Gunter Weißgerber / 06.03.2021 / 17:00 / Foto: Unbekannt / 38 / Seite ausdrucken

Statt den Ungarn zu danken, werden sie beschimpft

Liebe Ungarn, liebe mitteleuropäische Nachbarn, in den 80er Jahren erstand ich ein Abonnement der Budapester Rundschau und erfuhr auf diese Weise zweiwöchentlich auf Deutsch recht aktuell, wie sich in Ungarn die Freiheit Bahn bricht. Imre Poszgay und Miklós Németh waren für mich die ungarischen Lichtgestalten der Hoffnung auf Befreiung aus dem sowjetischen Kolonialsystem. Miklós Németh konnte ich 2014 anlässlich der Verleihung des „Point Alpha Preises“ persönlich Danke sagen. Ich weiß, auch Viktor Orbán gehörte zu den mutigen Ungarn jener Zeit. Ich vergesse das alles nicht.

Ich kann nur allen Ungarn ans Herz legen: „Bleibt fest! Lasst euch nicht von Leuten maßregeln, denen Erfahrungen, Kenntnisse, Kultur und Lebensansichten ihrer vermeintlichen Partner völlig egal sind. Nicht ihr seid die Störenfriede in der Europäischen Union. Im Gegenteil, ihr tut das, was ihr schon oft getan hattet: Europas Werte hochhalten und schützen. Eure schärfsten Kritiker sind drauf und dran, aus der starken Idee einer Gemeinschaft europäischer Staaten ein Umerziehungs- und Gleichmachungsungetüm zu formen. Ungarn und Polen sind notwendige Korrektive!“

Vergleiche ich die Europäische Union mit einem großen Zelt, dann stelle ich fest, es wird gerade in kultureller Hinsicht eingerissen. Gäbe es die Visegrád-Staaten, das Baltikum und Österreich nicht, dieses Zelt würde infolge der an großdeutsche Überheblichkeit erinnernden Merkelschen Multikultipolitik, die auf nichts anderes als auf eine gesichts- und geschichtslose Homogenisierung der europäischen Nationen und Völker hinausläuft, einstürzen, wie das alte Westrom vor 1.500 Jahren sang- und klanglos untergegangen ist.

Wer Europa, wer die Europäische Union liebt, der sollte die Gemeinschaft schützen und stärken. Die Anziehungskraft der europäischen Idee erwächst aus ihren gemeinsamen Wurzeln, aus ihrer nationalen und kulturellen Vielfalt, aus ihren gemeinsamen Schutz- und Verteidigungsinteressen und aus der Fairness aller Mitglieder im Umgang mit allen Mitgliedern.

Brüssel hat nicht die Wahrheit gepachtet

Die Europäische Union ist eine Gemeinschaft Freiwilliger, Zwang hat sie weder zusammengeführt, noch kann Zwang sie erhalten. Der Zusammenhalt bedarf allseitigen Interesses und allseitiger Mitwirkung. Die Europäische Union ist kein Zentralstaat mit der Hauptstadt Brüssel oder einer Ersatzhauptstadt Berlin. In Brüssel werden die Interessen der Europäischen Union von den Mitgliedsländern und ihren Entsandten ausgehandelt. In Brüssel wird verhandelt, demokratisch entschieden und verkündet, was die Mitgliedsländer gemeinsam wollen. Nicht mehr, nicht weniger!

Wer demokratische Prozesse eines Mitgliedslandes mit dem Geldhahn durchdrücken will, verhält sich diktatorisch. Brüssel hat nicht die Wahrheit gepachtet, schon gar nicht hat dies das Sendegebiet von Radio Luxemburg. Ohne das beherzte Eingreifen Viktor Orbáns im Herbst 2015 wären die Brüsseler Erpresser samt der Regierung Merkel in Deutschland längst Geschichte. Statt den Ungarn zu danken, werden sie unanständig beschimpft.

Als ob es nicht genügt, dass sich Großbritannien wegen des historisch unfassbaren Versagens von Merkel-Europa aus der Europäischen Union verabschiedet. Dieser Tage äußerte Tom Bower, unter anderem Autor einer Biographie über Boris Johnson, in einem Spiegel-Interview Folgendes: „Im Übrigen bin ich überzeugter Europäer, ich habe seinerzeit gegen den Brexit gestimmt. Aber ich sage Ihnen etwas: Mein Gefühl ist, dass die wahre Schurkin in diesem ganzen Brexit-Drama Angela Merkel ist.“

Mir als Ostdeutschem treibt es die Schamröte ins Gesicht, wenn ich fast täglich miterleben muss, wie oftmals historisch eher ungebildet erscheinende Europa- und Landespolitiker über Ungarn und Polen herfallen.

Frau Barley fehlt es an Anstand, Geschichtswissen und Selbstreflexion

So wie jüngst etwa Katarina Barley: „Wir müssen ihn finanziell aushungern. Er braucht das Geld‘“. Später sprach sie von europäischen Steuergeldern, die dann „an Regime wie das von Orbán und Kaczynski“ gehen. Diese würden sich laut der ehemaligen Bundesministerin „vor allen Dingen Geld in die eigene Tasche schaufeln, aber ihre Länder zu Demokratien umbauen, die mit den Werten der EU nichts mehr zu tun haben“. Diese Tonlage gehört ganz sicher nicht zu den Werten, die Frau Barley zu verteidigen vorgibt.

Was Frau Barley über „Regime von Orbán und Kaczynski“ absondert, diskreditiert sie eher selber. Orbán und Kaczynski muss man nicht mögen, anders als Frau Barley haben die beiden aber regelmäßig gewaltige Mehrheiten der eigenen Bevölkerung hinter sich. Frau Barley sitzt dagegen im EU-Parlament, nicht weil sie so brillant ist, sondern weil sie per kompetenzunabhängigem Quotengeschacher bei der letzten Europawahl ganz oben auf der SPD-Liste stand.

Orbán und Kaczynski können mit Fug und Recht für Ungarn und Polen handeln. Frau Barley fehlt es an Anstand, Geschichtswissen und Selbstreflexion. Nationalstaaten unter Druck zu setzen, ist so ziemlich das Dümmste, was einer Politikerin einfallen sollte. Zumal, wenn es um Staaten geht, die Europa mehr als einmal gerettet haben. Frau Barleys Gendarmensprache ist leider kein Solitär im deutschen Sprachraum. Martin Schulz entblödete sich ebenfalls des Öfteren nicht, mit seinem Orbán- und Ungarn-Bashing in Erscheinung zu treten.

Die Europäische Union gilt mit Fug und Recht als Friedensprojekt. Meine Ziele 1989 waren Freiheit, Demokratie, soziale Markwirtschaft, deutsche Einheit, Mitgliedschaft in EWG und NATO als irreversibler Schutz vor möglicherweise wiederkehrenden Gelüsten aus Moskau. Und ich wollte eine europäische Gemeinschaft, in der neben uns Ostdeutschen selbstverständlich auch die Völker Mitglied sein sollten, denen wir auch unsere Freiheit verdanken: Ungarn, Polen, Balten, Tschechen, Slowaken, Rumänen und Bulgaren. Wir haben eine gemeinsame Freiheitsgeschichte, von der die Barleys, Schulzes, Webers etc. nicht die Spur einer Ahnung zu haben scheinen.

Falls Sie sich jetzt fragen, wie kommt der Mann dazu, sein Land und seine Politiker im Ausland zu kritisieren, dann sage ich Ihnen, ich bin sehr zornig über die Behandlung, die den Ungarn gerade von deutschen Politikern verschrieben wird. Weil ich weiß, wem ich meine Freiheit zu verdanken habe. Im Zweifel weiß ich auch, wer uns besser beschützen würde: die Ungarn.

Zunehmende Einengung des Meinungskorridors in Deutschland

Übrigens, in Deutschland gibt es eine zunehmende Einengung des Meinungskorridors. Eine freie Meinungsäußerung kann sich nur noch leisten, wer existenziell unabhängig ist. Alle anderen werden immer vorsichtiger, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern. Es steht keine Strafe und kein Gefängnis auf abweichende Positionen. Insofern ist Deutschland keine Diktatur. Auch die Gerichte arbeiten noch unabhängig. Doch was nützt das alles, wenn der Einzelne Angst um seinen Job haben muss? Das gesellschaftliche Klima war in Deutschland schon mal angenehmer.

Inzwischen werden hier Wahlen rückgängig gemacht. Einfach so auf Zuruf der Bundeskanzlerin von Südafrika aus. So geschehen in Thüringen im Februar 2020. In Deutschland haben sich Bundestag und Länderparlamente weitgehend aus der Debatte um den Umgang mit Corona herausgenommen. Bezüglich Ungarn und Orbán sprachen deutsche Politiker und viele Medien vor einem halben Jahr von Orbáns Ermächtigungsgesetz. Jetzt, wo dieselben Leute für Deutschland das genauso beschlossen haben, sprechen sie aber nicht von Ermächtigung. Fehlende Selbstreflexion oder Heuchelei? Machen Sie sich selbst ihren Reim darauf.

Liebe Ungarn, wer das traumatische Gepäck zweier Diktaturen binnen eines Jahrhunderts in sich trägt, der spürt Gefährdungen der Freiheit, der Demokratie und der Sicherheit eher und stärker. Und er sucht immer die politische Mitte, die im Moment in der öffentlichen Diskussion in der Europäischen Union, demokratietheoretisch verfremdet, leider als rechts verunglimpft ist. Ich denke, in diesen unterschiedlichen Erfahrungen liegen viele Ursachen für den aktuellen Konflikt, unter dem nicht nur die Ungarn leiden. 

Dieser Text erschien zuerst in der ungarischen Tageszeitung Magyar Nemezet (Ungarische Nation"). Die ungarische Fassung finden Sie hier.

 

Gunter Weißgerber war 1989 Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) und mehrfach Redner bei den Leipziger Montagsdemonstrationen. Derzeit ist er unter anderem tätig als Herausgeber des liberalen Diskussionsforums Globkult Magazin.

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Leserpost

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Volker Altenaehr / 06.03.2021

Es wäre für mich überlegenswert demnächst in Ungarn oder Polen um politisches Asyl nachzusuchen

Bernd Michalski / 06.03.2021

Lieber Herr Weißgerber, herzliche Zustimmung! Ja, auch ich danke Polen und Ungarn täglich dafür, dass sie die EU-Technokratie noch gerade so halbwegs von den allergrößten Dummheiten und Verfehlungen zurückhalten. Leute wie diese Barley – was für eine mediokre und peinliche Person, mein Gott – sehen sich berechtigt, die legitimen Interessenvertreter dieser Nationen zu verunglimpfen: genau deshalb, WEIL sie die Interessen ihrer Nationen, ihrer Völker vertreten! Das allein gilt schon als böse. Oder, in anderen Worten: Weil die Polen und Ungarn die Stirn haben, sich “populistische” Regierungen zu wählen. Die Reaktion der zeitgeistigen Verächter des Nationalen und ihrer eigenen Völker auf Polen und Ungarn ist die gleiche wie die auf den Brexit oder auf Donald Trump und seine Anhänger. +++ Ich sehe das so: Inzwischen sind die angeblichen (bzw. angeblich bösen) “Populisten” im Grunde die einzigen, die überhaupt noch das klassische Konzept der liberalen, nationalstaatlichen Demokratien, mit gesicherten Grenzen und innerer Freiheit und Selbstbestimmung, verteidigen. Alle anderen laufen den Globalisten und ihren zerstörerischen Utopien hinterdrein.

Günter H. Probst / 06.03.2021

Ärgern Sie sich doch nicht. Wir wissen doch alle, daß diese Maulheldinnen im Freiheitskampf auf der Seite der jeweils Herrschenden stehen würden, wie jetzt auch,

Herbert Müller / 06.03.2021

Merkel will die europäischen Nationalstaaten auflösen und einen Zemtralstaat schaffen mit einer Mischbevölkerung aus allen Volksgruppen der Welt. Die ungehinderte Migration und die europaweite Verteilung der Migranten dienen ihr als Vehikel. Ungarn und andere machen hierbei nicht mit und stellen sich quer. Das ist Frau Merkel aus ihrem Umkreis nicht gewohnt. Wer nicht spurt wird weggbissen. Mit den Ungarn wird das auch über den Umwege durch Brüssel versucht. Da das nicht klappt, wird nichts unversucht gelassen, um den Ungarn zu schaden. Wenn Orban 2015 mit der Grenzschließung nicht entschlossen gehandelt hätte, wäre unser gesamtes Sozialsystem durch die ungebremste Migrantenflut schon kollabiert. Wir sollten den Ungarn dankbar sein.

Matthias Ditsche / 06.03.2021

Als Mitteldeutscher weiß ich aus eigener Erfahrung, was ich den Ungarn zu verdanken habe. Diesen Artikel unterschreibe ich gerne, sodann möge man diesen in Ungarn veröffentlichen. Die Menschen dort sollen ruhig wissen, daß nicht alle Deutschen willige EU Büttel sind.

Kay R. Ströhmer / 06.03.2021

Wenn Merkel die EU zugrunderichtet, ist allen geholfen. Also, vorwärts Angela. Weiter so. Um den Rest kümmern wir uns dann schon.

Norbert Wenz / 06.03.2021

Sehr geehrter Herr Weißgerber, Sie sprechen mir aus dem Herzen, ein hervorragender Artikel, jeder Satz ein Volltreffer. Eigentlich unvorstellbar, aus dem Munde eines (ehemaligen) Sozialdemokraten solche Äußerungen zu hören.

Wolfgang Janßen / 06.03.2021

Die deutsche Linke wird den Ungarn nie verzeihen, dass sie ihr 1989 mit der Grenzöffnung ihr Lieblingsspielzeug “DDR” weggenommen haben. Erich Honecker hatte im Westen mehr Anhänger als sonst irgendwo. Zeitweise hatte man den Eindruck, Wahlen werden von denjenigen gewonnen, die die meisten Fototermine mit EH haben. Und dann kam die Grenzöffnung.

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