Gabor Steingart, Gastautor / 07.12.2017 / 17:30 / Foto: RCA / 13 / Seite ausdrucken

SPD, ein hartnäckiger Fall von politischer Schwerhörigkeit

Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte haben das Volk und die SPD so deutlich aneinander vorbeigeredet. Das Volk sagt „Flüchtlinge“, und die SPD versteht „Bürgerversicherung“. Das Volk sagt „innere Sicherheit“, und Martin Schulz versteht „Opposition“. Man muss kein Ohrenarzt sein, um einen hartnäckigen Fall von politischer Schwerhörigkeit zu diagnostizieren.

Als US-Außenminister Rex Tillerson seinem Amtskollegen Sigmar Gabriel die Motive der Trump-Wählerschaft erklärte, sprach er von den „Can-you-hear-me-now-voters“. Die deutsche Übersetzung von „Hört ihr mich jetzt?“ heißt AfD. Die Schichtführer in den Fabriken der Populisten wissen, wie man aus berechtigten Sorgen und falschen Ängsten Wutbürger produziert. Am 24. September war verkaufsoffener Sonntag.

Der gedemütigte Parteichef Schulz steht auf dem heute beginnenden Parteitag zur Wiederwahl. Seine Bilanz ist eigentlich keine Bilanz, sondern eine Todesanzeige: Er hat gegenüber der Bundestagswahl von 1998 rund 10,6 Millionen der sozialdemokratischen Wähler verloren – und damit mehr als jeden zweiten Schröder-Wähler. Die Koalition der „Neuen Mitte“, die bestehend aus Facharbeitern, Angestellten und Unternehmern einst das Fundament der sozialdemokratischen Kanzler bildete, ist unter seinen Fingern verdampft. 

Sehnsucht nach dem Mittagsschlaf

Auch die SPD, das darf nicht verschwiegen werden, ist nicht mehr die alte. Die heutige Sozialdemokratie rebelliert und protestiert nicht mehr, sondern grummelt und grantelt vor sich hin. Das Entstehen globaler Wertschöpfungsketten, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die Dynamisierung der Sozialsysteme und die digitale Transformation unserer Volkswirtschaft werden von ihr nicht als Gestaltungsauftrag, sondern als Zumutung empfunden.

Die SPD von heute ist eine unglückliche Partei, die sich die Zukunft vor allem als Addition von Ängsten vorstellt. Die Forderungen zur Bildung einer Großen Koalition lesen sich wie ein nationaler Sozialplan. Die Mehrzahl der Deutschen soll nicht mitgenommen, sondern abgefunden und ruhiggestellt werden.

Und weil Geld offenbar keine Rolle spielt, werden die Fluchtsuchenden aus aller Welt eingeladen, in den deutschen Sozialstaat umzuziehen. Für Barmherzigkeit, so hat es der Parteivorstand eben erst beschlossen, kann es keine Obergrenze geben. Das Staatsversagen von 2015 würde damit zur Staatsräson erklärt. Dass die SPD dadurch die kleinen Leute verrät, die Staatsfinanzen überdehnt und die zu leistende Integrationsarbeit erschwert, nimmt sie billigend in Kauf. Die Schulz-SPD sehnt sich nicht nach Aufbruch, sondern nach Gemütlichkeit und Mittagsschlaf.

Dabei gibt es in der SPD nach wie vor Männer und Frauen, die in sich einen Gestaltungsauftrag spüren. Doch die Partei reagiert auf sie allergisch bis gleichgültig. Einen Sigmar Gabriel, der mit seiner Wendigkeit und Widersprüchlichkeit durchaus die Sprunghaftigkeit unserer Zeit reflektiert, glauben viele nicht mehr ertragen zu können. Olaf Scholz macht sich durch Pragmatismus verdächtig. Manuela Schwesig soll erst in der mecklenburgischen Provinz zeigen, was sie kann, meint das Establishment.

Wo bleibt die „Herzlichkeit der Vernunft“ ?

Mittlerweile ist die Partei wie Schulz: übellaunig im Ton, angerostet im Denken und der Zukunft abgewandt.

Vitale Parteien erkennt man daran, dass auf ihren Kongressen sich mindestens ein Rebell findet, der die durch Absprachen und Abhängigkeiten erzeugte Stille durchbricht. Oskar Lafontaine hat es 1988 auf dem Parteitag in Münster getan. Jens Spahn stand 2017 gegen Angela Merkel auf. 

Deutschlands traditionsreichster Partei wäre zu wünschen, dass unter der Betonplatte neues Leben wächst. An den Notwendigkeiten einer progressiven Politik – von abgasfreier Mobilität über eine Start-up-Kultur bis zur Neubegründung Europas – herrscht kein Mangel. Deutsche Politik braucht nicht das Ressentiment, sondern das, was Alexander Kluge die „Herzlichkeit der Vernunft“ nennt.

Allen Aufmüpfigen, die heute Morgen zum Parteitag nach Berlin gereist sind, sei daher der französische Bestseller „Der kommende Aufstand“ empfohlen, der die bleierne Zeit vor Emmanuel Macron zum Thema hat. Dort heißt es: „Von einem Punkt extremer Ohnmacht, extremer Isolation brechen wir auf. Nichts ist unwahrscheinlicher als ein Aufstand, aber nichts ist notwendiger.“ 

Zuerst erschienen auf Handelsblatt Morning Briefing

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Leserpost

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Fabian Stein / 08.12.2017

Naja, der Abstieg der SPD hat mit Schröder begonnen! Der hat die Partei das erste Mal so richtig verraten. Seit dem wird nur noch rumgemurckst.

Anders Dairie / 08.12.2017

Könnte es sein, dass der Bundespräsident, Steinmeier, in Washington kein Bein mehr in die Türen bekam?  Nachdem ihm, als Außenminister und Chefdiplomat, gegen Trump rausgerutscht war, dieser sei ein “Haßprediger”.  Hat man Steinmeier deswegen gg. Gabriel ausgewechselt, der eigentlich ohne rechten Job war ?  Mir fiel auf, dass um 2002 die Herren und Genossen Schröder und Scharping ebenfalls keinen Zugang mehr erhielten, nachdem sie sich, in Deutschland waren BT-Wahlen,  gegen das Engagement im Irak entschieden hatten.  Deswegen hatte Schröder, einen Tag nach dem Großattentat auf das WTC, im Bundestag offiziell und hektisch die “uneingeschränkte” Solidarität mit den USA erklärt.  Ungeachtet dessen, dass die Bundeswehr für einen Einsatz dort nicht qualifiziert war.  Es sind viele grobe Misserfolge, die die Linke seit 1998 —wie ein roter Komet—hinter sich herzieht.

Simone Robertson / 08.12.2017

Die SPD ist der irrigen Annahme verfallen, dass ihr ursprüngliches Wählerklientel, Arbeiter, einfache Angestellte, Rentner, kurz: Alle, die einen starken Sozialstaat brauchen und wünschen, auch wollen, dass unsere sozialen Errungenschaften auch auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Dem ist NICHT so. Denn wer klar denken und rechnen kann, der kann sich vorstellen, dass immer mehr Wasser zur Suppe getan werden muss. Außerdem steht die SPD seit Schröder nicht mehr für soziale Politik. Und die Folgen der Zuwanderung muss auch gerade der ärmere Teil der Bevölkerung tragen, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss, in bunten Wohngegenden lebt und dessen Kinder Problemschulen besuchen muss.

Reinhard Aschenbrenner / 07.12.2017

Herrlich, ich habe Tränen gelacht. Gerne mehr davon!

S.Schleitzer / 07.12.2017

“Die Mehrzahl der Deutschen soll nicht mitgenommen…werden”, Herr Steingart? Hören Sie sich doch einmal Herrn Schulz Rede von heute an. Und wie wir mitgenommen werden. Sie, ich, wir alle - ob wir wollen oder nicht. Um es mit Herrn Schulz wortwörtlich zu sagen: Und wer dann dagegen ist, der geht dann eben…raus!

Stefan Riedel / 07.12.2017

Sigmar Gabriel und Manuela Schwesig als Hoffnungsträger der SPD?! Ihr, die SPD, laßt alle Hoffnung fahren.

Gertraude Wenz / 07.12.2017

Ich habe mir heute zeitweise die Rede des Martin Schulz angehört. Da ich seine Simme nur schwer ertragen kann, habe ich bald wieder weggeschaltet. Für seine Stimme kann er nichts, für den Inhalt seiner Rede schon. Als er wieder (stolz im Bewusstsein der höheren Moralität) verkündete, mit der SPD würde es keine Obergrenze geben, hatte ich mit dieser Partei und diesem Mann noch nicht mal mehr Mitleid. Kapiert er denn nicht, dass die Klientel der SPD, die sogenannten kleinen Leute - das ist keine Abwertung!- durch die immense Zuwanderung in ihrem ohnehin nicht hohen Lebensstandard extrem bedroht wird? Der Spagat ist nicht zu leisten: unbeschränkte Zuwanderung auf der einen Seite und gleichzeitig Verbesserung der Lage der nicht auf Rosen gebetteten Arbeitnehmer und Rentner. Wie soll es z.B. in den Schulen weitergehen? Wo sollen die vielen neuen Wohnungen herkommen? Woher das Geld, um die kleinen Renten zu erhöhen? Oder ist unser Land wirklich so wohlhabend, dass wir mit dem Geld nur so um uns werfen können? Dann frage ich mich aber, warum unsere Infrastruktur so verloddert und Rentner leere Flaschen sammeln müssen, um nur einige Beispiele zu nennen. Vom kulturellen Clash mal ganz abgesehen. Ist der IQ unserer Politiker auf einem historischen Tiefstand? Ich hoffe nur, dass sich das deutsche Volk nicht schon wieder Sand in die Augen streuen lässt.

Hans-Jörg Jacobsen / 07.12.2017

Ich erinnere mich an die SPD als eine Partei des technologischen Fortschritts. Ich wurde in den 70er Jahren als Student der Biologie in NRW quasi sozial-liberal sozialisiert, wurde auch Mitglied der SPD. Ich bin aber nach dem von mir als Putsch gegen Franz Müntefering interpretierten Karriere-Donner von Frau Nahles nach dem Rücktritt von Müntefering an demselben Tag aus der Partei ausgetreten. Das Verhalten von Frau Nahles, und das Juso-hafteVerhalten einiger SPF-Granden (“Ist doch schön, wenn ein Vorsitzender nicht allein bestimmen kann, mit wem er zusammenarbeiten will!”-Müntefering wollte damals gerade Nahes nicht als Generalsekretärin) empfand ich als eher pubertär und extrem unsolidarisch. Ich war aber schon länger genervt von der von mir als eine Art von sexueller Hörigkeit empfundenen Unterwerfung der SPD unter die Dogmen der Grünen.  Ich habe mich für die SPD geschämt, zumal ich aus einer ur-sozialdemokratischen Familie stamme und der erste in meiner Familie war, der ein Abitur gemacht hat und studieren konnte. Die SPD hat auch ihre jahrzehntelange gut begründete Kritik an den Kirchen aufgegeben und ist auf einen Kuschelkurs vor allem mit dem unsäglichen Geseire der Mehrheit in der EKD gegangen, aus dem sie sich, wenn sie ihre Traditionen Ernst nimmt und wieder einen klaren Blick auf die Realitäten gewinnen will, schleunigst befreien müsste.

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