"Manifest" nennen namhafte SPD-Genossen ihr Papier, das ihre eigene Regierung in Bedrängnis bringt und großspurig vorgibt, den Weg zum Frieden mit Russland zu kennen. Sie sollten in ihrem ideologischen Illusionstheater nicht mit Krieg und Frieden spielen.
Es kommt nicht oft vor, dass ein paar Seiten Papier (im Wortlaut hier) ein so scharfes Licht auf den inneren Zustand einer Regierungspartei werfen. Doch genau das leistet das „Manifest“ der „SPD-Friedensinitiative“: ein Dokument der politischen Weltfremdheit, verfasst in wohlklingenden Worten, aber getragen von einem gefährlichen Mangel an Realitätssinn.
Die Forderung: Mehr Diplomatie mit Russland, weniger Aufrüstung, ein Umdenken in der Außenpolitik. Der unvermeidliche Subtext: Die Rückkehr zu einer Politik der Annäherung – so, wie es einst Willy Brandt und Egon Bahr formulieren konnten. Was damals „Wandel durch Annäherung“ genannt wurde, soll heute als Rezept anscheinend wiederbelebt werden. Diese historische Referenz soll dem Ganzen Tiefe und Würde verleihen.
Doch die Suggestion dieser Parallele ist fehl am Platz – nicht, weil Brandts Ostpolitik in ihrer Zeit falsch gewesen wäre, sondern weil wir nicht mehr in den 1970er Jahren leben und der Westen und seine Bündnisse nicht mehr aus einer Position der Stärke, sondern aus der Unsicherheit multipler gesellschaftlicher Paradigmenwechsel agieren. Der Zweifel sitzt tief, ob das eigene Handeln überhaupt noch dazu taugt, den Beißreflexen des russischen Präsidenten wirksam auszuweichen oder sie zu parieren.
Putin will gewinnen, nicht ausgleichen
Brandt und Bahr handelten mit einem rationalen, berechenbaren Systemgegner, der eine gewisse geopolitische Stabilität anerkannte. Der Kreml unter Putin jedoch agiert heute fundamental anders: revisionistisch, aggressiv, ohne Interesse an einem Ausgleich. Wer glaubt, ein heutiger deutscher Kanzler könne mit Wladimir Putin denselben Weg beschreiten wie Brandt mit Breschnew, hat entweder nichts verstanden – oder will nichts verstehen.
Heftigste Drohnenangriffe auf ukrainische Städte, die nicht auf militärische, sondern auf zivile Infrastruktur zielen, zeigen zu deutlich, wonach es Putin ist. Nämlich seinen Ansprüchen auf ein autoritäres, russisches Großreich geostrategischen Raum zu verschaffen und dabei keinerlei Rücksicht zu nehmen, noch nicht einmal auf die eigenen Soldaten oder die weltpolitische Stellung seines Landes. Im Gegensatz zum Westen und Deutschland ist Putin – nicht gleichzusetzen mit „Russland“ – absolut entschlossen.
Und genau hier liegt der gefährlichste Denkfehler des Manifests: Es unterstellt, dass Putin grundsätzlich an einem Frieden interessiert sei. Dass man ihn mit Gesprächsangeboten, gegenseitigem Verständnis und sicherheitspolitischen Zugeständnissen zu Kompromissen bewegen könne. Das ist, mit Verlaub, eine Illusion – und eine, die katastrophal enden kann. Putin will gewinnen, nicht ausgleichen.
Ein intellektueller Fehltritt
Denn Putin geht es nicht um einen „gerechten Frieden“ oder eine Sicherheitsarchitektur auf Augenhöhe. Seine Agenda ist offen formuliert: die Wiederherstellung der geopolitischen Stellung Russlands vor dem Zerfall der Sowjetunion. Gemeint ist damit nicht nur die Kontrolle über die Ukraine, sondern auch der Einfluss über ganz Osteuropa – inklusive einer dauerhaften Schwächung westlicher Bündnisse wie NATO und EU. Das ist keine Strategie zur Friedenssicherung, sondern zur Reimperialisierung.
Auch der Sowjetunion ging es in der Zeit der Entspannungspolitik nicht um Friedenssicherung, sondern um die Sicherung des eigenen Machtbereichs. Aber der Westen war zu stark, um in Moskau die Versuchung zu wecken, diesen mit militärischen Mitteln auszudehnen. Da war der Handel miteinander in „friedlicher Koexistenz“, wie es die Propaganda gern nannte, einfach lohnender.
Und dass sich Entspannung mit demonstrativer Stärke verbinden lässt, verkörpert in Deutschland wohl niemand besser als der damalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Bundesrepublik machte Geschäfte mit Moskau, aber dennoch focht Schmidt politisch den Kurs der NATO-Nachrüstung durch, vor allem gegen seine eigene Partei. Und die Geschichte gab ihm mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Osten recht.
Vor diesem Hintergrund wirkt das Manifest nicht nur als das naive Werk von sogenannten „Putin-Verstehern“, sondern es ist brandgefährlich. Es verkennt die Realität des 21. Jahrhunderts, verklärt historische Modelle und ermutigt letztlich eine Appeasement-Politik, die Putin als Schwäche auslegen wird. Und das wäre nicht das erste Mal, dass er Schwäche nutzt, um Fakten zu schaffen.
Doch das alles wäre bloß ein intellektueller Fehltritt, wenn es sich um eine private Meinungsäußerung handelte. Tatsächlich aber kommt dieses Manifest aus dem Herzen der SPD – der Partei, die mit in der Bundesregierung sitzt, in der Koalition unter Bundeskanzler Friedrich Merz. Und obendrein findet es einhelligen Beifall an beiden Rändern des politischen Spektrums, was noch für tiefe Sorgenfalten am Kabinettstisch sorgen könnte.
In Grundsatzfragen wie Krieg und Frieden
Die CDU hat sich in dieser Regierung eindeutig positioniert: klare Solidarität mit der Ukraine, Bekenntnis zur NATO, zur Wehrhaftigkeit, zur geopolitischen Verantwortung. Die SPD – zumindest auf offizieller Ebene – stützt diesen Kurs bisher mit (Verteidigungsminister Boris Pistorius lässt an der gemeinsamen Regierungslinie keinen Zweifel aufkommen). Doch wenn nun ein organisierter Flügel der SPD öffentlich Gegenteiliges fordert, entsteht ein Zustand, den man nicht anders als einen koalitionspolitischen Vertrauensbruch bezeichnen kann.
Die Grünen sind ohnehin außenpolitisch kompromisslos aufgestellt. Die FDP ist nicht mehr im Bundestag. Umso wichtiger wäre es, dass die beiden verbleibenden Regierungsparteien in Grundsatzfragen wie Krieg und Frieden eine gemeinsame Linie vertreten. Das Manifest durchkreuzt diesen Konsens – nicht leise im Hinterzimmer, sondern lautstark und öffentlichkeitswirksam.
Für Friedrich Merz ist das eine Bewährungsprobe. Der Kanzler kann es sich nicht leisten, in Fragen der nationalen Sicherheit als Moderator zwischen zwei außenpolitischen Weltbildern aufzutreten, wie es sein Vorgänger tat. Er muss führen. Und Führung heißt in diesem Fall: Der SPD unmissverständlich klarzumachen, dass Nostalgiepolitik im Angesicht massiver russischer Drohnenangriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung keine Regierungsgrundlage ist. Und dennoch erklärt er den Casus zunächst zu einer Art internen Sache der SPD, indem er sie an Lars Klingbeil, nicht in seiner Funktion als Regierungs-Vize, sondern als SPD-Bundesvorsitzenden zurückgibt, so als hätte das alles keine Implikationen auf die Gemengelage in der Regierungskoalition.
Denn wenn dieses Manifest mehr wird als nur eine Meinungsäußerung – wenn es programmatisch wirksam wird –, dann steht nicht weniger als die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung auf dem Spiel. Man kann keinen Krieg abwenden mit halber Entschlossenheit. Man kann keinen Partner wie Russland einhegen, wenn man ihn gleichzeitig missversteht. Und man kann keine Koalition führen, wenn ein Teil der Mannschaft an ihrer sicherheitspolitischen DNA sägt.
Kein Fortschritt, kein Zurück und kein Durchbruch
Die SPD täte also gut daran, ihre nostalgischen Reflexe endlich abzulegen. Und die CDU sollte sich gut überlegen, ob sie weiterhin als Stabilitätsanker einer Koalition fungieren will, deren linker Teil sich noch immer nicht zwischen Realitätssinn und mit Politnostalgie gewürzter Ideologie entschieden hat. Mit einer Partei regieren zu wollen, die geistig Moskau näher steht als Kiew, wird es auf jeden Fall nicht einfacher in der „kleinen“ Koalition.
Und doch – bei aller berechtigten Kritik – bleibt ein unangenehmes Dilemma bestehen. Deutschland und Europa können sich keinen offenen Krieg mit Russland leisten. Selbst wenn er militärisch zu gewinnen wäre, wäre der Preis an Menschenleben, an zivilisatorischer Zerstörung und sozialem Zerfall nicht zu rechtfertigen. Ein solcher Konflikt hätte – unabhängig vom Ausgang – keine Gewinner. Insofern bleibt die Frage nach einem Ausweg, nach einer politischen Lösung, auch ohne naive Illusionen legitim und notwendig.
Die deutsche Außenpolitik steht damit zwischen Prinzipientreue und Pragmatismus, zwischen moralischer Klarheit und strategischer Vorsicht. Das Manifest der SPD benennt dieses Spannungsfeld – aber es zieht daraus die falschen Schlüsse. Die Regierungen unter Scholz und Merz haben sich eindeutig positioniert – an der Seite der Ukraine –, doch das bedeutet nicht, dass der Weg von hier aus klar wäre. Es gibt eben historische Konstellationen, in denen es keinen Fortschritt, kein Zurück und kein Durchbruch gibt – nur ein Patt. Und genau das ist eine der ernüchternden Wahrheiten unserer Zeit, in der sicher geglaubte Standpunkte von der Realität und dem Zeitgeist zerrieben werden und die angeblichen Alternativen nichts Besseres versprechen.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.