Claas Relotius, Autor und Redakteur des „Spiegel“, mehrfach preisgekrönt für seine Reportagen, muss das Haus verlassen und die Redaktion musste eingestehen, dass der Mann, den der „Spiegel“ als „ein journalistisches Idol seiner Generation“ beschreibt, schlicht vollkommen erfundene Reportagen produziert hat. Im Artikel, mit dem sein bisheriger Arbeitgeber die Publikation von Fälschungen einräumt, heißt es freundlich, dass er „kein Reporter ist, sondern dass er schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt.“ Außerdem wird darauf verwiesen, dass nicht alles falsch war, was unter seinem Namen erschien: „ … manche Geschichten sind nach seinen eigenen Angaben sauber recherchiert und Fake-frei“.
Eine E-Mail vom 3. Dezember habe die Fake-Blase platzen lassen, wie der „Spiegel“ selbst schreibt: „Eine ‚Jan‘ meldet sich, das ist kurz für: Janet, sie macht die Pressearbeit für eine Bürgerwehr in Arizona, die entlang der Grenze zu Mexiko Streife auf eigene Faust läuft. Sie fragt Relotius, der über diese Bürgerwehr zwei Wochen zuvor in der dunkel schillernden SPIEGEL-Reportage „Jaegers Grenze“ geschrieben zu haben vorgab, wie das denn zugehe? Wie Relotius Artikel über ihre Gruppe verfassen könne, ohne für ein Interview vorbeizukommen? Und dass es doch sehr seltsam auf sie wirke, dass ein Journalist Geschichten schreibe, ohne vor Ort Fakten einzusammeln.“
Der ganze Beitrag stellt sich als Fälschung heraus, der offenbar noch weitere Fake-News-Enttarnungen gefolgt sind. Man fragt sich natürlich, warum beim Spiegel keiner merkt, wenn die eigenen Kollegen gar nicht an die Orte reisen, aus denen sie berichten. Vor dieser Frage stehen nun auch die Spiegel-Redakteure und suchen nach Antworten:
„Wenn Relotius schreibt, die kleine Stadt zähle „drei Kirchen, zwei Jagdklubs und eine Hauptstraße, die sich kilometerlang zwischen heruntergekommenen Flachbauten hinzieht“, wäre das dank der vielen Möglichkeiten des Internets wohl auch überprüfbar, aber hier geht es schon hinein in die Recherche des Journalisten vor Ort. Seine Arbeit basiert auf einem Grundvertrauen, das ihm die Redaktion zu Hause schenkt.“
„Wie ein Trauerfall in der Familie“
Könnte es nicht vielleicht auch sein, dass das Vertrauen dadurch gestärkt wurde, dass Relotius oft genau die Geschichten geliefert hat, die das richtige Weltbild bedienten? Und dann waren sie offenbar auch noch so gut geschrieben, dass man gar nichts hinterfragen mochte: „Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre“, schreibt der Spiegel selbst. Vielleicht ist in Zeiten, in denen selbst in Verbandszeitschriften der Journalisten dafür geworben wird, vor allem auf das Zeigen der richtigen Haltung und weniger auf die Recherche zu achten, die Verbreitung guter Fake-News besonders leicht.
Verständlich, dass in der Spiegel-Redaktion nun schwere Betroffenheit herrscht, vor allem, weil sich die Kollegen dort in einer ungewohnten Rolle befinden. Statt anzuklagen müssen sie zunächst Reue zeigen:
„Diese Enthüllung, die einer Selbstanzeige gleichkommt, ist für den SPIEGEL, für seine Redaktion, seine Dokumentationsabteilung, seinen Verlag, sie ist für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Schock. Die Kolleginnen und Kollegen sind tief erschüttert. Auf dem Flur im neunten Stock des SPIEGEL-Hauses, auf dem Relotius‘ Zimmer 09-161 lag, sind Belegschaft und Leitung des Gesellschaftsressorts, in dem er arbeitete, fassungslos und traurig. Ein Kollege, der viel mit Relotius‘ Texten zu tun hatte, sagte Anfang dieser Woche, die Affäre fühle sich an ‚wie ein Trauerfall in der Familie‘.“
Zu diesem Trauerfall können wir nur unser Beileid aussprechen. Fehler unterlaufen einem leider zumeist dort, wo man es nicht erwartet. Aber man kann ja aus ihnen lernen. Beispielsweise auch die am besten weltbildkonformen Geschichten wieder kritischer zu hinterfragen und Fakten, die nicht so recht weltbildkompatibel sein wollen, dennoch als Teil der Wirklichkeit anzuerkennen und so zu behandeln. Recherche ist eben doch wichtiger als Haltung, zumindest im journalistischen Gewerk.
Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de