Von Marei Bestek.
Guido Reil ist ein Urgestein des Ruhrgebiets: ohne Berührungsängste, engagiert - ein richtiger „Kumpel-Typ“, wie man in den alten Bergbauregionen zu sagen pflegt. „Hömma Guido, wie isset dir?“, würde ich ihn am liebsten fragen, denn die letzten Monate waren nicht leicht für ihn. Guido ist jetzt AfD-Mitglied. Was alleine schon als Kriterium für einen Ausschluss aus der gesellschaftlichen Mitte gilt, wird umso eklatanter, wenn man vorher ein altgedienter Sozialdemokrat war. Ein SPD‘ler der AfD‘ler wird: Das Ruhrgebiet versteht die Welt nicht mehr.
„Guido Reil geht zur AfD – eine Tragödie nimmt ihren Lauf“, kommentiert Frank Stenglein daher folgerichtig in der WAZ. Reils Schritt sei grundfalsch; er hätte mit seinen regierungskritischen Ansichten lieber Überzeugungsarbeit in der SPD leisten sollen, in der er 26 Jahre lang Mitglied war, anstatt sich von der AfD verführen zu lassen, so Stenglein. Die würde in Reil einen möglichen neuen Landtagskandidaten sehen. Ist Reil also nur Opfer eines perfiden Plans der AfD geworden, die in dem bodenständigen Bergmann und Karnaper Ratsherrn einen Fliegenfänger für die Arbeiterklasse sieht? Was steckt wirklich hinter Reils Entscheidung, AfD-Mitglied zu werden?
SPD: Arbeiterpartei nur noch auf dem Papier
Der Essener Norden, seit längerem ankämpfend gegen soziale Verwahrlosung, litt zunehmend unter der großen Anzahl zugewiesener Flüchtlinge. Die SPD schien darauf keine Antworten zu wissen und versuchte sich lieber in Schönfärberei. Reil wurde stattdessen Kopf einer Bewegung, die sich um eine faire Verteilung der Flüchtlinge bemühte.
Dennoch würde die SPD den offensichtlich falschen Kurs aus strategischen Gründen beibehalten, auch wenn sie wisse, dass er falsch ist, äußert sich Reil in einem Statement zu seinem Parteiaustritt. „Wir waren mal die Partei der sozialen Gerechtigkeit, aber im realen Handeln merke ich davon leider nichts mehr. Wir waren die Partei der Arbeiter, ihre Interessen vertreten wir aber gar nicht mehr. (…) In der Flüchtlingspolitik haben wir uns endgültig und völlig von der Realität verabschiedet.“
Reil studierte das Parteiprogramm der AfD, suchte Kontakt zu den Menschen, die in Essen und NRW für die Inhalte der AfD einstehen und stellte fest: Das sind ja gar keine Rechtsextremen! Vielmehr traf er auf Menschen, die Probleme offen ansprechen wollten, ohne sich dabei durch Gefühlsduselei beirren zu lassen. Seine Entscheidung AfD-Mitglied zu werden traf Reil schließlich selbstbewusst. Seine Frau, eine Russin, reichte nach seinem Entschluss nicht die Scheidung ein.
Anders seine ehemaligen Parteifreunde. Dass Reil kein Genosse mehr sein möchte, sorgte bei ihnen für Ärgernis. Er sei von „Eitelkeit“ getrieben und „den Versprechungen von Rechtsaußen erlegen“, so SPD-Ratsfraktionschef Rainer Marschan. Man sei „menschlich zutiefst enttäuscht“ vom ehemaligen Vorzeige-Sozialdemokraten.
Vor acht Jahren gründete der ambitionierte Reil ein Sozialprojekt in Karnap, dem nördlichsten Stadtteil von Essen, bei dem er abwechselnd mit ehemaligen Kollegen Seniorinnen zum Einkauf fährt. Den Kleinbus dazu stellt die Essener AWO (Arbeiterwohlfahrt). Das Projekt kommt gut an, doch jetzt legte der AWO-Bundesverband unlängst in einem Positionspapier fest, dass man keine AfD-Mitglieder in den eigenen Reihen dulde. Keine AfD, kein Guido, keine Seniorinnen mehr. Reil ist ratlos. Warum ist er als AfD-Mitglied der Arbeiterwohlfahrt nicht mehr würdig?
Kein Guido, keine Einkaufsfahrten für Seniorinnen mehr
Die Antwort von Essens AWO-Geschäftsführer Oliver Kern folgt prompt: Die Positionen der AfD seien mit den Werten der Arbeiterwohlfahrt nicht vereinbar, man trenne sich hier besonders im Punkt Toleranz. Und weil Toleranz bei der Arbeiterwohlfahrt noch großgeschrieben wird, kündigte Kern weitere Recherchen an - etwa im Internet - um auf diese Weise mögliche andere AfD-Mitglieder unter den AWO-Mitarbeitern aufzuspüren. Im Extremfall drohe dann die Kündigung. Ich bin mir ziemlich sicher, Kern hat ein Poster von Heiko Maas in seinem Wohnzimmer hängen.
Zur Erinnerung: Essen, das ist die Stadt, in der noch im März ein Moscheebetrieb geschlossen wurde, da dort am Ostersonntag der Hassprediger „Tarik Ibn Ali“ auftreten sollte, der aufgrund seiner Kontakte zu terroristischen Vereinigungen unter polizeilicher Beobachtung steht (die Achse berichtete hier). Im Ruhrgebiet schien man davon aber „irgendwie nichts gewusst zu haben“ (weshalb Tarik Ibn Ali schon 2013 zu Gast in Essen war) und wüsste es wahrscheinlich bis heute nicht, gäbe es nicht die aufmerksame Lokalredaktion der WAZ.
Essen, das ist nun auch die Stadt, in der Mitglieder einer verfassungsrechtlichen Partei beobachtet und kontrolliert werden sollen. Die Ruhrgebiet-Metropole, die sich gerne „Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit, Demokratie und Toleranz“ bewahren möchte, dafür aber Mittel einsetzt, die diesen Werten im Kern widersprechen. Aber wie sagt man so schön: Das Ziel rechtfertigt die Mittel? In der Not frisst der Teufel fliegen? Oder: Doppelmoral ist auch eine Tugend?
Das Bündnis mit der Türkei sollte uns eigentlich als Warnung dienen, führt diese doch eindrucksvoll vor, wie man sich mit „demokratischen Mitteln“ eine möglichst einheitliche Parteienlandschaft aufbauen kann und dabei mit „Abweichlern“ und „Widerständlern“ umgeht. Der beliebte Bus-Service soll übrigens weiterrollen. Notfalls auch ohne Reil, denn der sei ja schließlich austauschbar.