ich immer den Sturz Saddam Husseins gebilligt. Man kann nicht endlos zusehen, wie jemand in unserer Nähe Völkermord begeht. Hier stellt der Mensch irgendwie einen höheren Wert dar als die staatliche Souveränität. Also war ich nicht gegen den Einsatz an sich. Alle anderen Zusammenhänge hielt ich für unglücklich: das Timing, die ungenügende Vorbereitung und eine unzureichende Vorstellung davon, was nach dieser Invasion passiert, und so weiter. All diese Einwände habe ich rechtzeitig Herrn Präsident Bush vorgebracht, ich bin also kein General, der nach der Schlacht klüger ist. Aber damals, als es hieß: entweder - oder, da schien es mir richtig, dass wir auf der Seite unserer Alliierten stehen. Ich habe es eher als eine Demonstration der Zusammengehörigkeit im Bündnis betrachtet und weniger als eine Identifikation mit diesem Unternehmen, das tatsächlich nicht gut durchgeführt wurde und vor allem nicht gut begründet war. Es wurde mit etwas ganz anderem begründet als dem, worin zumindest ich persönlich den richtigen Grund sehe.

Hier das ganze Interview.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
David Harnasch / 19.01.2015 / 00:54 / 1

Auge in Auge mit ISIS

Itai Anghel, israelische Reporterlegende, bei den kurdischen Gegnern des IS. VIEL spannender als Daesh-Mouthpiece Todenhöfer, absolut gut investierte 45 Minuten. Hier ansehen! / mehr

David Harnasch / 10.01.2015 / 13:05 / 12

Wer ist wir? Über Gruppenidentitäten

Warum gestern und heute so gar nichts über die Stimmung bei den französischen Juden zu hören war im TV? Einfach: Denen geht’s gold. Die werden…/ mehr

David Harnasch / 17.12.2014 / 15:03 / 3

#IllPatronizeYou

Die Twitterkampagne #illridewithyou, bei der Australier ihren muslimischen Mitbürgern ihre Unterstützung versichern, ist symptomatisch für eine sympathische Eigenschaft westlicher Gesellschaften: Selbstkritisch nach Ungerechtigkeiten zu suchen…/ mehr

David Harnasch / 07.12.2014 / 22:03 / 6

Eine nationale Schande

SPON: “Zum Ende der Isaf-Mission wurden erwartungsgemäß viele Ortskräfte gekündigt, und ohne Zweifel besteht ein direkter Zusammenhang mit dem sprunghaften Anstieg der sogenannten Gefährdungsanzeigen. Viele…/ mehr

David Harnasch / 28.10.2014 / 17:23 / 0

Durch Impfung vermeidbare Krankheiten weltweit

Ergänzend zu Beda Stadlers Artikel über Afrikas unheimliche Krankheiten sei hier eine interaktive Weltkarte verlinkt, die sehr genau ausweist, welchen Schaden mangelhafte Gesundheitssysteme einerseits und…/ mehr

David Harnasch / 24.08.2014 / 22:55 / 1

IS-Challenge

Die hochgeschätzte Titanic nominiert mich als Mitglied der Achse des Guten für die ISIS-Beheading-Challenge. Ich fühle mich geehrt, nehme die Challenge an und nominiere Jakob…/ mehr

David Harnasch / 07.08.2014 / 00:19 / 0

Wo ist Didi Todenlüders, wenn man ihn braucht?

ERBIL, Kurdistan Region—The death toll among thousands of Yezidi civilians on Shingal mountain is rising every minute, says Rudaw reporter, with dead bodies lying everywhere…/ mehr

David Harnasch / 02.08.2014 / 12:04 / 2

ISIS grüßt Mainz mit echtem Totenschädel

Das war nun gewiss keine Liberalismus-Kritik: MAINZ - (kis). Bei dem Totenkopf, den unbekannte Täter in den verwüsteten Lagerräumen der FDP zurückgelassen haben (wir berichteten),…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com