Peter Grimm / 09.12.2024 / 09:31 / Foto: Imago / 105 / Seite ausdrucken

Sucht der Westen jetzt in Syrien neue Illusionen?

Der Diktator Assad ist gestürzt und das Ende einer Diktatur ist eine gute Nachricht. Aber es ist alles andere als ein Sieg des Westens, auch wenn manche westlichen Politiker das gern anders sähen.

In vielen deutschen Städten feierten Syrer den Sturz des Diktators in Damaskus. Und auch deutsche Politiker bezeichneten dies wie Bundeskanzler Olaf Scholz als „gute Nachricht". Bashar al-Assad habe „sein eigenes Volk auf brutale Weise unterdrückt, unzählige Leben auf dem Gewissen und zahlreiche Menschen zur Flucht aus Syrien getrieben, viele kamen auch nach Deutschland“, hieß es vom Kanzler am Sonntag. Nun komme es darauf an, "Recht und Ordnung" wiederherzustellen. „Alle Religionsgemeinschaften, alle Minderheiten müssen jetzt und in Zukunft Schutz genießen."

Das klingt wie ein recht frommer Wunsch angesichts der Tatsache, dass es ein islamistisches Bündnis ist, das nun die Machtübernahme organisiert. Ob die Sieger interne Machtkämpfe vermeiden können, welche Art von Ordnung sie in nächster Zeit etablieren werden – darüber lässt sich trefflich spekulieren. Wirklich absehbar ist das nicht. Ebensowenig, ob und mit welchen Mitteln die neuen Machthaber die vollständige Kontrolle über das ganze Land übernehmen wollen. Wird sich Syrien ähnlich entwickeln, wie Libyen nach dem Sturz des Diktators Gaddafi? 

Außenministerin Annalena Baerbock soll den Machtwechsel in Syrien als "erstes großes Aufatmen" bezeichnet haben. Sie warnte auch: „Das Land darf jetzt nicht in die Hände anderer Radikaler fallen – egal in welchem Gewand." Das hört sich so an, als wäre nicht genau das in Damaskus geschehen. Angesichts islamistischer Kämpfer wirkt es reichlich naiv, wenn sie die Konfliktparteien aufruft, den „umfassenden Schutz von ethnischen und religiösen Minderheiten wie Kurden, Alawiten oder Christen" zu sichern und einen Ausgleich zwischen den Gruppen anzustreben.

Aber was sollen deutsche und europäische Politiker auch tun? Sie haben kaum Mittel, selbst ins Geschehen einzugreifen. In solchen Fällen greifen sie reflexartig zu ihrem Textbausteinkasten, um wohlmeindende Forderungen und Erwartungen zu formulieren, die ohnehin nur das heimische Publikum erreicht. Den neuen Herren über Damaskus dürfte das herzlich egal sein.

Putin zunehmend unzufrieden mit Assad

Aber nicht nur die vergleichsweise machtlosen deutschen und europäischen Politiker ignorierten in ihren Äußerungen zum Regimewechsel in Syrien den Charakter der neuen Machthaber weitgehend.

US-Präsident Joe Biden erklärte: "Der Sturz des Regimes ist ein fundamentaler Akt der Gerechtigkeit" und sieht dies Medienberichten zufolge auch als Folge seiner eigenen Außenpolitik. „Die wichtigsten Unterstützer von Assad waren der Iran, die Hisbollah und Russland“, habe Biden bei einer Ansprache im Weißen Haus gesagt. Jetzt seien alle drei „viel schwächer, als sie es bei meinem Amtsantritt waren“.

Der Sturz Assads ist zwar eine Niederlage für Russland und den Iran, doch ist es damit ein Sieg des Westens? Die russische Führung hatte Assad fallen lassen. Der Einmarsch der Islamisten-Allianz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) in Damaskus stieß offenbar auf keine Gegenwehr der Armee mehr. Russland stellte die militärische Unterstützung des Regimes ein. Das scheint angesichts des Ukraine-Krieges leicht erklärlich. Zudem, so heißt es, soll Putin zunehmend unzufrieden mit Assad gewesen sein, weil der wenig Anstalten machte, das ihm von den Russen zurückeroberte Land mit politischen Mitteln zu befrieden. 

Im Weißen Haus ist man sich auch im Klaren darüber, dass die neuen Machthaber in Damaskus den USA wenig Freude bereiten werden. Joe Biden verwies immerhin auf den Umstand, dass einige Gruppen, die an dem Regimesturz beteiligt waren, eine "schlimme Bilanz des Terrors" aufweisen. "Wir werden wachsam bleiben", sagte Biden: Es sei ein Moment "erheblicher Risiken und Unsicherheit".

Erdoğan mehr in der Liga der Feinde des Westens

Wenn es einen Sieger gibt, dann ist es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Assad galt ihm immer als Rivale in der Region. Und dass die Türkei auch islamistische Kampfgruppen in Syrien unterstützte, wurde in der Vergangenheit ebenfalls mehrfach berichtet. Jetzt hat sich Russland, abgesehen von seinen Militärbasen, die Moskau schon lange in Syrien unterhält, anscheinend zurückgezogen und vorerst Erdoğan das Feld überlassen. Der Kreml forderte jetzt in einer Erklärung den türkischen Präsidenten auf, sich für die Wiederherstellung der Ordnung in Syrien einzusetzen.

Offenbar haben Putin und Erdoğan den Machtwechsel in Damaskus abgesprochen. Vorbei ist die Zeit, als Putin noch Erdoğan in die Schranken wies. Vor neun Jahren, Ende November 2015, hatte die türkische Armee in Syrien einen russischen Kampfjet abgeschossen. Russland reagierte mit schmerzhaften Sanktionen, die den türkischen Herrscher immerhin so sehr trafen, dass er sich sechs Monate später zu einer öffentlichen Entschuldigung bei Putin genötigt sah, um die türkisch-russischen Beziehungen zu normalisieren.

In allen regionalen Konflikten, wie auch im Ukraine-Krieg, spielt Erdoğan eigentlich mehr und mehr in der Liga der Feinde des Westens, obwohl er ja offiziell eigentlich unser NATO-Partner ist. Sein Machtzuwachs ist also auch nicht unbedingt eine gute Nachricht.

Erdoğan verschafft der Machtwechsel in Syrien zudem einen Anlass, die drei Millionen syrischen Flüchtlinge wieder in die Heimat zu schicken, ohne dass es wie ein eigener Kurswechsel aussieht. Die Massenzuwanderung hatte in der letzten Zeit zu zunehmenden Spannungen in der Türkei geführt. Wenn die türkische Regierung die Rückführung wirklich beginnt, könnte es sein, dass so mancher Syrer es vorzieht, die Türkei in Richtung Europa zu verlassen, als in die unsichere Heimat zu gehen.

Trump meldet sich recht illusionslos zu Wort

In Deutschland muss man wohl eher mit steigenden Asyl-Zuwanderungszahlen rechnen, wenn sich die Zuwanderungspolitik nicht ändert. Auch unter den Syrern, die auf deutschen Straßen den Sturz von Assad feiern, dürfte es deshalb nur wenige Heimkehrpläne geben. Die Syrer selbst dürften beim Blick in die Heimat trotz der Freude über Assads Sturz illusionsloser sein als deutsche Politiker, was die Zukunftsaussichten angeht.

Doch der Westen pflegt gegenüber dem Orient gern Illusionen. Erinnern Sie sich noch an die großen Hoffnungen, die der sogenannte Arabische Frühling vor 14 Jahren bei unseren Politikern weckte? Das Ergebnis ist bekannt, und an seine damaligen Einschätzungen will so mancher Politiker und Meinungsbildner heute wohl lieber nicht erinnert werden.

Recht illusionslos meldete sich der künftige US-Präsident Donald Trump zu Wort: „Assad ist weg. Er ist aus seinem Land geflohen. Sein Beschützer Russland, angeführt von Wladimir Putin, war nicht länger daran interessiert, ihn zu beschützen“, heißt es auf seinem Netzwerk Truth Social. So kurz und nüchtern lässt sich das zusammenfassen.

Und Israel kann sich orientalische Illusionen ohnehin nicht leisten. Zwar nannte auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Sturz von Assad einen „historischen Tag" und erklärte, dieser wäre auch eine Folge der Militärschläge Israels gegen dessen Unterstützer, den Iran und die Hisbollah-Miliz im Libanon gewesen. Allerdings verband er das mit der Warnung, Israel werde es "keiner feindlichen Kraft erlauben, sich an unserer Grenze zu positionieren". Gleichzeitig würde sein Land all jenen die Hand reichen, die an Frieden mit Israel interessiert seien. Doch offenbar erwarten die Israelis das nicht gerade von der in Damaskus siegreichen Haiat Tahrir al-Scham. Vorsorglich flogen sie Angriffe auf eine Chemiewaffenfabrik und besetzten die Pufferzone auf den Golan-Höhen. Wenn der eine Feind den anderen ablöst, ist das kein Moment der Entspannung. 

Die neuen Machthaber geben sich möglicherweise noch moderat, bis sie ihre Macht gefestigt haben. Das dürfte dann manchen westlichen Politiker dazu verführen, sie sich schön zu reden. Als die Taliban 2021 in Afghanistan wieder an die Macht zurückkehrten, gab es auch manche, die wollten glauben, deren zweite Regierungszeit könnte vielleicht etwas moderater werden als die erste. Leider gibt es unter etlichen westlichen Politikern die Tendenz, sich in rauen weltpolitischen Zeiten an den eigenen Illusionen zu wärmen. Bei aller Unsicherheit darf man wohl sagen, dass die sicher schnell von der Wirklichkeit überholt werden.

 

Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.

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Leserpost

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Steve Acker / 09.12.2024

Gadafi hat im Februar 2011 , ein halbes jahr vor seinem Tod, in einem interview mit einer französischen Zeitung gesagt, wenn er gestürzt wird, wird eine Flut von Migranten nach europa kommen.

W. Renner / 09.12.2024

In einem failed State wird ein failed Diktator durch failed Rebellen ersetzt. Und jetzt bitte subito alle failed Nahost Experten für die nächsten 12 Wochen in alle failed Bauchredner Talkshows des Deutschen Zwangsbezahlfunks, Wir wollen schliesslich schon lange wissen, ob der Syrer als solcher, auf Syrischen Marktplätzen anders tickt, als auf deutschen? Und nichts treibt mich mehr um, als ob das nun besser für Putin, Erdogen, ode den Tiger von Eschnapur ist.

Steve Acker / 09.12.2024

In vielen Artikeln in Mainstreammedien wird der Sturz Assads bejubelt und die Leserkommentare dazu sind weit überwiegend negativ.

Wolfgang Richter / 09.12.2024

@ Daniel J. Hahn - “Niemand sollte verkennen, daß das Regime Assad zwar eine brutale Diktatur war, aber zumindest bei Frauen-, Minderheiten- und Religionsrechten ein Leuchtturm der Liberalität unter den muslimischen Staaten im Nahen Osten war.” - Haben die Stripppenzieher der sog. “Revolutionen des Arabischen Frühlings” doch noch ihr Ziel erreicht, ein weiterer bisheriger Stabilitätsfaktor in einer an sich unsicheren Region zerstört. Und wenn es stimmt, daß der Grund in der damaligen “syrischen” Weigerung lag, eine Gaspipeline im Interesse der USA vom Persischen Golf ans Mittelmeer zu legen ?

sybille eden / 09.12.2024

Es wird sich sehr bald zeigen wie ” gemäßigt und human ” das Regime sein wird, nämlich im Umgang mit den christlichen Syrern.

Wolfgang Richter / 09.12.2024

@ P.F. Hilker - “Das letzte bisschen Stabilität, das noch vom Assad-Regime ausging”—Ich finde es nur erstaunlich, wie sich jetzt plötzlich nach Jahren des Widerstandes gegen alle möglichen Gruppen Armee und der gesamte Sicherheitsapparat des Assad-Regimes völlig augelöst hat. Hat möglicherweise damit zu tun, daß die unterstützende Hisbollah mehrheitlich im Libanon gebunden war, der Iran seine “Vertreter” aufgrund der monatelangen gezielten israelischen Bombardements in Syrien zurückgezogen hatte. Irgendwann ist dann “die Luft raus”. Aber das hatten offenbar die meisten “Analysten” nicht auf dem Schirm, vor allem nicht der russische Geheimdienst, wieder mal.

Wolfgang Richter / 09.12.2024

@ Thomas Taterka - “ganz schlechter Tag für Israel” - Wohl kaum, denn “zufälligerweise” begann der “Islamistenlauf” gen Damaskus mit dem “Waffenstillstand” zwischen Israel und der Hisbollah, begleitet von israelischen und us-amerikanischen Bombardements in Syrien und der Besetzung einer “Pufferzone” durch Israel am Golan im dortigen Drusengebiet. Alles Kalkül, beteiligt Türkei, USA (mit ihren kurdischen Stellvertretern), Israel, nicht zu vergessen US-Ausbilder und -Ausrüster für die Islamisten und offenbar zuletzt deren ukrainische Trainer, Hauptsache Iran und Rußland ausmanövriert, egal um welchen Preis.

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