Hubertus Knabe, Gastautor / 29.03.2021 / 12:00 / Foto: Bundesarciv / 37 / Seite ausdrucken

Petition: Stasi-Aktenschnipsel endlich scannen!

Ein Berliner Wissenschaftler will seit mehr als 20 Jahren Millionen zerrissener Stasi-Dokumente per Computer zusammensetzen. Doch die Bundesregierung und die Stasi-Unterlagen-Behörde lassen ihn abblitzen – angeblich, weil der passende Scanner fehlt. Eine aktuelle Petition setzt sich nun dafür ein, das Projekt „Zusammenfügung der zerschnipselten Stasiakten" unverzüglich einzuleiten. In diesem Beitrag beschreibt der Historiker und ehemalige (bis Ende 2018) Direktor der Stasi-Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, die Geschichte dieser Akten und ihrer bis heute größtenteils unterlassenen Rekonstruktion.

Es muss irgendwann Anfang der neunziger Jahre gewesen sein, als mich Dr. Bertram Nickolay in meinem kleinen Büro in der Berliner Gauck-Behörde aufsuchte, um mit mir über eine Idee zu sprechen: Es gäbe doch im Stasi-Unterlagen-Archiv tausende Säcke mit zerrissenen Stasi-Unterlagen, die mühsam mit der Hand zusammengesetzt würden – so langsam, dass dies noch 300 Jahre benötigen würde. Viel einfacher wäre es doch, dies per Computer zu tun, wofür er die passende Technik entwickeln könne. Ihm sei unerklärlich, warum er mit diesem Vorschlag in der Behörde überall auf Mauern stieße.

Als Mitarbeiter der Forschungsabteilung hatte ich damals andere Sorgen, als die zerrissenen Papierschnipsel zusammenzusetzen, die im Archiv in über 15.000 Säcken lagerten. Bereits die 111 Kilometer unzerstörte Akten kamen mir wie ein Meer vor, in dem man zu ertrinken drohte. Der Bürgerrechtler Jürgen Fuchs suchte darin gerade nach Belegen, wie die Stasi exponierte Gegner des SED-Regimes zu liquidieren suchte; Joachim Walther erforschte die Spitzeleien prominenter DDR-Schriftsteller von Hermann Kant bis Sascha Anderson; und ich befasste mich mit den Stasi-Operationen in Westdeutschland, die genügend Stoff boten, um einen Historiker ein Leben lang zu beschäftigen. Aber in der Behörde, die damals über 3.000 Mitarbeiter beschäftigte, musste es – so meinte ich – doch genügend Leute geben, die ein Ohr für den Tüftler hätten, der an der TU Berlin über „Belehrbare Bildauswertungssysteme“ promoviert hatte.

Als wir uns Jahre später wiedersahen – ich war inzwischen Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen, er Leiter der Abteilung Mustererkennung im Berliner Fraunhofer-Institut –, war seine Idee Wirklichkeit geworden. Bei einer Vorführung im Juli 2014 zeigte er mir, wie seine Hochleistungsrechner die von der Stasi zerrissenen Schnipsel in Windeseile wieder zusammensetzten. 

Der sogenannte ePuzzler analysierte die Umrisse, die Farbe und die Schrift der Papierreste von beiden Seiten und berechnete dann, welche Teile wie zusammengehören. Wie die Schnipsel auf dem Bildschirm nach und nach zusammenfanden, erschien mir damals wie ein Wunder. Doch Nickolay erklärte mir, das Ganze sähe komplizierter aus, als es sei. Mit der Software habe man auch schon zerbrochene Marmorplatten aus der Antike und Teile des in einer Baugrube versunkenen Stadtarchives von Köln wiederhergestellt. Auch bei der Verbrechensbekämpfung werde die Technik eingesetzt, wenn Kriminelle Papiere durch den Schredder gejagt hätten. Im Vergleich dazu sei die Rekonstruktion der nur grob zerrissenen Stasi-Akten vergleichsweise einfach.

Was Nickolay so einfach erschien, ist in Deutschland bis heute nicht zur Anwendung gekommen. Bis Januar 2020 wurde der Inhalt von gerade einmal 23 Säcken per Computer zusammengefügt – im Vergleich zu den 520 Säcken, die mit der Hand zusammengesetzt worden sind, und erst recht in Relation zur Gesamtzahl der Säcke eine verschwindend geringe Zahl.

Dies ist umso verwunderlicher, als die zerrissenen Unterlagen besonders aufschlussreich sind. Sie stammen nämlich überwiegend aus der Endzeit der DDR und wurden von der Stasi für so wichtig erachtet, dass sie mühsam mit der Hand zerrissen wurden. Unter den bisher zutage geförderten Unterlagen befinden sich denn auch viele Papiere, die Schlagzeilen machten – vom Auskunftsbericht über den Schriftsteller Günter Wallraff, den die Stasi als IM „Wagner“ führte, bis zur Spitzelakte des früheren thüringischen Bischofs Ingo Braecklein, der 30 Jahre lang die DDR-Kirche ausforschte.

Gleichwohl haben bis heute weder die Bundesregierung noch die Stasi-Unterlagen-Behörde dafür gesorgt, dass die zerrissenen Dokumente mit dem ePuzzler wieder zusammengesetzt wurden. Hätte die frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Beatrix Philipp nicht immer wieder massiven Druck gemacht, wäre es nicht einmal zu einem Pilotprojekt gekommen, mit dem die Funktionsfähigkeit der “Schnipselmaschine”, wie sie die Hochtechnologie nannte, vor Jahren ausprobiert wurde. 

Mit dem Frauenhofer-Institut wurde damals vertraglich vereinbart, den Inhalt von 400 Säcken virtuell zu rekonstruieren. Doch weil die Stasi-Unterlagen-Behörde zu wenig Mitarbeiter schickte, um die Schnipsel auf den Scanner zu legen, wurde gerade einmal fünf Prozent der vereinbarten Menge wiederhergestellt.

Auch die CDU-Abgeordnete bedeutete mir damals, dass sie bei diesem Vorhaben überall auf Mauern stieße. Ihren Wunsch, aus dem Pilotprojekt ein Dauerprojekt zu machen, konnte sie nie realisieren. Ähnliches gab mir ihr Fraktionskollege Klaus-Peter Willsch zu verstehen, der mich einmal während einer Sitzung anrief und händeringend darum bat, vor einer entscheidenden Abstimmung über die Verlängerung des Projektes Druck auf die Abgeordneten zu machen. Doch das ePuzzler-Projekt wurde gestoppt, weil, wie der noch amtierende Bundesbeauftragte Roland Jahn erklärte, die technischen Parameter für ein geplantes Massenverfahren nicht ausreichten.

„Pausierende“ Rekonstruktion 

Der ePuzzler ist nun schon seit mehreren Jahren außer Betrieb. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion hat die für die Stasi-Unterlagen-Behörde zuständige Staatsministerin Monika Grütters vor wenigen Tagen den Stopp des Projektes bestätigt. Ihr zufolge sei die virtuelle Rekonstruktion aber nicht eingestellt, sondern „pausiert bis zum Abschluss eines Vertrages über ein Folgeprojekt.“

Wie lange die angebliche Pause noch währen soll, geht aus Grütters Antwort nicht hervor. Nach ihren Angaben verhandeln das Beschaffungsamt, das Fraunhofer-Institut und der Stasi-Unterlagen-Beauftragte bereits seit 2016 über einen entsprechenden Vertrag – ohne zu einem Ergebnis zu kommen. 

Die Beteiligten würden sich nicht einig, weil die Bundesregierung „auf einer wirtschaftlich angemessenen Vertragslösung“ bestehe, so die CDU-Politikerin. Übersetzt bedeutet das: Die Koalitionsparteien wollen nicht die Mittel bereitstellen, die für eine Wiederaufnahme der computergestützten Rekonstruktion erforderlich sind. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil dieselben Parteien erst im vergangenen Jahr beschlossen, die Stasi-Unterlagen-Behörde im Juni ins Bundesarchiv zu überführen und stattdessen einen SED-Opferbeauftragten zu installieren – was Mehrkosten von mehreren Millionen Euro verursacht.

Dabei geht es um ein vergleichsweise einfaches Problem. In ihrer Antwort bestätigt Frau Grütters ausdrücklich, dass der ePuzzler, für den das Fraunhofer-Institut 2013 den Europäischen Innovationspreis erhielt, funktioniert. Es gebe jedoch „derzeit keinen sofort einsatzfähigen Scanner, der die besonderen Anforderungen des Projekts an die Scanqualität und vor allem an die Menge der zu verarbeitenden Schnipsel erfüllt,“ so die Vertraute von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

In einem Land, das für seinen Maschinenbau weltberühmt ist, überrascht diese Antwort. Es fehlt demnach nur an einem Scanner, der die Papierschnipsel schneller einlesen kann als das derzeitige mit der Hand betriebene Modell. Bei anderen Dokumenten – zum Beispiel aus einer jüdischen Stiftung in Argentinien, auf die 1994 ein Bombenanschlag ausgeübt wurde – war das Einscannen kein Problem. Zudem hat das Fraunhofer-Institut schon vor Jahren angeboten, einen leistungsfähigen Scanner zu bauen. Bereits 2016 hatte sich der Beirat der Stasi-Unterlagen-Behörde für das auf dieser Basis entwickelte Konzept ausgesprochen. Aber vielleicht findet sich ja noch jemand, der Frau Grütters den passenden Scanner beschaffen kann – damit der inzwischen 67-jährige Bertram Nickolay die virtuelle Rekonstruktion der Stasi-Unterlagen noch erleben kann.

 

Der Text erschien auch auf Hubertus.Knabe-de und zuvor auf Tichys Einblick.

Redaktioneller Hinweis

Petition für die Auswertung zerrissener STASI Unterlagen

Die Technologie zum Einscannen und Zusammensetzen von  etwa 15.000 Säcken mit zerrissenen Stasi-Dokumenten bei der Stasi-Unterlagen Behörde (BStU) ist vorhanden und wurde bereits weltweit eingesetzt („Stasi-Schnipselprojekt“). Leider ist das Projekt immer wieder gestoppt worden, teilweise mit nicht nachvollziehbaren Gründen. Die Auswertung der 15.000 Säcke mit je ca. 3.000 Blättern würde den noch lebenden Opfern des DDR Regimes helfen, gegebenenfalls das Ausmaß ihrer Überwachung und der Unterdrückung in der DDR zu erfahren. Ziel ist es, dass der Bundestag die zuständige Staatsministerin der Kultur anweist, das Projekt umgehend zu starten. Hier gehts zur Petition.

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Leserpost

netiquette:

Joachim Krone / 29.03.2021

Mir kamen diese vielen handzerrissenen - jedenfalls nicht maschinell zerstörten - Akten schon immer spanisch vor. Als ich noch im Geheimen unterwegs war, wurde alles Schriftliche in einer speziellen Anlage verbrannt. Da passte ca 1 Kubikmeter Papier pro Durchgang hinein und das war dann definitiv weg. Und 1989/90 nur schreddern mit den wütenden Demonstranten vor den Türen? Allein der Zeitaufwand!

Volker Kleinophorst / 29.03.2021

Beeindruckend dieser Wille zur Aufklärung. Also nicht von Ihnen werter @ H. Knabe. Aber von Seiten der “Politik”. Ein Schuft der Böses dabei denkt.

George Samsonis / 29.03.2021

Ironiemodus ein - Die Stasi-Unterlagen einscannen und zusammensetzten geht doch nicht. 1. Die “DDR” war doch lediglich eine Kuscheldiktatur, die nicht einmal aufgearbeitet werden musste und es gab deswegen keinen Anlass, die Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen. 2. Wer weiß, was dabei so alles herauskommen könnte/würde. Also: Schön alles in Ruhe lassen - Ironiemodus aus!

Dirk Jungnickel / 29.03.2021

Anhang: Der Blog von Boris Reitschuster ist wieder gesperrt, bzw. wird systematisch gestört.

Dirk Jungnickel / 29.03.2021

Da kann man aus lauter Frust nur sarkastisch werden: Auf Frau Grüttes, die Mit- oder Hauptschulige an der Intrige gegen Dr. Knabe kann man natürlich nicht zählen. Wie wäre es denn mit Lederer ? Vielleicht regt sich sein Wiedergutmachungs - Gewissen ?  Befürchte, das ist auch vergeblich. Solche Regungen kennen die Empörkömmlinge und Gewächse aus der Mauermörderpartei nicht. Sonst wären sie längst in ihrem eigenen Sumpf versunken…

Wiebke Lenz / 29.03.2021

Zu erwarten von Leuten, die keine reine Weste haben. Frau Dr. der Physik durfte ja auch in der SU studieren. Lothar de Maizère (Cousin vom anderen) wurde nach einigem auf und ab nachgewiesen, dass er IM war. Einfach nur ekelhaft. Ich bin übrigens Ossi-Christ. Hatte einiges zu erleben, obwohl erst 1975 geboren. Aber - die DDR war ja kein Unrechtsstaat, es war lediglich ein Staat, bei dem es nicht um Recht ging (irgend so ein linker Politiker, ich merke mir ganz sicher nicht alle Namen, die irgend einen Dreck absondern).

Karola Sunck / 29.03.2021

Ist doch klar, dass besonders Merkel und ihre Entourage nicht daran gelegen ist, dass diese Papierschnitzel computertechnisch zusammengefügt werden. Könnte ja durchaus etwas von IM- Erika darunter zu finden sein, was plötzlich ein ganz anderes Bild von der Herrscherin bedeuten würde und auch dann nicht mehr von den Ö.R. Merkel-Kuschelmedien unter dem Tisch gehalten werden könnte. Und wer weiß schon genaues darüber, wie viele alte Merkel- Gesinnungsgenossen und DDR heimatverbundene Stasi-Protagonisten heutzutage in den Schaltstellen der Macht von der Diktatorin aus der Uckermark installiert wurden. Ich glaube, wenn dass an die Öffentlichkeit gelangen würde, gäbe es auf einem Friedhof in Rheinland- Pfalz ein Erdbeben, ausgelöst durch das Rotieren eines ehemals gewichtigen Kanzlers, der sich deshalb ein paar Male in seinem Grabe umgedreht hätte.

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