Von Dinah Gajewski.
"Something is rotten in the state of..." Denmark, heißt es im Originaltext des „Hamlet“ von William Shakespeare (1). Nur denke ich, die Ländernamen sind austauschbar. Sollten wir den Namen Deutschland, beziehungsweise „Germany“ in das Zitat einfügen, werden wir unzählige Beispiele dafür finden, dass das problemlos möglich ist.
Zunächst einmal die Begriffsklärung des Wortes „rotten“. Linguee übersetzt das Wort mit folgenden deutschen Begriffen: verfault, morsch, verdorben, niederträchtig, verkommen, scheußlich, u.v.m.. Der Wortstamm ist indogermanisch, das Wort entlehnt sich aus dem altnordischem Partizip rotinn, was so viel wie „zerfallen“ oder „vermodern“ bedeutet. Im 14. Jhd. wurde dem Wort „rotten“ eine Sinnbildlichkeit verliehen, später das Adjektiv „korrupt“ addiert. Gemeint sind damit gesellschaftliche Strukturen, die nicht an dem Wohl der Gesellschaft interessiert sind, sondern hauptsächlich an dem Wohl einer Einzelperson. Soviel zur etymologischen Begriffsklärung.
In der Tragödie des Hamlet wurden diese unsterblichen Worte im Zusammenhang mit der übernatürlichen Erscheinung des Vaters Hamlets niedergeschrieben, der seinen Sohn vor korrumpierenden Strömungen im eigenen Land warnen will und ihn auffordert, sein Volk diesbezüglich aufzuklären und darüber hinaus dessen Tod zu rächen. Aufklärung! Ein gutes Stichwort.
Die Aufklärung ist eine gesellschaftliche Epoche des 18. Jh., zu deren berühmten Vordenkern u.a. die Philosophen Kant (Raum DE), Hume (Raum GB) und Voltaire (Raum FR) zählen. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Bürgerrechte innerhalb eines Volkes zu stärken. Durch Bildung sollte Mündigkeit, Reflexionsfähigkeit und damit Emanzipation und gesellschaftliche Partizipation des Individuums erreicht werden. Vermitteltes Wissen und damit Aufklärung sollte verkrustete, alte vorherrschende und oft religiös geprägte Ideologien ersetzen, sich der Naturwissenschaft zuwenden und ausschließlich auf Vernunft und gesundem Menschenverstand basieren.
Wenn der Journalismus obsolet wird
Bildung sollte auch denjenigen zuteil werden, denen es aus den unterschiedlichsten Gründen zur damaligen Zeit verwehrt blieb, eine ausschöpfende Schulbildung zu genießen. Deswegen wurde der Journalismus als ein wichtiges aufklärerisches Instrument mit ins Boot geholt. Es ging hier um Informationsverbreitung, aber auch darum, mit Hilfe von Presseerzeugnissen eine kritische Diskussionskultur anzuregen.
Daraus folgt, dass Journalismus etwas ist, das man nicht nur nebenbei betreiben sollte, sondern es ist ein Beruf mit großer, gesellschaftlicher Verantwortung. Journalisten sollten niemals missionarisch, gar propagandistisch unterwegs sein. Sie sollten sich nie nur einer Seite zuwenden, also einseitig recherchieren und publizieren, sondern sich stets der Multiperspektivität verschreiben, um eben die obengenannten Ziele erreichen zu können.
Andernfalls wird das Volk, sollte mehrheitlich gezielte Propaganda stattfinden, keinem Presseerzeugnis mehr vertrauen und somit alles in Frage stellen. Dieses Misstrauen würde nicht nur den eigentlichen Zweck von Presseerzeugnissen ad absurdum führen, es würde auch den Journalismus im Allgemeinen obsolet werden lassen. Darüber hinaus, wie es bei jeder erkrankten Zelle ist, die andere gesunde Zellen ansteckt, wird sich folglich dieses Misstrauen auch auf andere gesamtgesellschaftliche Prozesse niederschlagen. Die Folge des Misstrauens auch untereinander im zivilen Miteinander ist eine Abkehr von der Gesellschaftlichkeit hin zu einzelnen Gruppenbildungen, die problematisch werden können, sollten sie sich radikalisieren und eine Gesellschaftsspaltung darstellen.
Leider ist das heutige Verständnis von Aufklärung sehr ins Hintertreffen geraten und es überwiegen die Propagandisten. Ein Bekannter sagte mir, es sei doch vollkommen normal, da Journalisten ja überwiegend „frei“ seien und sie auch von irgendetwas leben wollen. Und so liefern sie, was der Chefredakteur will – Propaganda. Dieser Chefredakteur sitzt nämlich indirekt durch Verstrickung in der Regierung, und somit stehen die eigenen Vorteile in dessen Fokus. Er hat sich von Kant meilenweit entfernt und denkt nicht daran, dass das zum Tod der gesamten Branche führen kann.
Unreflektierte Übernahme von Propaganda
Ein Beispiel ist die Studie (Integrationsbarometer) des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Es wird dort sträflich jede Basis wissenschaftlichen Arbeitens ignoriert und somit eine vollkommen aussagelose Publikation getätigt, die zeigt, wie froh wir doch alle sind.
Nun kann man sich als aufklärender Journalist mit dieser Studie auseinandersetzen und sich die Frage stellen, warum die Bundesregierung eine solche Stiftung unterstützt, die Propaganda betreibt. Jeder Aufklärer würde zu der Erkenntnis kommen, dass es ein Unding ist, Steuermittel dafür auszugeben.
Viele Medien und insbesondere der Spiegel sehen das nicht so. Unreflektiert übernimmt ein junger Journalist meines Jahrgangs das Ergebnis dieser Studie und schreibt dazu: „Eine laute Minderheit, die sich für das Volk hält, will dem Land eine Asylkatastrophe einreden. Eine Studie zeigt, dass dies bei der Mehrheit der Menschen nicht verfängt – also zurück in die Wirklichkeit, bitte.“, was bei mir als angehende universitär-ausgebildete Historikerin großes Kopfschütteln auslöst.
Nun, eine Studie, die sich an der Leitfrage orientiert, wie in Deutschland lebende Menschen zu Migration und Integration stehen, wie sie das derzeitige Klima diesbezüglich wahrnehmen, ist grundsätzlich eine interessante Erhebung. Das erste jedoch, was mich stutzig machte, war die Zusammensetzung der Stichprobe, die eigentlich das Ziel verfolgte, repräsentativ sein zu wollen. Der junge Journalist trägt hier die methodischen Fakten rund um die Studie eher oberflächlich zusammen. Wer sich genauer mit den einzelnen Daten befassen möchte, findet in dem Methodenbericht des SVR-Integrationsbarometers 2018 hochinteressante Zahlen:
Ursprünglich standen im Erhebungszeitraum vom 19.07.2017 bis 31.01.2018 insgesamt 663.501 Telefonnummern als potenzielle Probanden zur Verfügung. Durch z.B. falsche Telefonnummernweitergabe kam es zu einer starken Verminderung der Gesamtzahl. Entweder handelte es sich um einen nicht-privaten Anschluss oder es war erst gar kein Anschluss verfügbar. Die bereinigte, also tatsächlich kontaktierte Stichprobe belief sich nach Abzug dieser 78 Prozent Ausfälle nur noch auf 145.654 Probanden – auch hier kam es natürlich zu der ein oder anderen nicht realisierten Befragung, entweder durch technische Abbrüche, Sprachprobleme oder nicht wahrgenommene, jedoch ursprünglich vereinbarte Verabredungen zum Interview. Diese Ausfälle sind aber so minimal, dass ich sie getrost als Peanuts bezeichnen könnte. Was wirklich erstaunt, sind die Zahlen, die unter den Ausfallgründen „Direktes Auflegen“ und „Teilnahme verweigert“ aufgeführt sind: Von diesen neuen 100 Prozent der 145.654 potentiellen Probanden, verweigerten 57,4 Prozent (83.546) verbal die Teilnahme und 14,8 Prozent (21.608) legten direkt auf, verweigerten also ebenfalls, wenn auch nonverbal. Die Studie gelangte also somit zu einer lediglich tatsächlich auswertbaren Stichprobe von 9.298 Befragten, welche diese wirklich niedliche Ausschöpfungsquote von 6,4 Prozent darstellen. Sollte man nun von den ursprünglich anvisierten Befragungen ausgehen, könnte man annehmen, dass zum Beispiel die Herausgabe einer falschen Telefonnummer oder aber eine Nichtabnahme des Hörers auch eine Verweigerung der Auskunft darstellt. Damit ergäbe sich strenggenommen sogar nur eine Quote von 0,14 Prozent. Ich frage mich ernsthaft, was daran repräsentativ sein soll?
Auch wer nichts sagt, sagt etwas
Wenn ich an die Bundestagswahl und an die damit verbundene aktive Wählerschaft denke, komme ich zu der Erkenntnis, dass auch Menschen, die bewusst nicht wählen gehen, damit eine Wahl treffen. So merkwürdig es klingt – auch ein Nichthandeln ist ein Handeln. Eigentlich sind auch diese nicht abgegebenen Stimmen als Stimmen anzuerkennen, die ebenso ernst genommen werden und nicht einfach aus der Statistik herausfallen sollten, als wären sie nicht existent. Sie sind existent!
Die aktive Verweigerung an dieser Integrationsbefragung ist existent, doch geht weder das Barometer noch der junge Journalist meines Jahrgangs näher darauf ein und setzt sich damit auseinander, warum das so ist. Schlimmer noch, der junge Journalist stellt durch sein oben angeführtes Zitat diese kleine ausgewertete Minderheit von 6,4 Prozent als eine Masse dar, die das vorherrschende Integrationsklima in der Bundesrepublik als positiv-konstant bewertet. Die 105.154 Menschen, die ihre Teilnahme aktiv verweigerten, also mit rund 72,2 Prozent eindeutig eine stille Mehrheit (und nicht, wie der junge Journalist feststellt „eine laute Minderheit, die sich für das Volk hält …“) darstellt, verspürten merkwürdigerweise nicht den Drang, der Studienleitung mitzuteilen, wie glücklich und zufrieden sie mit dem derzeitigen Integrationsklima sind.
Wenn alles wunderbar ist, kann ich es doch auch sagen. Wenn ich unzufrieden bin, sollte ich es auch sagen dürfen. Dies scheint hier nicht der Fall gewesen zu sein. Ist das Vertrauen in wissenschaftliche Studien und Politik bereits verloren gegangen? Statt sich dieser Frage journalistisch anzunähern, wird hier seitens des jungen Journalisten und anderen Kollegen eine Propaganda betrieben, die dieses Misstrauen nicht abbaut, wie es eigentlich im Sinne der Aufklärung sein sollte – nein, das Misstrauen wird befeuert, und die Spaltung noch weiter vorangetrieben. Das ist alles gruselig.
Ja, irgendetwas ist faul in Deutschland.
(1) Auch das ist zumindest unklar, da es Grund zur Annahme gibt, dass Shakespeare die Werke nicht selbst oder zumindest nicht alleine verfasst hat. Doch das ist ein anderer Schauplatz…