Von Jesko Matthes.
„Spiegel Online“ meldet: Alles halb so schlimm. Die Anzahl echter islamistischer Gefährder könnte nur halb so groß sein, oder vielleicht sehr viel weniger als ein Drittel so groß, wie bisher vermutet. Von den 720 als potenzielle Terroristen eingestuften Personen dieses Kreises in Deutschland seien nämlich viele gar nicht so radikal oder gar nicht so fähig zu einem Anschlag. Dafür haben, so SPON, die Ermittlungsbehörden eine Art Ampelsystem eingeführt, die höchste Stufe ist wie immer rot, die mittlere gelb, die ungefährliche wahrscheinlich also grün. SPON erwähnt auch, dass dieses Ampelsystem dazu da ist, die gefährlichsten Gefährder unter den potenziellen Terroristen herauszufiltern, um Polizeiressourcen gezielt einsetzen zu können, weil sie nicht ausreichend vorhanden sind. Halten wir zunächst fest: Dieses Ampelsystem ist keineswegs dazu da, SPON-Leser in die Irre zu führen.
Rechnen wir einmal nach: Wie? Für die 24-Stunden-Überwachung eines Gefährders braucht man 24 Beamte? Klingt nach Kurzarbeit – ist es aber nicht. Drei Schichten Führung bedeuten 15 Leute, denn einer ist im Urlaub, einer ist krank, und der Rest muss in drei Schichten zu viert besetzt werden, einer ist der Chef, einer sein Vertreter, der Dritte kommuniziert und protokolliert, wie früher im Cockpit, dazu je ein Mann Führungs- und Einsatzreserve für akute Lagen – und zum Kaffeekochen. Von den restlichen neun Leuten hat auch einer Urlaub, einer ist krank, bleiben sieben. Die können die Überwachung dann in drei Schichten zu zweit, mit einem Mann zuhause in Rufbereitschaft, gerade so leisten, denn einer fährt das Auto, der andere observiert und fotografiert. Das ist also völlig realistisch. Jeder, der Dienstpläne schreibt, rechnet exakt so.
Rechnen wir aber auch ansonsten einmal nach: Terroristen müssen auch schlafen oder werden krank. Sie bleiben aber prinzipiell immer in Rufbereitschaft. Wir überlegen uns daher, dass von den 720 als islamistische Terrorgefährder eingestuften Personen einige, vielleicht mehr als die Hälfte, auf der Terror-Ampel „grün“ sein werden, reine Sympathisanten. Vielleicht gewähren sie den gefährlichen Gefährdern nur ihr Handy, ihren Laptop oder ihr Sofa zur Übernachtung, oder sie sind zufällig mit ihnen verheiratet, kochen ihnen ihr Essen und machen ihre Wohnungen sauber – völlig ungefährliche Leute also?
Dann wäre da die pessimistische Schätzung: Die Hälfte sind „rot“, zu Terror imstande, 360 Personen, macht 8640 Beamte für die 24-Stunden-Überwachung. Der „gelbe“ Rest macht nur das bisschen Logistik, er hält den Kontakt zur Führungsebene, spioniert die Terrorziele aus, transportiert und lagert die Waffen und den Sprengstoff, würde aber niemals selbst terroristisch tätig werden. Laut Analysesystem „Radar-ITE“ sind es aber nur noch 82 „rote“ Leute, die selbst dazu imstande wären, eine Bombe oder einen Sprengstoffgürtel zu bauen und zu zünden, Sturmgewehre einzusetzen oder kurzerhand einen Fernfahrer zu ermorden, um mit dessen LKW weitere Unschuldige umzubringen. Nur 82 Leute, für die eine 24-Stunden-Überwachung nötig ist: 1968 Beamte.
Sieben oder zweiundachtzig mögliche Anschläge?
Rechnen wir weiter: Macht das 82 mögliche Terroranschläge in den nächsten Monaten und Jahren? Das „Anis-Amri-Prinzip“, sozusagen? Vielleicht machen sie es ja doch zu zweit, dann sind es nur noch 41 Anschläge, oder zu dritt, dann wären es nur noch gut 27, oder in Grüppchen, wie in Paris, dann wären es nur noch sechs oder sieben Attentate. Wenn es weniger Attentate, aber mehr Attentäter pro Attentat sind, dann macht das allerdings deutlich mehr wahrscheinliche Opfer als bei einem Einzeltäter. Einige Attentate werden die überforderten Behörden dank Betonpollern oder ihres Ampelsystems am Ende sogar noch verhindern, vor allem jene Terroranschläge, die in Grüppchen erfolgen sollen, wenn man die Beamten zusätzlich – also: zusätzliche Beamte, dann insgesamt vielleicht 2500 – pro vermutetem Fall einsetzt, nicht pro vermutetem Attentäter.
Zu blöd, dass diese Strategie zu internem Kompetenzgerangel führen kann, und dass die potenziellen Gefährder aus Kriegsgebieten stammen oder von dort gelernt haben und alle diese taktischen Überlegungen daher kennen. Wohl exakt deshalb haben sie bereits geraume Zeit auf die asymmetrische Einzeltäterschaft umgestellt, die viel mehr Behördenressourcen bindet und sie an ihren Schnittstellen störanfälliger macht. Diese alte Partisanen- und Guerillataktik ist das „Anis-Amri-Prinzip“.
Alles „wohl nicht so gefährlich wie gedacht“? Das ist die Logik, mit der SPON uns die Bedarfsplanung personell und taktisch überforderter Sicherheitsorgane als seine Beruhigungspille verkaufen will. Und, wie pietätvoll von SPON, das am Vorabend des Tages getan zu haben, an dem sich das Attentat vom Berliner Breitscheidplatz zum ersten Male jährt.
Hier SPON noch einmal zum Nachlesen:.