Wir leben in traurigen Zeiten, in denen ich mich dabei ertappe, wie ich darüber nachdenke, ob es nun richtig sei, Stefan Kretzschmar zur Seite zu springen oder nicht. Nicht, weil ich Zweifel an seinen Aussagen hege, sondern weil es einen Mechanismus in Gang setzt, der typisch für diese Gesellschaft und ihre Diskussionskultur geworden ist. Weil man ihm und der Thematik damit unter Umständen mehr schadet als hilft. Weil die Bereitschaft, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, am Boden liegt.
Stefan Kretzschmar sagt, wer sich in Bezug auf bestimmte Themen (als Beispiel nannte er die Willkommenskultur) als Profisportler kritisch äußert, hätte mit Repressalien zu rechnen. Wer sich heute kritisch äußere, müsse nicht nur befürchten, massiv öffentlich angegangen zu werden, sondern auch Werbe- und Sponsorenverträge zu verlieren. Einem solchen Risiko würde sich kaum noch einer freiwillig aussetzen. Die Meinungsfreiheit sei zwar nicht in dem Sinne eingeschränkt, dass man fürchten müsse, für seine Äußerungen eingesperrt zu werden, aber sehr wohl durch den sozialen, gesellschaftlichen Druck, der einem blüht, wenn man von der politisch korrekten Meinung abrückt.
Seine Aussage fällt in Zeiten neu erwachter Blockwart-Mentalität auf fruchtbaren Boden. Zwar spricht Kretzschmar explizit aus der Sicht eines ehemaligen Profisportlers, seine Aussagen treffen durch die wiederentdeckte Liebe zum Denunziantentum jedoch genauso gut auf jeden anderen zu, der auch morgen noch auf seinen Job angewiesen ist oder als Selbstständiger fürchten muss, dass ihm bei politisch inkorrektem Fehlverhalten die Aufträge abhanden kommen. Beispiele dafür gibt es genug.
So wurde in Berlin Neukölln die Praxis eines Physiotherapeuten von Linksextremen mit Vandalismus überzogen, nachdem er den Namen der Vorbesitzerin, der Frau eines AfD-Bezirksverordneten, beibehielt. Ein Buchladen zweier junger Israelis musste nach Anfeindungen der Antifa geschlossen werden, weil man dort das Werk des italienischen Kulturphilosophen Julius Evola diskutieren wollte, auf den sich u.a. auch die amerikanische Alt-Right-Bewegung beruft. Ebenfalls in Berlin musste eine Veranstaltung einer kleinen Lokalzeitung nach massiven Drohungen abgesagt werden, weil sie zu einem Gespräch mit einem AfD-Politiker lud. Und bereits 2017 machte eine Bierdeckel-Aktion aus Köln Schlagzeilen. Unter dem Motto „Kein Kölsch für Nazis“ schlossen sich Kölner Wirte zusammen, um ein Zeichen gegen die AfD zu setzen. Wer ein wenig googelt, bekommt eine ganze Liste solcher Vorfälle angezeigt. Siehe hier und hier und hier und hier.
Keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern Feigheit?
Dennoch tönt es nun von allen Seiten, der Ex-Handballer läge falsch. Wolfgang Kubicki kritisiert die Aussagen Kretschzmars. Er ist der Auffassung, dass seine Äußerung absurd sei, „beweist sie doch in sich selbst, dass alles geäußert werden kann.“ Zur Meinungsfreiheit gehöre auch der Mut zur Meinungsäußerung, der gerade dann gebraucht werde, wenn die Meinung nicht im Mainstream liegt. „Kretschmar beschreibt keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern Feigheit.“ Noble Worte von jemandem, der eine Viertelmillion Euro jährlich durch Nebeneinkünfte erzielt und knapp 100.000 durch seine Abgeordnetendiät. Neid ist hier fehl am Platz, aber der Verweis darauf, dass man sich Mut auch leisten können muss und andere Menschen auch morgen noch auf den Job angewiesen sind, der ihre Familie ernährt, muss erlaubt sein.
Dass diese Aussage ausgerechnet von einem Liberalen kommt, ist darüber hinaus enttäuschend. Sicherlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass vor allem jene das Problem nicht sehen wollen, die sich mit ihrer Meinung noch nie außerhalb des politisch korrekten Korridors befunden haben. Auch von denjenigen, die gerne zum Knüppel greifen, um ihre Überzeugung durchzusetzen, ist selbstredend keine Zustimmung zu erwarten. Dass aber selbst ein vermeintlich Liberaler keinen Handlungsbedarf sieht, ist wohl letztlich der zunehmenden Entfremdung vieler Politiker von Lebensalltag des normalen Bürgers geschuldet.
Denn es geht freilich mittlerweile nicht mehr nur um berufliche und finanzielle Risiken. Der soziale Druck, der in den letzten Jahren von linker Seite aufgebaut wurde, ist immens und kann mitunter auch zur psychischen Belastung werden. Wer wissen will, welche Ausmaße dieser Druck annehmen kann, sollte einmal versuchen, als Nicht-Linker ein geisteswissenschaftliches Studium an der Universität zu überstehen. Wenn Kommilitonen darauf angesprochen werden, dass sie mit dir zu tun haben, wenn Menschen aufgrund politischer Differenzen für unberührbar erklärt werden, dann ist die Grenze zum Totalitären erreicht. Und dafür braucht es keine tatsächliche Strafe und kein Gefängnis. Dann ist das Umfeld, in dem man sich bewegt, Gefängnis und Strafe genug.
Alexis de Tocqueville schrieb einst:
„Unter der absoluten Herrschaft eines Einzelnen schlug der Despotismus, um den Geist zu treffen, den Körper – eine grobe Methode; denn der Geist erhob sich unter den Schlägen und triumphierte über den Despotismus; in den demokratischen Republiken geht die Tyrannei ganz anders zu Werk; sie kümmert sich nicht um den Körper und geht unmittelbar auf den Geist los. Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ‘Du denkst wie ich, oder du stirbst’; er sagt: ‘Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.“
Auf den Pfad der Tugend zurückgeführt
Was der französische Adelige Tocqueville 1830 über die junge Demokratie in Amerika schrieb, ist nichts anderes als die erste dokumentierte Beschreibung der Gefahr für die Meinungsfreiheit in der Demokratie durch das, was wir heute unter dem Begriff political correctness subsumieren. Der Despotismus wird durch eine „Tyrannei der Mehrheit“ ersetzt. Oder, wie es heute der Fall ist, durch eine politische, mediale und wissenschaftliche Öffentlichkeit, die eine Mehrheitsmeinung suggeriert und einen Meinungskorridor vorgibt, in dem sich der Bürger bewegen darf.
Liest man Tocqueville richtig, bedeutet Meinungsfreiheit zwar nicht, dass man von Kritik befreit ist, aber sie muss durch mehr definiert sein als nur die Abwesenheit von staatlichen Sanktionen. Soziale und berufliche Ausgrenzung bis hin zum gesellschaftlichen Tod muss als ein Meinungsfreiheit einschränkender Faktor diskutiert werden. Dazu gehört aber, dass man auch jene an der gesellschaftlichen Diskussion teilhaben lässt, die diese Ausgrenzung spüren.
Stattdessen passiert das, was immer passiert, wenn eine gesellschaftliche Diskussion nicht erwünscht ist. Pauschal werden alle, die Kretzschmars Auffassung teilen, kurzerhand zu „Rechten" erklärt, was wiederum dazu führt, dass Kretzschmar den „Rechten“ in die Hände spielt. Weil Kretzschmar den „Rechten“ in die Hände spielt, wird anschließend gemutmaßt, ob der linke Kretzschmar nicht vielleicht selbst ein „Rechter“ ist. Daraufhin sieht er sich gezwungen, sich gegen Rechts zu positionieren und klarzustellen, dass er ja nichts gegen „bunt“ und „Refugees Welcome“ hat. Dass der stereotype Ablauf dieser Debatte genau alles bestätigt, was Kretzschmar zuvor in seinem Interview kritisiert hat, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass er auf den Pfad der Tugend zurückgeführt wurde.
Eines bleibt jedoch bestehen: Eine Gesellschaft, die so hysterisch auf die Ausführungen eines Ex-Profisportlers bezüglich der Meinungsfreiheit im Land reagiert, bestätigt im selben Moment schon die Richtigkeit seiner Aussagen. Quod erat demonstrandum.