Bahnt sich beim SPIEGEL ein zweiter Fall Relotius an? Das Magazin hat vier Artikel seines Reporters Giorgos Christides offline genommen – wegen „Zweifeln an der bisherigen Schilderung“ der Ereignisse am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros im Sommer 2022.
Tritt man Giorgos Christides zu nahe, wenn man ihn zur Zunft der Journaktivisten zählt, die im Graubereich zwischen Journalismus und Aktivismus operieren? Getrieben von edlen Motiven natürlich. In einem Beitrag für die Grünen-nahe Heinrich-Boell-Stiftung schrieb der Reporter, Europa müsse seine „moralische Integrität“ wiederherstellen, der „Schutz der Rechte von Geflüchteten und Migrant/innen“ sei „moralisch geboten“. Entsprechend moralingetränkt fallen seine Arbeiten aus. Auch ausweislich seines Twitter-Accounts macht er keinen Hehl daraus, für die „Rechte“ von Menschen einzutreten, die, aus welchen Gründen auch immer, nach Europa „flüchten“. In erwähntem Beitrag wehrt er sich gegen den Begriff Wirtschaftsflüchtlinge – „als sei es an der Öffentlichkeit, Zeitungskolumnist/innen, Minister/innen oder Fernsehmoderator/innen darüber zu entscheiden und nicht Sache der zuständigen Behörden nach individueller Einzelfallprüfung“. Er selbst und die ihm nahestehenden linken Politiker und NGOs dürfen aber schon für sich in Anspruch nehmen, jeden Migranten als „Geflüchteten“ zu bezeichnen, mag der auch bereits Jahre in der sicheren Türkei gelebt haben.
Schwerpunktmäßig befasst sich Christides mit der Situation von Migranten im türkisch-griechischen Grenzgebiet. Immer wieder kritisiert er Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, welche die EU-Außengrenzen kontrollieren soll, sowie die griechischen Behörden, die seiner Ansicht nach zu Unrecht Europa vor dem Zustrom der „Flüchtlinge“ bewahren. Konkret: die „Pushbacks“, die „systematisch gegen internationales und europäisches Recht verstoßen“. Die griechische Küstenwache soll in der östlichen Ägäis Boote mit „Geflüchteten“ vor der Küste abfangen und in Richtung türkisches Hoheitsgebiet abdrängen.
Befürworter der Migration nach Europa, seien es Aktivisten oder Reporter, setzen gern die Schilderung persönlicher Schicksale von „Geflüchteten“ ein, um Sympathie und Unterstützung für ihr Anliegen zu gewinnen. Niemand kann sagen, was an den vielen zu Herzen gehenden Geschichten dran ist, die sich Journalisten erzählen lassen und dann weiterverbreiten. Nicht selten hat man den Eindruck, der eine oder andere vermeintliche Gewährsmann tischt dem Reporter „Geschichten aus dem Paulanergarten“ auf. Dann kann man nur hoffen, dass der Reporter ehrlich versucht, die Aussagen seines Gewährsmannes so gut es geht zu prüfen.
Einer Relotiade aufgesessen?
Und hier sind wir beim SPIEGEL und dem Fall Christides. Er berichtete in dem Magazin in vier nun nicht mehr einsehbaren Artikeln über den Tod des fünfjährigen Flüchtlingsmädchens Maria aus Syrien: „Sie ist Anfang August an Europas Außengrenze gestorben, weil ihr griechische Behörden jede Hilfe versagten.“, zitiert Medieninsider aus einem dieser Texte. Tatsächlich ist der Fall zumindest dubios. Wie auch Al-Jazeera und Le Monde meldeten, soll Marias Familie zu einer Gruppe von etwa 40 syrischen und palästinensischen Migranten gehört haben, die versucht hatten, von der Türkei auf griechisches Gebiet zu gelangen, am Grenzfluss Evros jedoch mit Waffengewalt zurückgedrängt wurden und auf einer unbewohnbaren Insel strandeten. Vage heißt es, das Mädchen sei zwei Tage später von einem Skorpion gebissen worden, die griechische Polizei, Frontex und das UNHCR seien um Hilfe gerufen worden, jedoch: “their calls were presented as “fake news” and ignored.”
Bei Twitter erwähnte Christides, die Eltern des Mädchens hätten vor Gericht geklagt, ohne näher darauf einzugehen. Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte Ende August 2022 die Kritik griechischer Politiker an Christides und erwähnte in diesem Zusammenhang auch den „Fall Maria“: „Als die griechischen Behörden dann am 15. August die Flüchtlinge aufnahmen, war Maria tot. Die Eltern gaben an, sie hätten sie auf der Insel begraben.“
Mehr ist nicht bekannt. Die Faktenlage erscheint somit reichlich dünn. Der Tagesspiegel dazu:
„Dem ,Medieninsider' zufolge ist sogar fraglich, ob das im Artikel genannte Mädchen überhaupt existierte. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi habe Zweifel an den Berichten geäußert. Auch ,Spiegel'-Chefredakteur Steffen Klusmann soll darüber informiert worden sein.“
Christides hingegen behauptet, mit den Eltern und Geschwistern des Mädchens gesprochen zu haben, er wolle „anders als die Politik“ nicht an ihnen zweifeln. Auch hätten ihm, so der Reporter erstaunlich unkonkret, „weitere Menschen“ die Existenz des Mädchens bestätigt.
Dass der SPIEGEL die vier Artikel zu der Geschichte nun vom Netz genommen hat, deutet zumindest darauf hin, dass erhebliche Zweifel bestehen, ob an der Geschichte überhaupt etwas dran ist, ob der Reporter gutgläubig einer „Relotiade“ aufgesessen ist oder, wer weiß, selbst an der Wahrheit herumgeschraubt hat, bis er eine Geschichte hatte, die man nicht nur in SPIEGEL-Kreisen gerne hört, sondern die vor allem der Erzählung von der Notwendigkeit, aus moralischen Gründen (siehe oben) die Tore nach Europa für jeden weit zu öffnen, der Einlass begehrt, das Wort redet. Insbesondere Geschichten und Bilder von toten Kindern eignen sich schließlich, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, hervorragend zur Instrumentalisierung und Propaganda, wie unter anderem die Fälle Mohammed al-Dura und Alan Kurdi gezeigt haben.
Nun bleibt abzuwarten, was die Prüfung der Christides-Artikel durch das Magazin selbst ergibt. Obwohl: Eigentlich wäre das doch ein Fall für externe „Faktenchecker“ wie Correctiv, Faktenfinder, Faktenfuchs und andere, die Tag für Tag „Falschinformationen, Gerüchte und Halbwahrheiten aufdecken“. Wie sieht’s denn aus, Kollegen – seid Ihr an der Geschichte schon hart dran?