Ohne stabile parlamentarische Mehrheit bleibt Frankreich wohl auch mit einem neuen Premierminister unregierbar. Schielt Macron etwa nach dem Artikel 16 der Verfassung, der ihm im Falle einer "Bedrohung der Sicherheit" Macht wie einem absoluten Monarchen geben würde?
Am Donnerstag, dem 5. Dezember, dem Vorabend des Nikolaus-Tages und wenige Tage vor der feierlichen Re-Inauguration des Wahrzeichens Notre Dame de Paris, sollten große Teile der öffentlichen Dienste Frankreichs (einschließlich der Schulen und Flughäfen) durch Massenstreiks einer gewerkschaftlichen Einheitsfront lahmgelegt werden. Die stark politisierten Gewerkschaften hatten eifrig dafür getrommelt. Und es nahmen dann nach den Angaben des Ministeriums für den öffentlichen Dienst immerhin fast 250.000 Staatsbeamte und Angestellte am Streik teil. Das war allerdings weniger als von den Organisatoren erhofft. Besonders hoch war die Streikbeteiligung im staatlichen Erziehungswesen, wo fast ein Viertel des Lehrpersonals streikte. Außer dem üblichen Ärger lohnabhängiger Eltern über unfreiwillige Urlaubstage für die Kinderbetreuung hat dieser aber nichts bewirken können.
Gegen welche Regierung sollten die Kollegen und Genossen auch kämpfen? Wurde doch dem von Präsident Emmanuel Macron bestallten Verlegenheitskandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten Michel Barnier am 4. Dezember spätabends durch die absolute Mehrheit der Nationalversammlung das Misstrauen ausgesprochen. Und zwar infolge des eigentlich wenig wahrscheinlichen Zusammengehens der Fraktionen der ultralinken Bewegung „La France Insoumise (LFI)“, der Sozialisten (PS) und Grünen sowie des “Rassemblement National (RN)“ von Marine Le Pen.
Barnier musste am 5. November im Elysée-Palast seinen Rücktritt einreichen. Die über Monate mühsam zusammengestoppelte Regierung Barniers ohne parlamentarische Mehrheit wird die laufenden Geschäfte noch so lange erledigen, bis Macron einen neuen Ministerpräsidenten gefunden hat. Resultat: Frankreich steht kurz vor Weihnachten 2024 ohne Regierung und ohne Staatshaushalt da, was manche übrigens nicht tragisch finden.
Die Berater Macrons zimmerten eine „republikanische Front“
Macron ist allerdings selbst daran schuld, dass es trotz des Mehrheitswahlrechts in zwei Wahlgängen, das normalerweise im Parlament für klare Mehrheitsverhältnisse sorgt, zum Chaos kam, weil er am 9. Juni nach den für seine Anhänger verlorenen EU-Wahlen überraschend die Nationalversammlung auflöste und damit schlecht vorbereitete Neuwahlen zur Sommerzeit auslöste.
Die wie Parias behandelten Politikerinnen und Politiker des RN hätten dabei nach übereinstimmender Einschätzung der politischen Beobachter reale Chancen gehabt, in der Pariser Nationalversammlung die absolute Mehrheit zu gewinnen. Um das zu verhindern, zimmerten die Berater Macrons eine „republikanische Front“, um das RN in der Stichwahl um den Sieg zu bringen. Dabei schreckten selbst bourgeoise Kandidaten der Macron-Bewegung nicht davor zurück, sich zugunsten der Kandidaten des Trotzkisten Jean-Luc Mélenchons (LFI) zurückzuziehen, um dem RN den Weg zur parlamentarischen Mehrheit zu versperren. Unter den Kandidaten der LFI befanden sich auch polizeibekannte Gewalttäter der Antifa.
Resultat: Trotz ihrer 11 Millionen Stimmen im ersten Wahlgang befinden sich die Angeordneten des RN im Parlament hinter der LFI und der Regierungspartei auf dem dritten Platz. Es gibt keine Regierungsmehrheit. Deshalb dauerte die Suche nach einem Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten, der bereit war, es mit einer Minderheitsregierung zu versuchen, ein Vierteljahr. Für diesen Versuch fand sich schließlich der als seriös geltende Michel Barnier bereit.
Frankreich zahlt größere Risko-Aufschläge als Griechenland
Macron hatte den Mann im Rentenalter aus Savoyen offenbar mit Bedacht ausgewählt, denn der ehemalige EU-Kommissar, der mit einigem Geschick den Brexit ausgehandelt hat, gehört nicht der engeren Pariser Blase an und schien als Mitglied der gemäßigt konservativen Republikaner (LP) mit einer gewissen Distanz zur Macron-Partei „Renaissance“ reale Chancen zu haben, einen parteiübergreifenden Konsens über die Lösung der sich zuspitzenden Finanzkrise einfädeln zu können. Das Defizit des französischen Staatshaushaltes wird im kommenden Jahr 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) locker überschreiten. Die akkumulierten Staatsschulden belaufen sich schon jetzt auf 112 Prozent des BIP. Das Land zahlt am Finanzmarkt nun größere Risko-Aufschläge als Griechenland. Das will einiges heißen. Der aufgeblähte Sozialstaat muss offenbar schrumpfen, um das Vertrauen wichtiger Investoren zurückzugewinnen.
Doch da liegt der Hase im Pfeffer. Franzosen, denen der gesunde Menschenverstand nicht abhandengekommen ist, warten schon seit mindestens 40 Jahren auf grundlegende Reformen des staatlichen Systems der sozialen Sicherung, dessen Grundzüge mit dem Segen der kommunistischen Gewerkschaft CGT von der Kollaborationsregierung Maréchal Pétains 1941 unter der Nazi-Besatzung eingeführt wurde. Vorher waren dafür in Frankreich private Kranken- und Rentenversicherungen zuständig. Im täglichen Leben wird offenbar, dass die politische Mentalität der meisten Franzosen immer noch stark von der scheinbar siegreichen gewaltsamen Revolution von 1789 bis 1795 geprägt ist, obwohl es noch immer eine monarchistische Minderheit katholischen Glaubens gibt.
Die meisten Franzosen sehen sozialen Fortschritt nicht als Ergebnis steigender Arbeitsproduktivität beziehungsweise als Lohn für die Übernahme unternehmerischer Risiken durch mutige Personen, sondern als Resultat erpresserischer Massenproteste, Streiks und Blockade-Aktionen. Nicht wenige einfache Leute sind bereit, für ihre mehr oder weniger berechtigten Forderungen und manchmal schon aus purem Ärger über Kleinigkeiten auf die Straße zu gehen. Viele deutsche Demokraten finden das sympathisch, weil sich unsere Nachbarn jenseits des Rheins offenbar weniger gefallen lassen als die tendenziell grenzenlos leichtgläubigen und leidensfähigen Deutschen.
Mangelnde Reformfähigkeit des französischen Zentralismus
Doch liegt dem Demokratieverständnis vieler Franzosen meines Erachtens ein Missverständnis zugrunde. Seit der öffentlichen Hinrichtung (die Monarchisten sprechen von Ermordung) des letzten Königs Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 verstehen viele, wenn nicht die meisten Franzosen die Republik als umgedrehte Monarchie, in der für demokratisch legitimierte Gegengewalten nach dem Vorbild des amerikanischen Systems der Checks and Balanciers wenig Platz ist. Daraus resultiert die mangelnde Reformfähigkeit des französischen Zentralismus nach jakobinischem Vorbild.
Es bedurfte seither jeweils mehr oder weniger großer Revolutionen, um das mit Rousseaus „Volonté générale“ begründete politische System an neue Herausforderungen anzupassen. Dabei war eine zeitweilige Rückkehr zu monarchischen bzw. imperialen Herrschaftsformen bekanntlich kein Tabu. Neuere Versuche, die Verwaltung des durchbürokratisierten Zentralstaates zu dezentralisieren, kamen denn auch nicht weit. Sie schufen nur zusätzliche Posten und Pöstchen für mehr ideologisch-politisch als fachlich Qualifizierte. (Der beeindruckende Erfolg der Wiederherstellung des abgebrannten Heiligtums Notre Dame de Paris in nur fünf Jahren war nur möglich, weil die französische politische Klasse aus Prestigegründen vorübergehend viele bürokratische Reglungen fallen ließ und qualifizierten Architekten und Handwerkern das Feld überließ.)
Nicht zufällig verbreitete sich im französischen System bald die Unsitte, erpresserische Volksbewegungen mit politischen Zugeständnissen zu beruhigen, die auf Pump beziehungsweise durch die Notenpresse finanziert wurden und dadurch die Inflation anheizten. Auch in Deutschland gibt es heute diese Unsitte. Aber Ludwig Erhards marktwirtschaftliche Reformen von 1948/49 wirkten lange als Bremse, weil sie Wohlstand für alle ohne Erpressung verhießen und über längere Zeit auch ermöglichten. Über weite Strecken der Nachkriegszeit eilte die Inflation des Franc der stabilen D-Mark weit voraus.
Charles de Gaulle konnte diese Entwicklung mit der Einführung einer Wahl-Monarchie durch die Verfassung der V. Republik und mit der damit verbundenen Währungsreform nicht einmal ein Jahrzehnt lang aufhalten. Spätestens mit den von gewalttätigen Studentenprotesten begleiteten Massenstreiks von 1968 war alles vorbei. Politische Zugeständnisse wurden von den vergleichsweise schwachen, aber staatlich subventionierten (und korrumpierten) Gewerkschaften als demokratische Errungenschaften gefeiert und deren Ergebnisse zu fundamentalen Menschenrechten umgedeutet.
Selbst Teenager streiken für die Rente mit 60
So geschehen bei der Einführung der 35-Stunden-Woche, die heute trotz ihrer schädlichen Wirkung auf die Wirtschaft nur von einer Minderheit infrage gestellt wird. Eine weitere zum Menschenrecht erklärte „Errungenschaft“ ist die von der Linksunion von Sozialisten und Kommunisten unter Staatspräsident François Mitterand schon in den 1980er Jahren eingeführte Senkung des Rentenalters auf 60 Jahre. Der von Emmanuel Macron 2017 mithilfe einer Intrige geschlagene katholische Präsidentschaftskandidat François Fillon wagte es als Premierminister unter dem Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007–2012) als erster, daran zu rütteln und setzte das Rentenalter auf 62 Jahre herauf. Sarkozys sozialistischer Amtsnachfolger François Hollande wagte nicht, daran zu rütteln. In der ersten Amtszeit des heutigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron erfolgte dann die Heraufsetzung des Rentenalters auf 64 Jahre. Doch die wird von einer parteiübergreifenden Mehrheit der Franzosen nicht akzeptiert.
Heute fordern die Gewerkschaften zusammen mit den Linksparteien und dem RN einhellig die sofortige Rücknahme der unter Macron verfügten Heraufsetzung des Rentenalters als Zwischenschritt für die Rückkehr zur Rente mit 60. Die Renten sind zum Hauptthema der französischen Politik geworden – weit vor der Sorge um den Klimawandel. Selbst Teenager streiken für die Rente mit 60. Unter diesen Umständen hatte Michel Barnier kaum Chancen, das von ihm ausgehandelte äußerst moderate Sparprogramm durchs Parlament zu bringen. Das RN, dessen Stillhalten es bis dahin Michel Barnier erlaubten, ohne parlamentarische Mehrheit zu regieren, schloss sich am 5. Dezember dem Misstrauens-Votum der zur „neuen Volksfront (NFP)“ erweiterten LFI an.
Nun ist Macron auf der Suche nach einem neuen Premierminister. Diesmal wird er sich damit nicht lange Zeit lassen können. Als diese Zeilen geschrieben wurden, waren Macrons Verhandlungen mit allen Parteien außer der LFI, die die Einladung Macrons nicht annahm, bereits so weit gediehen, dass die Ernennung eines neuen Premierministers nur noch eine Frage von Stunden zu sein schien.
Ohne stabile parlamentarische Mehrheit bliebe Frankreich allerdings grundsätzlich unregierbar. Neue Regierungen würden, mit Misstrauens-Voten konfrontiert, nur wenige Monate lang halten. Emmanuel Macron weiß das selbstverständlich. Manche verdächtigen Macron deshalb, nach dem Artikel 16 der Verfassung von 1958 zu schielen. Dieser gäbe ihm im Falle einer Bedrohung der Sicherheit wie einem absoluten Monarchen unbeschränkte Machtbefugnisse. Begründungen wären bei Bedarf wohl rasch zu Hand.
Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbstständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. Er ist In Deutschland und Frankreich als Autor und Strategieberater tätig.