Von Peter Ruch.
Eine Gesellschaft, die jeden Tabubruch als Erfolg feiert, sollte auch vor dem härtesten aller Tabus nicht zurückschrecken: Dem sozialen Umverteilungsstaat. Eine ganze Reihe von Problemen hängt eng mit ihm zusammen: Die Natur- und Umweltschädigungen, die Migrationskrise, die Überlastung der Verkehrswege, die Kostenexplosion bei der medizinischen Versorgung, die Lücken bei der Altersversorgung, die Arbeitslosigkeit, der Preisanstieg bei den Immobilien, die Finanzkrise und die Staatsverschuldung.
Der Sozialstaat greift massiv in die Mechanismen von Produktion, Markt und Tausch ein. Damit beeinflusst er nicht bloss Preise und Einkommen, sondern verändert auch die Mentalität der Menschen. Sie sind bald weniger darauf bedacht, durch Leistungen ihren Lebensunterhalt zu sichern als an staatliche Tröge heranzukommen. Kein Wunder, kennt der Sozialstaat keine Sättigung. Misst man die heutigen Umverteilungsströme an den sozialdemokratischen Träumen der sechziger Jahre, so sind diese weit überschritten. Trotzdem werden die Mängellisten immer länger. Offensichtlich ruiniert der Sozialstaat selber die Wohlfahrt, die er schaffen soll.
Globale Umverteilung
Eine hohe Misserfolgsquote steckt wesensgemäss in jeder staatlichen Umverteilung. Die Entwicklungshilfe löste vor rund 60 Jahren die Kolonialverhältnisse ab. An die Stelle der Kolonialherren traten Staatschefs, die in Europa und in der UdSSR gelernt hatten, die Umverteilung über die Wertschöpfung zu stellen. Kleinhändler sind geborene Liberale. Diese Mentalität hatte der Kolonialismus nicht ganz zerstört, aber der Sozialismus gab ihr den Rest.
Vor gut 50 Jahren hatten Nigeria, Kongo und Ghana bessere Entwicklungsindikatoren als Südkorea, und sind heute weit abgehängt. Die Einzelinitiative in Afrika wurde erstickt, weil die Europäer den Afrikanern keinerlei Problemlösungen zutrauen - eine charmante Form von Rassismus. Seit 1960 wurde die Summe von sechs Marshallplänen nach Afrika gepumpt, und heute ist der dortige Auswanderungswille drückender denn je. Dabei ist auch in Afrika wirtschaftlicher Erfolg möglich. Botswana bewirtschaftet seine Rohstoffe nachhaltig und sichert künftigen Generationen einen Teil der Einkünfte. Auch Benin überwand dank integrer Politik die Folgen geplünderter Staatskassen. Die abzuleitende Regel lautet: Geschenkte Staatsgelder bewirken mehr Schaden als Nutzen.
Umverteilung in der EU und ihr exemplarischer Sündenfall
Weil die Afrikaner nicht minderwertig sind, gilt die Regel auch für Europa. "Die EU-Gelder haben unheimlich viel Korruption in unser Land gebracht. Schaffen wir dieses Geld ab", appellierte der slowakische Politiker Richard Sulik vor einigen Monaten. Die zehn neuen Mitglieder aus Ostmitteleuropa empfangen Strukturhilfen von durchschnittlich zwei bis drei Prozent ihres BIP. Das Corruption Research Center in Budapest hat festgestellt, dass die Korruptionsanfälligkeit bei Projekten mit EU-Finanzierung deutlich höher ist. Gemäss Transparency International wirkt Gratisgeld auf die Wirtschaft destruktiv, weil Regierungskontakte wichtiger werden als Leistung im Wettbewerb.
Ein atemberaubendes Beispiel ist Griechenland. Nachdem es dank gefälschter Angaben der Euro-Zone beitreten konnte, explodierten seine Schulden, weil die tiefen Zinsen dem Risiko nicht entsprachen. Aus Imagegründen musste Griechenland "gerettet" werden. Seine Hauptkrankheit war der Sozialstaat: Zu kurze Lebensarbeitszeit, überhöhte Renten, aufgeblähte Günstlingsbürokratien und Misswirtschaft. Hinzu kamen luxuriöse Ministerbüros, Rentenzahlungen an Verstorbene und masslose Rechnungen an staatliche Auftraggeber. Pakistan und Indonesien erhielten in ihrer Krise von der Staatengemeinschaft Zuschüsse im Betrag von 61 beziehungsweise 73 US-Dollar pro Kopf. Griechenland ist nun bei rund US-15.000 Dollar pro Kopf angelangt. Ein Grieche ist 240 mal so viel wert wie ein Pakistaner - welch kruder Rassismus!
Umfangreiche Kollateralschäden im Sozialstaat
Was für zwischenstaatliche Transferzahlungen gilt, gilt für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat erst recht. Die Umverteilung narkotisiert das Verantwortungsbewusstsein der Menschen für ihr Auskommen. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass der Sozialstaat kaum reformierbar ist, so wurde er mit der Vorlage zur Rentenreform erbracht. Der Umwandlungssatz kann ohnehin kein politisches Traktandum sein, sondern hat sich nach den Kapitalrenditen zu richten. Diese sind wegen der Zinspolitik der Notenbanken am Nullpunkt. Die Zinspolitik wurzelt im Sozialstaat. Das Umlageverfahren und die Mehrwertsteuer erfordern Konsum - notfalls auf Pump.
Das Wachstumsdogma ist gewiss auch in der menschlichen Profitgier begründet, wird aber ebenso vom Sozialstaat angetrieben. Wirtschaftliche Abwärtsbewegungen, wie sie seit Menschengedenken vorkommen, können nicht mehr durch Lohn- und Preissenkungen aufgefangen werden. Die Löhne bleiben oben, und ein Teil der Menschen wird in die Arbeitslosigkeit ausgelagert. Keine zehn Jahre nach der Finanzkrise scheint vergessen zu sein, dass sie durch zu tiefe Zinsen ausgelöst wurde.
Die US-Regierung und das Fed wollten in den neunziger Jahren auch mittellosen Leuten den Immobilienerwerb ermöglichen und drückten die Zinsen gegen den Nullpunkt. Die Folge war eine aufgeblähte Nachfrage mit Preisauftrieben - bis die Blase platzte. Europa beschreitet seit Jahren den gleichen Weg. Der Immobilienindex ist seit 2007 um 50 Prozent gestiegen. Die Geldflutung löst Investitionen aus, für die in Wahrheit die Mittel fehlen. Dazu gehören das Erdölfracking und die Förderung alternativer Energien. Als Folge davon sind die Energiepreise gesunken und treiben die Ressourcenverschwendung hoch.
Auch die Migrationskrise hängt eng mit dem Sozialstaat zusammen. Migration ist eine Grundkonstante der Kulturgeschichte und hat sowohl in der Bibel als auch in den antiken Mythen ihren Platz. Allerdings migrierten Menschen über Jahrtausende nach dem einzig bewährten Muster: Sie gelangten als Gäste in ein fremdes Land und wurden dort, je nach Gastland, mit mehr oder weniger Rechtsschutz ausgestattet. Nicht zufällig ist das deutsche Wort "Gast" vom Lateinischen Hostis abgeleitet, was sowohl Fremdling als auch Feind bedeutet. Im Alten Testament hatte der Zugereiste im Stadttor zu warten, bis ihn jemand persönlich zu Gast lud (Gen 19,1f). Unbescholten in Not geraten, genossen Fremde einen ähnlichen Schutz wie Witwen und Waisen (Ex 22,21f). Im Neuen Testament wird der Fremde ein bevorzugter Nutzniesser der Barmherzigkeit. Diese bleibt indessen ein Akt des Individuums und geschieht auf dessen Kosten.
Die Unterstützung von Migranten durch den modernen Sozialstaat verhindert die Integration und züchtet Ghettos heran. Bei den Auslandtürken in Westeuropa erreichte Erdogans Verfassungsänderung eine viel höhere Zustimmung als in der Türkei. Das Phänomen ist nicht neu. Schon vor 10 Jahren wies die amerikanische Autorin Claire Berlinski darauf hin, dass unter den Einwanderern aus Bangla Desh in Grossbritannien 38 Prozent arbeitslos sind, in den USA jedoch nur 10 Prozent. Der Grund dafür steckt in den unterschiedlichen Sozialhilfen. Selbst die Verkehrsüberlastung ist eine artgerechte Frucht des Sozialstaates und hängt mit der abenteuerlichen Zinspolitik zusammen. Allein in Grossbritannien wurden in den letzten acht Jahren 240 Milliarden Pfund auf Pump in Neuwagen gesteckt. Das Verkehrsproblem wäre gelöst, wenn nur bezahlte Fahrzeuge zugelassen würden.
Errungenschaften mit Ablaufdatum
Aber, so höre ich einwenden, hat denn der Sozialstaat nicht über mehrere Generationen Gutes bewirkt? Das hat er zweifellos, ja mehr noch: Er hat die westlichen Gesellschaften massgeblich stabilisiert. Auch das ist jedoch ein wichtiges Argument für den Sozialabbau. Denn die gleichen Faktoren, welche eine Kultur emportragen, sorgen, weil einseitig entwickelt, auch für ihren Niedergang. Dafür gibt es viele Beispiele: Der Bürger in der altgriechischen Polis hielt seinen Staat für heilig und versäumte es, eine staatsfreie Sphäre zu fordern.
Freiheit war für ihn die Freiheit des Staates, nicht die Freiheit vom Staat. Als das Gleichgewicht in der Nachbarschaft kippte, hatten die griechischen Städte den Mazedoniern nichts entgegenzusetzen. Die mittelalterlichen Klöster gingen an den Spätfolgen ihrer Regeln zugrunde, die in den Anfängen ihre Stärke gebildet hatten. Die reformatorischen Kirchen konnten sich dank der Partnerschaft mit Fürstenhäusern und Republiken von Rom lösen.
Diese wurde später verhängnisvoll, weil die Kirchen zu Anhängseln der Staaten wurden. Die Gleichheit, welche die Revolutionäre den Feudalgesellschaften zu Recht entgegensetzten, zerfrass die kommunistischen Gesellschaften, weil das Gleichheitsdogma die Güterknappheit auf die Spitze trieb und neue Bonzen hervorbrachte. Generell erzeugt die globale Umverteilung eine Dreiklassengesellschaft: Reiche und Tüchtige, entmündigte Empfänger sowie eine Bürokratie, die schliesslich einen grossen Teil des Volumens selbst konsumiert. Im Übrigen macht die Sozialindustrie die private Hilfsbereitschaft überflüssig. Dadurch entschläft das humanitäre Sensorium.
Der Sozialabbau wird für unsere Zivilisation eine Herausforderung bilden. Was vom Sozialstaat übrig bleiben kann, sind echte Versicherungen für das Alter, die medizinische Versorgung sowie bei Invalidität. Ungleich härter wird es uns treffen, wenn die Umverteilung weiterwuchert. Osteuropa erlebte vor einem Vierteljahrhundert den Kollaps der Sozialstaaten. Sie hatten die Wirtschaft stranguliert, schoben die knappen Mittel den Parteibonzen zu und entliessen die Menschen in die Armut. Wohlstand wird aber grundsätzlich durch freie Märkte geschaffen. Für Bedürftige sowie Menschen, die sich nicht selber ernähren und erhalten können, sind Stiftungen, Versicherungen sowie die Nächstenliebe zuständig. Der Staat kann ergänzend mitwirken, aber nicht als Hauptakteur, geschweige denn als Geldsprinkler für Menschen, die es nicht benötigen.
Peter Ruch ist pensionierter reformierter Pfarrer aus Küssnacht am Rigi in der Schweiz und Stiftungsrat des liberalen Instituts in Zürich