Am vergangenen Shabat las ich in einer Zeitschrift, die im Vorraum meiner Synagoge auslag, herausgegeben von einer bekannten amerikanisch-jüdischen Organisation. Im Tora-Abschnitt der vergangenen Woche ging es um Gemeindebildung und Schaffung innergesellschaftlicher Strukturen (ausgehend von Vorgängen während der Wüstenwanderung Israels), daher wurde ein Essay des kürzlich verstorbenen britischen Oberrabbiners Lord Jonathan Sacks abgedruckt, der sich mit Zusammenhängen zwischen einer dominanten, zunehmend übermächtigen Obrigkeit und dem Verlust an Menschlichkeit beschäftigte.
Rabbi Sacks sieht die Rolle des Menschen in einer aktiven und kritischen Mitwirkung am Gesamtprojekt, nicht in willenloser Unterwerfung unter einen Gott, dessen selbst ernannte Sachwalter oder eine weltliche Macht – denn nicht dazu hätte Gott die Menschen, wie in den Mosaischen Büchern apostrophiert, mit der Freiheit des Willens ausgestattet. Die Gefahr der Selbstaufgabe, der Preisgabe menschlicher Entscheidungsfreiheit, bestünde jederzeit und überall, selbst wenn die betreffende Über-Macht eine vergleichsweise sanfte und humane sei. Sacks erinnert an Alexis de Tocqueville und dessen berühmtes Buch Democracy in America, zuerst erschienen 1835, das diese Gefahr für die westlichen Demokratien voraussagt. Wo zunehmend schwache und isolierte Individuen einem starken, vorgeblich sorgenden und bevormundenden Staat gegenüberstehen, sah Tocqueville einen „sanften Despotismus“. Die „Entwürdigung des Einzelnen“, schrieb er, könne sich keineswegs nur, wie in der offenen Diktatur, durch Gewalt oder Gewaltandrohung vollziehen, sie könne auf sanfte Weise erfolgen: als eine durch übergroße Sorge getarnte Entmündigung.
Zu diesem Vorgang gehören zwei Seiten: einmal ein übermächtiger Staatsapparat, zum anderen bequeme, willenlose Untertanen, die ihn unkontrolliert schalten und walten lassen, ihm die totale Entscheidungsgewalt über sich und ihre Affären zugestehen. „Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen“, schrieb Tocqueville, „die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen (…) Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber (...) Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht (...) Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie gliche einer väterlichen Aufsicht, sofern sie denn das Ziel verfolgte, die Menschen auf das Mündigwerden vorzubereiten; stattdessen versucht sie jedoch, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten (...). Sie arbeitet bereitwillig für deren Wohl, will aber ihr alleiniger Betreuer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, ermisst und sichert ihren Bedarf, ermöglicht ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie (...); könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Denkens und die Mühe des Lebens gänzlich abnehmen?“
Rabbi Sacks beunruhigt die Aktualität dieser Vision: „Tocqueville schrieb dies vor rund zweihundert Jahren, und es besteht die Gefahr, dass es gerade heute in einigen europäischen Staaten geschieht: überall Staat, nirgendwo Gesellschaft, überall Regierung, keine Gemeinschaft“ („all state, no society, all government, no community“). Interessant, wie er als Brite und Jude die anderen europäischen Staaten und ihren angestrebten Zusammenschluss sieht: als Modell einer Zentralisierung und Ent-Demokratisierung – man ahnt beim Lesen, warum sich die Mehrheit seiner Landsleute von dieser European Union abkoppeln wollte. Nach Ansicht des Rabbis schadet sie den Menschen: „Wenn eine zentrale Gewalt, und sei es Gott selbst, alle Fürsorge für die Menschen übernimmt, bleiben sie zurück in einem Zustand der Erstarrung. Sie klagen, statt zu handeln. Sie ergeben sich ihrer Verzweiflung. Wenn es dann keine vernünftigen Anführer gibt, herrscht der Wahnsinn.“
Immer neue Projekte, Aktivitäten und Kampagnen
Was erleben wir dieser Tage? Der Staat expandiert. Er erdrückt uns mit seinen „Angeboten“, mit seiner Anteilnahme, Fürsorge und Kontrolle. Sein sich aufblähender Apparat erfindet – schon zu seiner notwendigen Legitimation – immer neue Projekte, Aktivitäten und Kampagnen, mit denen die Bürger beschäftigt werden, an denen sie sich beteiligen, denen sie sich „alternativlos“ unterwerfen sollen („Energiewende“, „gender-gerechte Sprache“, „Kampf gegen rechts“). Die zunehmende mentale Verwirrung vieler Menschen in einem künstlichen Nebel medialer Desinformation verstärkt ihre Neigung, dem Staat immer mehr Entscheidungsgewalt zu überlassen. Sehnsucht nach einem starken Staat ist ein Zeichen von Schwäche. Das verhängnisvollste an diesem Vorgang besteht darin, dass auch die führenden Figuren des Staates immer schwächer und dümmer werden. So kann es geschehen, dass labile, inkompetente Politiker das Schicksal ganzer Völker in die Irre lenken, weitgehend widerstandslos, geduldet von ihren Opfern.
Für einen „mündigen Bürger“, einen freien, kritisch denkenden Einzelnen, ist in dieser Konstruktion immer weniger Raum, für offenen Diskus immer weniger Duldsamkeit, und unter dem wachsenden Druck des Monsterstaates und seiner Medien granulieren die Individuen zur „Masse“. Innerhalb derer die von Le Bon, Ortega y Gasset, Canetti und anderen beobachteten Mechanismen der „Massenpsychologie“ wirksam werden, sie so grundverschieden sind von denen der „Individualpsychologie“: Kollektivierung der Gefühle und Gedanken, Verlust der Fähigkeit zum kritischen Denken bis hin zur Verfolgung derer, die es noch wagen, ausgreifende Neigung zu Massenpanik und Massenpsychose – Regungen, die von den kontrollierenden, alles beobachtenden Gremien des Fürsorge-Staates jederzeit initiiert und ausgenutzt werden können. Der Einzelne ist nicht mehr imstande, zu erkennen, ob er sich, indem er den Empfehlungen des angeblich wohlmeinenden Staates folgt, nicht gerade dadurch schadet. Doch selbst, wenn er es erkennt, nützt es ihm nicht mehr viel, weil die Mehrheit aus Angst und Apathie auch den unsinnigsten Regulierungen folgt. Die „Corona-Maßnahmen“ sind dafür das beste Beispiel.
Rabbi Sacks erinnert an die jüdische Tradition, geradezu Verpflichtung, auch in feindseligen, übermächtigen Staaten, etwa denen des Mittelalters, als eigenständige Gemeinde zu überleben. Diese Notwendigkeit führte zu einer spürbaren Isolation und Außenseiterrolle, zu Verachtung und Verfolgung durch die Mehrheit, erhielt aber eine geistige Souveränität, die dann in besseren Zeiten erneut zum Tragen kam. Das geschah durch Schaffung selbstständiger Strukturen und ständige Beschäftigung mit geistigen Fragen, durch kluge Beschränkung auf kleine Gemeinschaften, die sich dem Allmachts-Anspruch des Monsterstaates entziehen konnten. Was Israel heute an Erfolgen verbuchen kann, ist gewachsen in Jahrhunderten einer Außenseiter-Existenz.
Die Empfehlung von Rabbi Sacks sei hiermit weitergegeben, den Zusammenhalt der Nachdenklichen, den kritischen Funken zu bewahren, auch in schlechten Zeiten, unter allen Umständen. Durch alternative Medien, gegenseitige Information und Ermutigung, durch spontan entstehende Gruppen und Netzwerke wie etwa, um ein Beispiel zu nennen, durch die in Skepsis und Freiheitsliebe verbundene Leserschaft der Achse des Guten.
Zitiert wurde:
Jonathan Sacks, The Home We Build Together, in: Torah Tidbits, Terumah 5781, Jerusalem, 2021, pp.18
Alexis des Tocqueville, Democracy in America (abridged), The Modern Library, New York, 1981, p. 584