Peter Grimm / 22.01.2018 / 06:29 / Foto: Angel Aroca Escamez / 29 / Seite ausdrucken

SPD nach dem Parteitag: Es quietscht

Als der SPD-Vorsitzende noch Sigmar Gabriel hieß, da staunten Beobachter wie Genossen, wie schnell der Parteichef von einer Position in die entgegengesetzte wechseln konnte. Nicht nur die Partei kam da meist schwer hinterher, auch Funktionäre und Führungspersonal wussten oft nicht, ob nun beispielsweise im Umgang mit den gescholtenen Rechtspopulisten gerade galt, dass sie als „Pack“ abzukanzeln sind oder dass man mit den Menschen, die gegen die massenhafte Zuwanderung auf die Straße gehen, reden müsse.

Das war eine andere Zeit, dazwischen liegt eine Personalrochade, die den Genossen Gabriel ins Auswärtige Amt sowie Martin Schulz mit 100 Prozent der damaligen Delegiertenstimmen in den Parteivorsitz beförderte und dennoch in eine rekordverdächtig deutlich verlorene Bundestagswahl mündete.

In einem Punkt aber hat die Partei in der Schulz-Ära einen Entwicklungssprung nach vorn gemacht. Wenn heute der Parteivorsitzende das genaue Gegenteil dessen vertritt, was er noch vor einem Vierteljahr in Entschlossenheits-Pose verteidigte, dann spielen Funktionäre und Führungspersonal konsequent mit. Selbst Andrea Nahles ist für jeden Positionswechsel zu haben.

Verkündete der Genosse Vorsitzende, dass die SPD niemals eine neue Regierung Merkel unterstützen werde und mutig in die Opposition gehen werde, stärkte ihn die neue Fraktionsvorsitzende mit dem Kampfruf, eine unionsgeführte Regierung bekäme von ihrer entschlossenen Opposition nun „auf die Fresse“. Das galt auch noch, als Martin Schulz kurz nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen mutig deklamierte, er hätte keine Angst vor Neuwahlen.

Keine Angst vor Wahlen, aber vor den Wählern?

Vielleicht kam der Sinneswandel, als er zusammen mit den anderen Genossen im Bundestag darüber nachdachte, dass sie nach Neuwahlen wahrscheinlich noch weniger Sitze im Hohen Hause beanspruchen dürften und noch weniger aufstrebenden Genossen Lohn und Brot als Mitarbeiter geboten werden könnte. Man ist schließlich verantwortlich für die Seinen und auch auf dem sonntäglichen Koalitonsverhandlungs-Entscheidungsparteitag hieß es ja oft, dass es gilt, das Mögliche zu tun, wenn man die Lebensbedingungen von Menschen verbessern könne. Nein, das Letzte war etwas zu unernst. Vielmehr wird sich Genosse Schulz wohl Gedanken um seine eigene Zukunft gemacht haben. Noch einmal als Spitzenkandidat kann er nicht furios verlieren und anschließend im Amt bleiben, obwohl sich Maßstäbe für Rücktritte schon extrem verschoben haben.

Als der frühere Genosse Hundertprozent dann mit gepresster Stimme, als läge gerade die Verantwortung für den gesamten Kontinent auf seinen Schultern, erklärte, aus Verantwortung für das Land in ergebnisoffene Sondierungsgespräche mit jener Kanzlerin einzutreten, mit der er nie wieder regieren wollte, bekam er von der Genossin Nahles eine besonders schöne Untermalung. Um den Genossen zu zeigen, wie selbstbewusst sie in ergebnisoffene Gespräche eintritt, rief sie mit dreifachem „Bätschi“, ohne die SPD gehe nun einmal nichts.

Und jetzt? Angst vor Neuwahlen? Auf dem sonntäglichen Entscheidungsparteitag über Koalitionsverhandlungen hieß es von der Frau, die bei früheren Parteivorsitzenden eher querschoss, sie hätte zwar keine Angst vor Neuwahlen, aber Angst vor den Fragen, die ihr die Wähler stellen würden, wenn es denn zu Neuwahlen käme.

Taschenspielertrick mit Formelkompromiss

Nun wurde also am Sonntag entschieden. Und auch, wenn die gesamte Funktionärselite der Partei, vom Vorsitzenden über die Fraktionsvorsitzende, amtierende Minister, Ministerpräsidenten, Landesvorsitzende bis hin zum DGB-Chef auf die Vertreter des skeptischen Parteivolks in verschiedenen Tonarten einredeten, stimmten 279 der 642 gegen Koalitionsverhandlungen. Die Möchtegern-Koalitionäre mögen sich als Sieger gefühlt haben, obwohl ihnen eigentlich nur ein lächerlicher Taschenspielertrick mit einem Formelkompromiss gelungen war.

Stunden vor Parteitagsbeginn wurde, angeblich auf Druck kritischer Landesverbände, der Beschlussantrag um konkrete Verhandlungsziele erweitert. Das klang ein wenig so, als ob die SPD gerade mit sich selbst eine Koalitionsvereinbarung ausgehandelt hatte. Und auffällig viele Befürworter von Koalitionsverhandlungen kleideten ihre Zustimmung in Kritik an Union und „Großer Koalition“, um möglichst viele Genossen einzufangen, denen der neue Kurs zwar nicht schmeckt, die aber auch ihren glücklosen Vorsitzenden nicht zum Rücktritt und die Partei zu desaströsen Neuwahlen nötigen wollen. Die Angst vor dem Wähler ließ letztlich etliche Delegierte den Weg in die Vorstands-Wagenburg suchen.

Welche Interpretationskünste werden die Spitzengenossen wohl nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen aufbieten? Jetzt schafften sie es mit ihrem selbst geschmiedeten Formelkompromiss noch halbwegs, den Parteitag zu überstehen. Doch wie sollen sie die erwartbaren Formelkompromisse im Koalitionsvertrag mit der Union bei der eigenen Basis durchbekommen? Immerhin muss das Koalitionspapier ja so formuliert sein, dass damit auch „der blöde Dobrindt“ (O-Ton Andrea Nahles) mit seinen Parteifreunden vor die bayerischen Wähler treten kann.

Glaubensfragen auf 28 Seiten?

Die Interpretationskünste lassen vor allem deshalb noch einige Pirouetten erwarten, weil schon im Sondierungspapier nach Ansicht der Spitzengenossen gar nicht das drinsteht, was andere darin gelesen haben wollen. Beispielsweise die Obergrenze für Zuwanderung, die vor allem von etlichen koalitionskritischen Jusos kritisiert wurde. Die steht gar nicht drin, sagen die Spitzengenossen. Das behaupteten nur die Unionspolitiker. „Glaubt Ihr etwa Dobrindt mehr als mir? Es gibt keine Obergrenze“, sagt Andrea Nahles. Und Ralf Stegner ergänzt, dass er sich doch niemals auf so etwas wie eine Obergrenze eingelassen hätte. Ginge es nicht um eine wirkliche Schicksalsfrage für Deutschland, könnte man sich ob der Lächerlichkeit solcher Aussagen amüsieren. Denn was in dem 28-seitigen Sondierungspapier steht, ist keine Glaubensfrage, man kann es einfach nachlesen. Und was findet man? Einen Obergrenz-Korridor – mit in der Tat viel zu hohen Zahlen – der aber nicht so heißt.

Nun sind dort, wo schon bei der Lektüre eines 28-seitigen Papiers mit eher simplen Aussagen die Glaubensfragen aufgerufen werden, vielleicht nicht die Beiträge mit dem allergrößten Tiefgang zu erwarten. Nachdem der Fortgang der Ereignisse beschlossen ist, kann man trotzdem ein paar große Worte des Vorsitzenden nachklingen lassen.

Damit, dass diese nicht gerade von Spitzenrhetorik gekrönte Zusammenkunft ein „Schlüsselmoment in der jüngeren Geschichte unserer Partei“ ist, hat Martin Schulz sicher recht. Den Niedergang der einst stolzen Partei hat er sicher beschleunigt. Aber der Vorsteher der deutschen Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts glänzt in seinem Schlusswort mit Erklärungen dafür, dass er nun unbedingt in die Regierung eintreten muss. Er kann gar nichts dafür: „Nicht wir haben diese demokratische Ausnahmesituation herbeigeführt, es war die Jamaikakoalition.“ 

Das klingt, als sei das Ende der Jamaika-Verhandlungen für ihn so überraschend gekommen, wie der Winter für die Deutsche Bahn. Niemand erinnert sich mehr an die Äußerungen des vormaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann. Als Schulz noch den kämpferischen Oppositionspolitiker spielen und Andrea Nahles es der Regierung „auf die Fresse“ geben wollte, schlug ihr Amtsvorgänger vor, nach dem absehbaren Jamaika-Scheitern zu Koalitionsgesprächen unter der Bedingung eines Neuanfangs mit einem anderen Kanzler bereit zu sein.

Was passiert, wenn es quietscht?

Doch Schulz mochte diesen Preis nicht einfordern, denn dem Sog eines einsetzenden Rücktrittsreigens von Wahlverlierern hätte er sich nicht entziehen können. Das treibt ja die meisten Granden der alten und neuen Koalitionspartner. Nur wenn sie zusammen regieren, können sie halbwegs sicher auf ihren Posten bleiben. Also werden sie das tun, koste es, was es wolle. Natürlich geht die aktuell passende Schulz-Sprechblase so: „Ich glaube, dass das der mutigere Weg ist, in eine Regierung zu gehen.“

In einer Lautstärke, als müsste sie einen riesigen Sportpalast beschallen, kündigt Andrea Nahles nun an: „Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.“ Wenn SPD-Führungspersonal ankündigt, in Regierungsverantwortung etwas zu tun, „bis es quietscht“, dann kann einem schon etwas mulmig werden. Klaus Wowereit hatte 2001 am Beginn seiner Amtszeit angekündigt, er würde sparen, bis es quietscht. Als er abtrat, setzte Berlin mit scheiternden Großprojekten, wie dem BER, Milliarden in den Sand, war die einst gut funktionierende Verkehrsinfrastruktur verschlissen und die Verwaltung in weitgehendes Versagen umstrukturiert worden. Eine Koalition im Bund um jeden Preis, bis es quietscht, lässt leider nichts Besseres erwarten.

Aber um nicht in düsteren Zukunftsvisionen zu versinken, kann man ja lieber den Unterhaltungswert des SPD-Parteitags noch etwas nachschmecken. Heiko Maas wirkte bei seiner Ansprache fast so, als wäre es ihm peinlich, sich selbst zu widersprechen. Seine Pirouette macht geradezu schwindelig und klang folgendermaßen: Nur deshalb in die Opposition zu gehen, um zu verhindern, dass die AfD die Oppositionsführerschaft innehätte, sei falsch.

Genau damit hatten die Genossen aber im Herbst begründet, warum man aus staatspolitischer Verantwortung jede Regierungsbeteiligung ablehnen müsse. Dummerweise sind solche alten Zitate noch überall abrufbar. Aber vielleicht kann Heiko Maas da ja was gegen tun, wenn er weiterhin Zensurminister bleiben darf.

Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

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Leserpost

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Bärbel Schneider / 22.01.2018

Wozu sich wegen irgendwelcher Koalitionsvereinbarungen aufregen? Merkel hat gezeigt, dass sie auch diese locker bricht.

Hjalmar Kreutzer / 22.01.2018

Sehr geehrter Herr Grimm, vielen Dank. Der öffentlich-rechtliche Fernsehkonsument und Qualitäts-Zeitungsleser hat es doch begriffen: Am besten wählte man mit 33% Union und 20,5% SPD das bewährte „weiter so!“ Wenn man mit der bisherigen Entwicklung so gar nicht einverstanden war, hatte man in allerletzter Minute noch ganz schnell die FDP zur Auswahl, aber auf gar keinen Fall die üblen rechten Gottseibeiunse, neben denen ein anständiger Parlamentarier nicht einmal sitzen mag. Andernfalls drohen die Zehn Biblischen Plagen, der Untergang Deutschlands und Europas, gar des Weltfriedens. Die Sitzordnung schien ja in den ersten Tagen des neugewählten Bundestages das gravierendste Problem der Republik zu sein. Aktuell hat der o.a. Fernsehzuschauer und Zeitungsleser gefälligst endlich eine stabile Mehrheitsregierung herbei zu sehnen, andernfalls drohen… Wer die Politik bestimmt und wer auszuführen hat, scheint in Vergessenheit zu geraten. Wie nach der Abwahl von Rot-Grün, soll auch jetzt der Wahlverlierer den Kohabitationsvertrag diktieren, wenn man am Anfang auch noch ein bißchen Opposition bei gleichzeitiger Geschaftsführender Mitregierung spielte. Abgesehen von diesen taktischen Spielchen von Oppositions-Schulz und Auf-die-Fresse-Nahles bekommen also 53,5% des Wahlvolks das Gewünschte. Kein Mitleid.

Roland Müller / 22.01.2018

Die Genossen haben die nächste Klatsche an der Wahlurne nur ein bisschen aufgeschoben. Wer Punkte aushandeln will bis es quietscht, von der die meisten Wähler nichts halten bzw. sich gar nicht dafür interessieren, dem ist nicht mehr zu helfen.

Wolfgang Lang / 22.01.2018

Ja dem Heiko, eine intellektuelle Leuchte vor dem Herrn, werden noch mehr seiner eigenen Zitate auf die Füße fallen. Geschieht ihm Recht.

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