Das Time Magazine zählte ihn zu den 100 einflussreichsten Menschen dieser Erde. In diesem seinem neuesten und leider auch letzten Buch (kurz vor Drucklegung ist er gestorben) geht der gelernte Arzt und nebenberufliche Statistiker Hans Rosling nochmals gegen eine zeitlebens von ihm wie von keinem anderen bekämpfte Krankheit, die Faktenblindheit, vor: „Dieses Buch ist die definitiv letzte Schlacht in meiner lebenslangen Mission, die verheerende Unwissenheit in der Welt zu bekämpfen“ (S. 28).
Eigentlich, sollte man meinen, braucht es zur Bekämpfung dieser „verheerenden Unwissenheit“ keinen Arzt, es sollte reichen, die Scheuklappen abzulegen und mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Die Kluft zwischen Reich und Arm wird weltweit immer größer? Pustekuchen, die einzige Bevölkerungsgruppe, die ständig weltweit wächst, ist der gut situierte Mittelstand. Katastrophenkrieg und Terrorismus nehmen ständig zu? Im Gegenteil, seit über 50 Jahren geht die Zahl der Katastrophentoten weltweit monoton zurück. Aber wenigstens unsere Gesundheit ist doch ruiniert? Auch hier Fehlanzeige – die weltweite Kindersterblichkeit ist auf ein Zehntel der Zahlen von vor 50 Jahren abgesunken, HIV-Infektionen nehmen ab, immer mehr Menschen haben Zugang zu trinkwassergeschützten Quellen, damit sind Seuchen aller Art, nicht nur in Deutschland, eine Sache der Vergangenheit. Und so weiter und so fort. Man muss nur einen Blick auf die Fakten werfen, und schon fällt ein großer Teil der grünen Angstpropaganda zusammen wie ein Kartenhaus.
Warum wird sie dann allen widersprechenden Fakten zum Trotz in der westlichen Welt und ich Deutschland sogar regierungsamtlich weiterhin so gern geglaubt? Mit dem Ergebnis, dass selbst Hochschulabsolventen bei den Umfragen, die Rosling regelmäßig vor seinen Vorträgen durchführte, schlechter abschneiden als Schimpansen, die zufällig eine Antwort ankreuzen? Wie viele Mädchen in der ärmeren Hälfte der Erde schließen heute erfolgreich die Grundschule ab? 20, 40 oder 60 Prozent? Politisch korrekt gepolte Zeitgenossen antworten mit großer Mehrheit 20 Prozent, denn es ist ja nur zu gut bekannt, wie man Frauen schon als Kinder weltweit unterdrückt. Die Wahrheit ist 60 Prozent. Die wurden in Roslings Umfrage von weniger als jedem Fünften angekreuzt. Bei den Schimpansen hätte jeder dritte die richtige Antwort gewusst. Und auch viele andere Fragen beantworten Roslings wohlhabende und wohlgebildete Hörer systematisch falsch, und zwar umso häufiger falsch, je gebildeter und besser situiert: Wird es im Jahr 2100 mehr Kinder unter 15 Jahren geben als heute? Mehrheitsantwort: Ja natürlich. In Wahrheit ist die Spitze des Kinderberges überschritten, ab jetzt geht es bergab. Und so weiter und so fort. Es scheint, wer keine Zeitung liest, hat einen Vorteil bei der korrekten Sicht auf unsere Welt, selbst Schimpansen sind hier besser dran.
Der „Instinkt der Negativität“
Diese teilweise erschütternde Diskrepanz zwischen wahrer und gefühlter Wirklichkeit ist aber auch zum Teil, so Rosling, genetisch programmiert. Mit dieser These folgt er einem anderen großen Aufklärer unserer Zeit, dem Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman, der ebenfalls die genetisch ererbte Verdrahtung unseres Gehirns für unsere Unfähigkeit verantwortlich macht, mit Zahlen und Fakten vernünftig umzugehen. Wieso beherrscht ein sechsjähriges Kind die kompliziertesten Regeln der deutschen Grammatik, macht aber mit 60 noch die gröbsten Fehler in der Bruchrechnung? (Ein Drittel mehr Geld? Nee, ich will wenigstens ein Viertel – so die berühmte Fußballerlegende zum ersten deutschen Italienprofi Horst Szymaniak). Weil eben besondere Fähigkeiten in der Bruchrechnung im Urwald keine positiven Selektionseffekte hatten.
Kommunikationsbegabung dagegen war höchst positiv für die genetische Selektion, wer mit seinem Stammesaffen nicht kommunizieren konnte, wurde nicht sehr alt. So kommt es dann zu dem, was Rosling als den „Instinkt der Kluft“ bezeichnet: Unsere ererbte und angeborene menschliche Tendenz, die Welt in schwarz und weiß zu teilen, in Gut und Böse, Freund und Feind. Wer hier im Urwald lange überlegte, tat das nicht sehr oft. Dass in Wahrheit die Masse sich nicht an den Rändern, sondern in der Mitte häuft, wird dabei übersehen. Ein weiterer ererbter genetischer Konstruktionsfehler ist der „Instinkt der Negativität“: Es wird alles immer schlechter. „Das ist eine jener Fragen, bei denen Menschen, je besser ihre Schulbildung ist, anscheinend ebenso unwissender sind.“ (S. 71). Das Vergessen und Verdrängen böser, bedrückender und Angst machender Erfahrungen scheint das Überleben im Urwald begünstigt zu haben. Und so wissen viele eben nicht mehr, wie dreckig es ihnen noch vor kurzer Zeit gegangen ist.
Insgesamt listet Rosling zehn „Instinkte“ auf, die unsere Sicht der Welt systematisch verzerren. Deren wahrer Zustand hänge im Wesentlichen, sei es direkt oder indirekt, vom realen materiellen Wohlstand ab. Die Lebenserwartung, die Säuglingssterblichkeit, die Wahrscheinlichkeit, durch eine Naturkatastrophe oder einen Unfall ums Leben zu kommen oder von einer giftigen Schlange gebissen zu werden, diese und viele andere Umstände unseres Lebens sind mehr als durch alle anderen Determinanten dadurch festgelegt, in welchem von vier konsekutiven Entwicklungsstadien sich eine Gesellschaft befindet:
- Stufe 1 ist die extreme Armut. Es gibt nicht immer genug zu essen, Kinder müssen arbeiten (sofern sie das Alter von sechs erreichen, die Säuglingssterblichkeit ist hoch, Frauen haben im Mittel im Leben fünf Kinder oder mehr). Noch vor 200 Jahren lebten im selbst im heute so reichen Europa mehr als drei Viertel der Menschen auf dieser Stufe. Real entspricht das einer Kaufkraft von einem Dollar oder weniger pro Tag. In diesem Umfeld hat Rosling als Entwicklungshelfer in verschiedenen Ländern diese Erde jahrelang gelebt.
- In Stufe 2 verfügt der Mensch über 4 Dollar am Tag. Man besitzt ein Fahrrad und einen Plastikeimer und kann schneller Wasser holen. Es gibt einen Gasherd, die Kinder können die Schule besuchen statt Holz zu sammeln. Wer Glück hat, bekommt einen Arbeitsplatz in einer örtlichen Textilfabrik und erhält als erster in der Familie einen festen Lohn.
- In Stufe 3 steigt das Einkommen auf 16 Dollar am Tag. Man arbeitet von morgens bis abends, sieben Tage die Woche, und kann sich einen Brunnen oder einen Kaltwasseranschluss leisten. Der Haushalt ist an das Stromnetz angeschlossen. Die Kinder können, falls clever genug, eine weiterführende Schule besuchen. Mittleres Lebensziel ist ein Motorrad, da erreicht man in der nächsten Stadt einen besseren Arbeitsplatz.
- Stufe 4 bedeutet 64 Dollar am Tag, nochmals das Vierfache. Man ist zehn Jahre oder länger in der Schule gewesen, hat ein Flugzeug von innen gesehen, geht einmal im Monat auswärts essen, ist krankenversichert und leistet sich ein Auto. Die Wohnung hat fließendes kaltes und warmes Wasser. Heute leben auf dieser Stufe weltweit eine Milliarde Menschen, genauso viele wie auf Stufe 1.
Die erste im Hause Rosling angeschaffte Waschmaschine
Aber auf dieser Stufe 1 (oder ihrem Steinzeitäquivalent) fing die komplette Menschheit einmal an, die Urgroßeltern vieler Leser dieses Buches haben sie noch am eigenen Leib erlebt. Sehr eindringlich schildert dies Rosling auf S. 265 in einer historischen Reminiszenz betreffend die erste im Hause Rosling angeschaffte Waschmaschine. Rosling war vier Jahre alt, seine Oma „hatte ihr ganzes Leben Brennholz erhitzen und die Wäsche mit Hand waschen müssen.“ Jetzt konnte sie miterleben, wie elektrischer Strom diese Arbeit übernahm. Sie war so begeistert, dass sie völlig hingerissen auf einem Stuhl vor der Maschine saß, um ja nichts von dem ganzen Waschzyklus zu verpassen. Und Roslings Mutter: „Also Hans, wir haben die Wäsche eingeladen. Jetzt wird die Maschine die Arbeit übernehmen. Und wir können in die Bücherei gehen.“
Heute können sich zwei Milliarden Menschen auf der Welt eine Waschmaschine leisten. Bald werden es vier Milliarden sein. Und es ist die geradezu atemberaubende Geschwindigkeit, mit der sich die Menschheit als Ganzes Richtung Stufe 4 bewegt, die all das Untergangs- und Kluft-wird-größer-Gefasel linker Ideologen als dummes Geschwätz entlarvt.
Aber das Geschwätz wird trotzdem immer lauter. Ein bisschen kommt mir Rosling deshalb wie ein Don Quijote vor. Die ideologisch gefestigte Dummheit steht wie ein Fels und ist nicht auszurotten. „Dass man seine Gegner mit gedruckten Gründen überzeugen kann, habe ich schon seit dem Jahr 1764 nicht mehr geglaubt,“ schreibt ein anderer großer Aufklärer, Georg Christoph Lichtenberg. Und liefert zugleich auch einen Grund, dennoch mit der Aufklärung nicht aufzuhören: „Ich habe auch deswegen die Feder gar nicht angesetzt, sondern bloß, um Sie zu ärgern, und von denen von unserer Seite Mut und Stärke zu geben und den Anderen zu erkennen zu geben, dass sie uns nicht überzeugt haben.“
Denn das ist gewiss: Die weltweite Panikmacher-Mafia wird sich über Rosling Buch gewaltig ärgern. Und die Vernunftfraktion wird Mut und Stärke schöpfen. Und das ist ja auch schon was. Für mich war bislang Daniel Kahnemans „Schnelles Denken – Langsames Denken“ das bisher beste Sachbuch des 3. Jahrtausends. Hier kommt starke Konkurrenz.
Hans Rosling (mit Anna Rosling Rönnlund und Olga Rosling): Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist., Berlin 2018, Ullstein, 393 Seiten, 24 Euro