Wahrscheinlich baut es die Spitzenfunktionäre der schwächsten SPD in der deutschen Nachkriegsgeschichte mental enorm auf, wenn sie die Chance bekommen, einmal einen engagierten Arbeitnehmervertreter darstellen zu können. Früheren Generationen von Spitzengenossen war diese Rolle noch auf den Leib geschneidert, sie gehörte zum Markenkern der SPD. Heutzutage sind die Gelegenheiten seltener. Aber zur neuen Rolle als Opposition passt es ja gut, zu protestieren, weshalb sich der Vorsitzende Martin Schulz und die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles zu protestierenden Siemens-Beschäftigten gesellten, die nach der Ankündigung von Betriebsschließungen und Stellenstreichungen verständlicherweise ein Umsteuern verlangen.
„Die Siemens-Belegschaft muss für krasse Managementfehler bluten“, klagte der SPD-Chef. „Das ist nicht das Verhalten von verantwortungsbewussten Managern“, so Schulz weiter, „das ist das Verhalten von Manchester-Kapitalisten.“ Und Andrea Nahles sekundiert kämpferisch: "Die SPD wird weiter für Euch trommeln."
Wenn die Genossen nun gegen die „Manchester-Kapitalisten“ trommeln, wird das der Siemens-Belegschaft kaum helfen. Aber vielleicht wollen die Trommlerinnen und Trommler mit ihrem Trommelwirbel auch nur vergessen machen, dass sie in der letzten Legislaturperiode an der Regierung und ihren Entscheidungen beteiligt waren. Eigentlich sollte man sich daran erinnern können, dass die im vorigen Bundestag vertretenen Parteien das möglichst schnelle Abschalten von Kraftwerken zu einer klimarettenden Tugend erklärt hatten und sich die bis heute amtierende Regierung einer einst großen Koalition an die Spitze der Bewegung zu setzen versuchte.
Neue Arbeiterführer aus den alten Polit-Eliten
Wem es nun mit dem Kraftwerksrückbau nicht schnell genug gehen kann, der bietet einem Hersteller von Kraftwerkstechnik nicht gerade das ideale Investitionsklima. Das müssten auch jene begreifen, für die die Rettung des Weltklimas eine heilige Pflicht ist. Wenn dafür aus ihrer Sicht die entsprechenden wirtschaftlichen Opfer gebracht werden müssen, weil es für die Erreichung eines größeren Zieles notwendig ist, dann haben verantwortungsbewusste Politiker der Öffentlichkeit dies zu vermitteln.
Stattdessen demonstrieren die neuen Arbeiterführer aus den alten Polit-Eliten, dass sie sich der Konsequenzen des Wettlaufs um die schnellstmögliche Kraftwerksabschaltung gar nicht bewusst waren. Wenn einer dazu aufruft, auf den Verzehr von Speis und Trank in Gaststätten zu verzichten, würde ihn ja auch keiner ernst nehmen, wenn er nach dem Erfolg seiner Kampagne das Sterben der gemütlichen Wirtshäuser beklagt.
Das enthebt die Siemens-Manager nicht ihrer Verantwortung, weder im Detail, weil es vielleicht dennoch bessere Lösungen gegeben hätte, als die avisierten, und schon gar nicht generell dafür, dass sie bei hochmoralisch aufgeladenen Entscheidungen der Politik nicht deutlich und vernehmlich vor den ausgeblendeten Konsequenzen gewarnt haben. Der Protest der Siemens-Beschäftigten ist deshalb vollkommen nachvollziehbar.
Sie und vor allem die Bürger, die nicht bei Siemens beschäftigt sind, aber die Energiewende zu bezahlen haben, sollten allerdings die eifrigen Trommlerinnen und Trommler, die als Neu-Oppositionelle so gern mit protestieren möchten, an ihre Verantwortung erinnern. Andrea Nahles, die ja zum Trommeln aufrief, war Arbeitsministerin und mithin qua Amt zuständig, solche Folgen für die Arbeitsplätze zu erkennen. Ebenso ihr Genosse Sigmar Gabriel, dem das Amt als Außenminister so gut gefällt, dass er sich wahrscheinlich gar nicht mehr daran erinnern möchte, als Wirtschaftsminister auch einmal für die Energiewende Verantwortung getragen zu haben.
Verantwortungslose Politiker zeigen auf verantwortungslose Manager
Auch in den Medien, die bislang mehrheitlich ein positives Bild der Energiewende zeichneten, wird dieser Zusammenhang selten aufgegriffen. Ein Bericht aus dem ebenfalls von den Schließungsplänen betroffenen Offenbach zitiert Siemens-Personalvorstand Janina Kugel so: Europaweit werde Strom vermehrt von kleinen Kraftwerken dezentral erzeugt, statt zentral von großen Anlagen. Zudem verdrängten Solarstrom und Windkraft das Erdgas. Es handele sich folglich nicht um eine konjunkturelle Marktschwäche, sondern um ein strukturelles Problem. Deshalb wolle Siemens Personal abbauen und Standorte schließen.
Die IG-Metall-Gewerkschaftssekretärin Marita Weber hält die Management-Entscheidung für „nicht hundertprozentig ausgegoren“. Warum nicht? Es sei nicht klar, wie die Bundespolitik die Energiewende weiter gestalten wolle, sagt die Gewerkschaftsfrau und macht damit vielleicht ungewollt deutlich, wer eigentlich für die Misere verantwortlich ist. Aber statt sich dieser Verantwortung zu stellen, finden es verantwortungslose Politiker einfach schön, auf verantwortungslose Manager zu zeigen. Die, deren Arbeitsplätze jetzt auf dem Spiel stehen, dürfen ja womöglich bald wieder wählen. Da passt es besser, laut zu trommeln, als vielleicht eigene Entscheidungen noch einmal kritisch zu prüfen.
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