Wenn ich an den höchsten Punkt meiner Arbeitsstätte am Hamburger Hafen gehe, kann ich auf den legendären Ort fast spucken. Am Grasbrook, wo jetzt die gigantische Hafen City wächst, soll anno 1401 Klaus Störtebeker vom Scharfrichter um den Kopf verkürzt worden sein, nachdem eine Flotte der hamburgischen Kaufmannschaft den Piraten vor Helgoland gestellt hatte. Störtebeker und seine Truppe, die so genannten Vitalienbrüder, hatten jahrelang den Seehandel der Hanse-Organisation durch halsabschneiderische Kaperakte empfindlich gestört. Bis sich die knauserigen Hanseaten endlich zu einer nicht wohlfeilen, aber ergebnisreichen Gegenaktion durchrangen…
Der enthauptete Freibeuter soll noch an 11 seiner Getreuen vorbei getapert sein, bis ihn jemand zu Fall brachte. Eigentlich hätten diese Männer freigelassen werden sollen, gemäß eines Deals, den ihr Anführer mit seinen Häschern gemacht hatte. Letztere aber erwiesen sich als wortbrüchig und ließen ausnahmslos allen gefassten Mitgliedern der Störtebeker-Gang die Rübe abhacken. Die Köpfe wurden längs der Elbe aufgespießt. Waren ruppige Zeiten. Seegerichtshof kam später.
Von dieser schaurig-spannenden Geschichte, die seit Menschengedenken auf Hamburger Hafenrundfahrtschiffen vertellt wird, ist so gut wie nichts belegt. Ob es jemanden namens Klaus St. überhaupt gab, und wenn ja, wo, und wie er endete – alles liegt im Nebel der Historie. Der Beliebtheit des Helden tut das keinen Abbruch. Ein neues Denkmal in der wachsenden Hafen City, der größten Bürobaustelle Europas, zeigt den Kapitalistenfeind heroisch-erhobenen Hauptes, wie ein Ché der Nordmeere.
Sein Nachruhm fußt auf der Tatsache, dass er a) der Widerpart der reichen und mächtigen „Pfeffersäcke“ war, wie jene Kaufleute noch heute geschmäht werden, die Hamburg als maritimen Spitzenstandort begründeten; b) darauf, dass auf seinen Kähnen eine Art sozialistische Urgesellschaft geherrscht haben soll. Die Räuber waren „Likedeeler“ (Gleichteiler), die ihre Beute so umverteilten, wie Gysi und Genossen es gern mit den heutigen Spareinlagen der Besserverdienenden machen würden.
Folglich entwickelte sich Störtebeker, wie Wikipedia bemerkt, „zur Identifikationsfigur in der Linken“. Schon zu DDR-Zeiten lief mit riesigem Erfolg ein Störtebeker-Open-Air auf Rügen, ähnlich den Segeberger Karl-May-Festspielen. Die Anhänger des FC St. Pauli, immer für linke Parolen, schlechten Fußball und lodernde Randale zu haben, dekorieren sich von jeher mit Piratenflaggen. Sie alle sind reichlich störtebeker, und ihre liebsten Hassobjekte geben die reichen Pfeffersäcke von Bayern München ab. Auch der Kommissar aus dem Münsteraner ARD-„Tatort“, ein miesepetriger, chronisch sozialneidischer Übergewichtiger, schluft am liebsten in Paulis Totenschädel-und-Knochen-Klamotten herum.
Kein Wunder also, dass auch Störtebekers Nachfahren vor Somalia auf eine gewisse Empathie zählen dürfen. Versetzt man ihnen den finalen Rettungsschuss, wie es amerikanische Marines auf Befehl des wohl doch nicht immer nur netten Obama taten, regt sich unter europäischen Piratenverstehern prompt Protest. Denn die hoch vernetzten Gangster (vermutlich Gleichteiler reinsten Salzwassers), sind sie nicht zuvörderst Opfer reicher Pfeffersacknationen, die ihnen die Teilhabe an Bildung und Wohlstand verweigern? Die internationale Gemeinschaft, so Hero Feenders, leitender Theologe des evangelischen Hilfswerkes mit Sitz in Bremen, müsse „die Ursachen der Piraterie an Land bekämpfen“. Den bedauernswerten Entermännern müsse ein Leben „jenseits von Hunger, Armut und Verbrechen“ ermöglicht werden. Piraterie-Experte Feenders gibt ferner zu bedenken: „Wo immer Waffen eingesetzt werden, ist das ein Schritt zur Eskalation, denn auch die Piraten rüsten nach“.
Im Hamburg war das seinerzeit anders. Nach der hartherzigen Kopf-ab-Aktion gegen Störtebeker und seine Brüder soll auch mit der Piraterie im Nordmeer erstmal Sense gewesen sein.
Aber es handelt sich ja, wie gesagt, nur um eine Legende.