Syrien: Jeder gegen jeden – Ein Mikrokosmos des Nahen Ostens

Von Jonathan Spyer.

Das Aufeinandertreffen rivalisierender ethnisch-sektiererischer Kräfte, die von mächtigen Staaten unterstützt werden, sollte niemanden überraschen – so wird Macht in der Region ausgeübt.

Die plötzliche Offensive der sunnitischen Islamistengruppe Hayat Tahrir al Sham in Syrien hat die Welt überrascht. Das hätte nicht sein müssen.

Um zu verstehen, warum die Großoffensive stattfand und warum sie niemanden hätte überraschen dürfen, lohnt sich ein Blick auf die derzeitige instabile und unhaltbare Lage in Syrien. Syrien ist sowohl aus strategischer als auch aus humanitärer Sicht ein wichtiger Staat. Aber die Situation in Syrien und die erneute Krise dort liefern auch Informationen, die über ihren eigentlichen Kontext hinaus von Bedeutung sind.

Der syrische Bürgerkrieg, der 2011 als waffenloser Protestaufstand begann, wurde nie beendet. Bis etwa 2020 hatte er sich in mehr oder weniger stabilen Kontrolllinien stabilisiert, wobei das Land de facto in drei Gebiete aufgeteilt war. Keine dieser Gebietseinheiten ist aus ethnischer oder religiöser Sicht homogen, aber alle werden von einer bestimmten sektiererischen oder ethnischen Gruppe dominiert. Jeder dieser De-facto-Staaten wird seinerseits von einem mächtigen Staat oder einer Koalition von Staaten unterstützt. Was derzeit stattfindet, ist ein Kampf zwischen diesen De-facto- Herrschaftsbereichen.

Das Gebiet, das von der sogenannten syrischen Regierung kontrolliert wird, die eigentlich als Regime von Bashar Assad bezeichnet werden müsste, ist nach wie vor die größte der drei Regierungszonen im geteilten Syrien. Diese Struktur kontrolliert rund 60 Prozent des Landesgebiets.

Die Assads verwalten ihr Lehnsgut wie eine Familiendiktatur. Ein junger Syrer beschrieb mir das Land unter den Assads treffend als „familiengeführte Farm, und wir sind die Tiere“. Diese Aussage bringt den brutal repressiven Charakter des Regimes auf den Punkt. Aber die Machthaber der Assads regieren nicht nur mit Terror. Sie sind Mitglieder der alawitischen Sekte, einer Abspaltung des schiitischen Islams. Sie privilegieren ihre eigene Gruppe und verwickeln sie in ihre Ausschreitungen. Die zum Teil erzwungene Loyalität der syrischen Alawiten ist das Fundament, auf dem Assads fortgesetzte Herrschaft über sein Gebiet aufbaut.

Östlich des Euphrat, in einem Gebiet, das etwa 30 Prozent des syrischen Staatsgebiets ausmacht, regiert eine von der kurdischen Minderheit Syriens dominierte Behörde. Die selbsternannte Autonome Verwaltung von Nordostsyrien (AANES) wird von keinem Staat der Welt anerkannt. Dennoch hat sie das stabilste und am besten funktionierende Gebiet Syriens geschaffen. Ihre Kämpfer waren der wichtigste Bündnispartner der US-geführten Koalition im Krieg gegen den Islamischen Staat, der 2019 siegreich beendet wurde. Einst waren die syrischen Kurden und ihre umkämpfte Enklave der Liebling aller Gegner der mörderischen Exzesse von ISIS, heute sind sie von der Welt weitgehend vergessen. Dennoch sind sie entschlossen, ihre Kontrollzone zu erhalten und gegen die anhaltenden Versuche sowohl von Assad als auch der von der Türkei unterstützten sunnitischen Islamisten zu verteidigen, in sie einzudringen.

Hayat Tahrir al Sham

Schließlich, und das ist für die Ereignisse der letzten Tage besonders wichtig, gibt es im Nordwesten Syriens eine Enklave, die mit Unterstützung der Türkei aufrechterhalten wird und etwa 10 Prozent des syrischen Territoriums umfasst (obwohl es aufgrund der jüngsten Ereignisse inzwischen deutlich mehr sind) und die weiter unter zwei sunnitisch-islamistische Regierungseinheiten aufgeteilt ist, die sogenannte syrische Übergangsregierung im Norden und die syrische Heilsregierung im südlichen Teil dieses Gebiets.

Es kann gut sein, dass jeder Leser, der bis hierher durchgehalten hat, nun das Gefühl hat, weniger über Syrien zu wissen, als er zu Beginn des Artikels dachte. Syrien kann diese Wirkung haben. Dennoch ist der Hintergrund wichtig. In den letzten Tagen hat die syrische Übergangsregierung, die von einer sunnitischen Dschihadistengruppe namens Hayat Tahrir al Sham (HTS) unterstützt wird, eine Offensive gegen das Assad-Regime gestartet und dabei erstaunliche Erfolge erzielt. Ihre Verbündeten in der syrischen Übergangsregierung haben unterdessen eine eigene Offensive gegen die syrischen Kurden gestartet.

Die HTS haben schnell an Boden gewonnen. In einer bemerkenswerten Leistung haben sie die zweitgrößte Stadt Syriens, Aleppo, eingenommen. Jetzt bedrohen sie die Stadt Hama, etwa 100 km weiter südlich. Die sunnitisch-islamistische Enklave in Syrien zählt nach den Eroberungen der letzten Tage nun rund 7 Millionen Einwohner.

Eine Art Mikrokosmos für die Dynamik der Region

Das Assad-Regime ist noch nicht ernsthaft in Gefahr. Die Vormarschgebiete der sunnitischen Dschihadisten liegen noch weit nördlich von Damaskus und östlich von Assads Kernland in der Provinz Latakia an der syrischen Mittelmeerküste. Zumindest im Moment hat die bemerkenswerte Offensive der HTS lediglich das Gleichgewicht zwischen den Kontrollgebieten in Syrien wiederhergestellt.

Warum also sollte die Offensive niemanden überraschen?

Erstens, weil eingefrorene Konflikte selten für immer eingefroren bleiben. Die Ursachen, die sie ursprünglich ausgelöst haben, neigen dazu, sich zu einem Zeitpunkt zu verfestigen, wenn es für die eine oder andere Seite opportun erscheint.

Zweitens, weil alle ernsthaften Beobachter Syriens seit einiger Zeit wissen, dass das Assad-Regime hinter seiner Rhetorik ein erschöpftes und verrottetes Gebilde ist, das zum Überleben auf seine mächtigen iranischen und russischen Verbündeten angewiesen ist. Diese Verbündeten sind derzeit in Kriege mit Israel bzw. der Ukraine verwickelt. Die HTS, deren Anführer Abu Mohammed al Jolani sowohl taktisch flexibel als auch strategisch unnachgiebig ist, witterte die Chance und beschloss zuzuschlagen.

Und schließlich sollte es niemanden überraschen, dass rivalisierende ethno-sektiererische Kräfte, die von mächtigen regionalen und globalen Staaten unterstützt werden, im Nahen Osten in der von Zerfall bedrohten Landschaft aufeinandertreffen, denn das ist das Wesen der Art und Weise, wie die Macht in der Region gegenwärtig ausgeübt wird. Unter diesem Gesichtspunkt bieten die aktuellen Ereignisse in Syrien eine Art Mikrokosmos für die Dynamik der Region als Ganzes. Es bleibt zu hoffen, dass sowohl die westlichen Regierungen als auch die Öffentlichkeit genau hinschauen und vielleicht sogar besser über das Wesen und die Dynamik des Nahen Ostens informiert werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Middle East Forum.

 

Jonathan Spyer ist Leiter der Forschungsabteilung bei Middle East Forum und Autor von Days of the Fall: A Reporter´s Journey in the Syria and Iraq Wars.

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Leserpost

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Rainer Niersberger / 07.12.2024

@H.Meins : Aber, aber…. Der Hegemon oder genauer gewisse Kreise des Hegemon machen doch so etwas nicht. Womoeglich glauben Sie auch noch, dass der ” arabische Frühling” gar nicht in Arabien ausgelöst wurde oder dass die Hilfe fuer die “Gefluechteten” vor Ort nur zufaellig von den Machthabern des Wertewestens stark gekuerzt wurde. Die Folgen sind bekannt. Das sind alles Zufälle. Bis heute.  Das hat mit nichts etwas zu tun. Schon gar nicht die Ukraine.  Wie sollten beim hier gewuenschten Narrativ ueber die Boesen bleiben. Alles andere koennte nur verunsichern.

Karel Pipovic / 07.12.2024

@ Emil Meins: “...daß Putin irgendwann intervenieren muß, wenn es für Assad brenzlig wird, und man dadurch seine Kräfte vom Ukrainekrieg abziehen und zersplittern kann…” Und schon macht das ganze Sinn. Vielen Dank für die Ergänzung!

Peter Zinga / 07.12.2024

Diese “sogenannte” syrische Regierung ist die einzige LEGALE Regierung und am näheste dem, was mann unter sekulare demokratische ordnung meint. Aber dem Westen sind ultrareligiose -als Werkzeug ihren globalen Politik -  lieber. Wie die afghanischen Mudjahiden und ich verstehe nicht, dass der normale Bürger es nicht begreift. Warum es Politiker treiben, ist doch klar -und nicht im Interresse der eigenen Bürger.

L. Luhmann / 07.12.2024

Vor dem Jahre 2011 sah es noch sehr friedlich in Syrien aus. Dann kamen al-Nusra, al-Quaida und kurz danach ISIS und Dutzendere andere Muselmanische Kopfabschneider*innen. Schon Assads Vater musste sich gegen verschiedene Parteien wehren, die das Land vollständig islamisieren wollten. Ich gehe davon aus, dass so ziemlich alles gelogen ist, was den Assads angelastet wird. - Wenn Assads Familie ausgelöscht wird, dann wird das Land unter den großen Playern brutalst ausgebeutet ... Türkei, USA, Russland .. die wollen alle Beute machen ...

Matthias Ditsche / 07.12.2024

Ethno-sektiererische Kräfte. Hm, klingt wie eine Blaupause für die BRD. Was sich hier mittlerweile zusammenbraut. Man sollte sich diesen Begriff merken….

Jochen Lindt / 07.12.2024

Welche syrischen Flüchtlinge wandern jetzt in unser Sozialsystem ein?  Islamisten, Regimeschergen oder kurdische Drogenclans?  Ich habe den Überblick verloren.

Emil.Meins / 07.12.2024

Was @Karel Pipovic schreibt:“Lavrov hat im Gespräch mit Tucker angedeutet, dass die Unruhe in Syrien Teil ein Teil der Probleme sein könnte, welche die Biden-Administration Trump noch in den Weg legen will, ehe sie abdanken muss. Ebenso wie die Freigabe von Langstrecken-Systemen in der Ukraine und der geplanten Begnadigung von u.a. Fauci. Man muss diesen Russen nicht alles glauben, was sie sagen, aber es würde mich nicht überraschen, wenn er hier Recht behält.” ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Nachdem bereits der seinerzeitige “Aufstand” gegen Assad vermutlich maßgeblich von ausländischen Kräften ausgelöst und befördert wurde, kommt der jetzige Termin doch ganz passend. (“Die plötzliche Offensive der sunnitischen Islamistengruppe Hayat Tahrir al Sham in Syrien hat die Welt überrascht.”) Man brauchte nur wieder dasselbe Personal am selben Ort (wie günstig!) rekrutieren, alles wie gehabt. Und auch die ominöse syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London ist wieder voll im Geschäft und gibt ihre “Einschätzungen” den Nachrichtenagenturen zum Fraß, die danach schnappen wie ausgehungerte Straßenköter. Zudem kann dahinter die Hoffnung stecken, daß Putin irgendwann intervenieren muß, wenn es für Assad brenzlig wird, und man dadurch seine Kräfte vom Ukrainekrieg abziehen und zersplittern kann. Gefundenes Fressen, elend schmutzige Politik. Wer steckt dahinter? Joe und seine Helfershelfer, oder die Briten? Oder alle zusammen….  Und wir bekommen die netten syrischen Flüchtlinge mit den bekannten Psychosyndromen…..denen nur unter Zuhilfenahme von Messern abzuhelfen ist. Und jetzt darf mich auch so ein kleiner aufgeblasener Staatsanwalt wegen Volksverhetzung anklagen. Ich warte!

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