Claudio Casula / 24.11.2022 / 14:00 / Foto: Pixabay / 41 / Seite ausdrucken

Später Faktencheck an der Relotiusspitze

Bahnt sich beim SPIEGEL ein zweiter Fall Relotius an? Das Magazin hat vier Artikel seines Reporters Giorgos Christides offline genommen – wegen „Zweifeln an der bisherigen Schilderung“ der Ereignisse am türkisch-griechischen Grenzfluss Evros im Sommer 2022.

Tritt man Giorgos Christides zu nahe, wenn man ihn zur Zunft der Journaktivisten zählt, die im Graubereich zwischen Journalismus und Aktivismus operieren? Getrieben von edlen Motiven natürlich. In einem Beitrag für die Grünen-nahe Heinrich-Boell-Stiftung schrieb der Reporter, Europa müsse seine „moralische Integrität“ wiederherstellen, der „Schutz der Rechte von Geflüchteten und Migrant/innen“ sei „moralisch geboten“. Entsprechend moralingetränkt fallen seine Arbeiten aus. Auch ausweislich seines Twitter-Accounts macht er keinen Hehl daraus, für die „Rechte“ von Menschen einzutreten, die, aus welchen Gründen auch immer, nach Europa „flüchten“. In erwähntem Beitrag wehrt er sich gegen den Begriff Wirtschaftsflüchtlinge – „als sei es an der Öffentlichkeit, Zeitungskolumnist/innen, Minister/innen oder Fernsehmoderator/innen darüber zu entscheiden und nicht Sache der zuständigen Behörden nach individueller Einzelfallprüfung“. Er selbst und die ihm nahestehenden linken Politiker und NGOs dürfen aber schon für sich in Anspruch nehmen, jeden Migranten als „Geflüchteten“ zu bezeichnen, mag der auch bereits Jahre in der sicheren Türkei gelebt haben.

Schwerpunktmäßig befasst sich Christides mit der Situation von Migranten im türkisch-griechischen Grenzgebiet. Immer wieder kritisiert er Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, welche die EU-Außengrenzen kontrollieren soll, sowie die griechischen Behörden, die seiner Ansicht nach zu Unrecht Europa vor dem Zustrom der „Flüchtlinge“ bewahren. Konkret: die „Pushbacks“, die „systematisch gegen internationales und europäisches Recht verstoßen“. Die griechische Küstenwache soll in der östlichen Ägäis Boote mit „Geflüchteten“ vor der Küste abfangen und in Richtung türkisches Hoheitsgebiet abdrängen.

Befürworter der Migration nach Europa, seien es Aktivisten oder Reporter, setzen gern die Schilderung persönlicher Schicksale von „Geflüchteten“ ein, um Sympathie und Unterstützung für ihr Anliegen zu gewinnen. Niemand kann sagen, was an den vielen zu Herzen gehenden Geschichten dran ist, die sich Journalisten erzählen lassen und dann weiterverbreiten. Nicht selten hat man den Eindruck, der eine oder andere vermeintliche Gewährsmann tischt dem Reporter „Geschichten aus dem Paulanergarten“ auf. Dann kann man nur hoffen, dass der Reporter ehrlich versucht, die Aussagen seines Gewährsmannes so gut es geht zu prüfen.

Einer Relotiade aufgesessen?

Und hier sind wir beim SPIEGEL und dem Fall Christides. Er berichtete in dem Magazin in vier nun nicht mehr einsehbaren Artikeln über den Tod des fünfjährigen Flüchtlingsmädchens Maria aus Syrien: „Sie ist Anfang August an Europas Außengrenze gestorben, weil ihr griechische Behörden jede Hilfe versagten.“, zitiert Medieninsider aus einem dieser Texte. Tatsächlich ist der Fall zumindest dubios. Wie auch Al-Jazeera und Le Monde meldeten, soll Marias Familie zu einer Gruppe von etwa 40 syrischen und palästinensischen Migranten gehört haben, die versucht hatten, von der Türkei auf griechisches Gebiet zu gelangen, am Grenzfluss Evros jedoch mit Waffengewalt zurückgedrängt wurden und auf einer unbewohnbaren Insel strandeten. Vage heißt es, das Mädchen sei zwei Tage später von einem Skorpion gebissen worden, die griechische Polizei, Frontex und das UNHCR seien um Hilfe gerufen worden, jedoch: “their calls were presented as “fake news” and ignored.”

Bei Twitter erwähnte Christides, die Eltern des Mädchens hätten vor Gericht geklagt, ohne näher darauf einzugehen. Die Neue Zürcher Zeitung thematisierte Ende August 2022 die Kritik griechischer Politiker an Christides und erwähnte in diesem Zusammenhang auch den „Fall Maria“: „Als die griechischen Behörden dann am 15. August die Flüchtlinge aufnahmen, war Maria tot. Die Eltern gaben an, sie hätten sie auf der Insel begraben.“

Mehr ist nicht bekannt. Die Faktenlage erscheint somit reichlich dünn. Der Tagesspiegel dazu:

„Dem ,Medieninsider' zufolge ist sogar fraglich, ob das im Artikel genannte Mädchen überhaupt existierte. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi habe Zweifel an den Berichten geäußert. Auch ,Spiegel'-Chefredakteur Steffen Klusmann soll darüber informiert worden sein.“

Christides hingegen behauptet, mit den Eltern und Geschwistern des Mädchens gesprochen zu haben, er wolle „anders als die Politik“ nicht an ihnen zweifeln. Auch hätten ihm, so der Reporter erstaunlich unkonkret, „weitere Menschen“ die Existenz des Mädchens bestätigt.

Dass der SPIEGEL die vier Artikel zu der Geschichte nun vom Netz genommen hat, deutet zumindest darauf hin, dass erhebliche Zweifel bestehen, ob an der Geschichte überhaupt etwas dran ist, ob der Reporter gutgläubig einer „Relotiade“ aufgesessen ist oder, wer weiß, selbst an der Wahrheit herumgeschraubt hat, bis er eine Geschichte hatte, die man nicht nur in SPIEGEL-Kreisen gerne hört, sondern die vor allem der Erzählung von der Notwendigkeit, aus moralischen Gründen (siehe oben) die Tore nach Europa für jeden weit zu öffnen, der Einlass begehrt, das Wort redet. Insbesondere Geschichten und Bilder von toten Kindern eignen sich schließlich, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, hervorragend zur Instrumentalisierung und Propaganda, wie unter anderem die Fälle Mohammed al-Dura und Alan Kurdi gezeigt haben.

Nun bleibt abzuwarten, was die Prüfung der Christides-Artikel durch das Magazin selbst ergibt. Obwohl: Eigentlich wäre das doch ein Fall für externe „Faktenchecker“ wie Correctiv, Faktenfinder, Faktenfuchs und andere, die Tag für Tag „Falschinformationen, Gerüchte und Halbwahrheiten aufdecken“. Wie sieht’s denn aus, Kollegen – seid Ihr an der Geschichte schon hart dran?

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Arne Ausländer / 24.11.2022

Schon bei Relotius war ich kaum der einzige, der nicht glaubte, daß der den Spiegel mit seinen Lügengeschichten hintergangen hätte. Entweder war es längst bekannt oder egal. Als es dann mal Ärger gab, spielte jeder sein Spiel. Und jetzt bei den Flüchtlingsdramen ist es ähnlich. Beim Spiegel arbeiten (bzw. arbeiteten?) Profis, für die es im Internetzeitalter Routine ist, selbst in Kriegs- und Krisengebieten echt und falsch mit wenigstens 99% Sicherheit zu unterscheiden. Wenn man denn will. Aber wozu sollte man wollen? Geht es nicht ums NARRativ? Wenn das stimmt, ist doch alles bestens. Und genau das ist es auch, was Correctiv u.a. “Faktchecker” überprüfen: ob die Ideologie stimmt. Wie in “guten alten” Zeiten kirchliche oder königliche oder parteieigene Zensur darüber wachten, daß niemand leichtfertig auf unerwünschte Gedanken gebracht werde.

Uta Buhr / 24.11.2022

Das Sturmgeschütz der Demokratie! Das war der Spiegel einmal in grauer Vorzeit. Inzwischen ist dieses Blättchen zu einer unerträglichen Mainstream Postille verkommen, für die ein einigermaßen vernünftiger Mensch keinen Cent aus dem Fenster wirft. Ich habe viel mehr das Gefühl, dass man die wenigen Leser dafür bezahlt, dass sie diese Dreckschleuder in die Hand nehmen. Selbst Lore-Romane sind da ein besserer Lesestoff.

Gert Friederichs / 24.11.2022

Zitat M. Schmitt: “Elon Musk - bitte kaufen Sie auch den Spiegel, BITTE BITTE!” Das wird dann ein lustiger Bietwettbewerb! Bis jetzt liegt da Billyboy weit vorne!

Bernd Büter / 24.11.2022

Sich mit dem Lügel zu beschäftigen ist vertane Lebenszeit. Im Meer der Lügen ist der Fisch der Wahrheit nicht zu finden.

J. Harms / 24.11.2022

Vom kritischen, investigativen “Stürmgeschütz der Demokratie” zur links-grün-woken “Erpsenpistole” des “Haltungs-Journalismus”.  “Fairytale” kommt vor Fakten und Recherche. Wenn es nicht so abgrundtief erbärmlich, jämmerlich und peinlich wäre, könnte man (fast) lachen. Es passt aber genau zum ganzen Rest der deutschen Qualitätsmedien!

Wiebke Ruschewski / 24.11.2022

@Yon Bureitxa. Naja, der Spiegel ist zwar ein K_ckblatt, aber das mit den Leserbriefen sollte man nicht allzu genau nehmen. Ich lese die Achse auch nicht wegen der Leserbriefe. Im Gegenteil. Manche LB auf der Achse kann man getrost als unterirdisch bezeichnen. (Es gibt natürlich auch Gute!) Mich hält das aber nicht davon ab, die Achse zu lesen. Ich kann das trennen. Und außerdem ist es überall so. Und als Zeitung hat man nun mal nicht nur Edelmenschen unter seinen Lesern, sondern auch Dumme, Aggressive, Ängstliche, Gehässige, Alberne, Naive oder Bekloppte. Manche Zeitungen und Foren verfälschen das Bild ihrer Leserschaft durch Zensur. Wenn man das nicht tut besteht natürlich das Risiko, dass bei Reizthemen bei den ruhigeren, gesitteteren Vertretern der Eindruck entstehen kann “Mein Gott, hier sind ja nur Prolls und Psychos unterwegs!” Man wähnt sich am falschen Ort unter den falschen Leuten. Manch einer liest heimlich ohne je einen Kommentar zu verfassen, andere wenden sich ganz ab. Das ist eben leider eine der Nebenwirkungen, wenn man die Leute in den Kommentarspalten gewähren lässt. Auch ich bin kein Freund von Zensur! Aber das Nicht-zensieren hat leider auch Nachteile. Ich bleibe der Achse trotzdem treu. Auch wenn mir viele Kommentare zu weit gehen. Und ich schreibe auch selbst gelegentlich Kommentare, obwohl es ein Risiko ist. Und ich würde mir wünschen, dass in Zukunft mehr sachliche Kommentare zu lesen sind. Zu viele Leute schreiben leider im Brast. Oder wenn schon gehässige Kommentare, dann bitte originell-gehässige! Noch mal zum Spiegel: Ich habe mir vor einigen Jahren mal dort die Leserbriefe durchgelesen. Ca. ein Dutzend. Nur einer war meiner Ansicht nach in Ordnung. Alles andere war völliger Müll. Aber wie gesagt. Wohl kein Blatt kann sich damit rühmen, dass es nur von Hochbegabten und charakterlich Einwandfreien gelesen wird! (Der Spiegel schon gar nicht!)

J.Breitenbach / 24.11.2022

A propos: Wann arbeitet die “Achse” eigentlich einmal auf, wo sie ihre Leserschaft überall so in die Irre geführt hat? Es gibt viel zu tun, packt es an!

Horst Jungsbluth / 24.11.2022

Das einstige “Sturmgeschütz der Demokratie” passt sich eben den jeweiligen Zeiten an, als die Stasi mit IM Schrammel bis in die Chefredaktion vorgedrungen war, mutierte man zum “Sturmgeschütz der DDR” und nun eben zum “Sturmgewehr des Zeit"un"geistes”. Wenn der “Spiegel” so konsequent gehandelt hätte, wie er es von anderen erwartet, dann hätte er seine Leser ebenso entschädigen müssen, wie VW und andere Autokonzerne ihre Kunden.  Diese fatale Berichterstattung ist kein Zufall, sie ist so gewollt und ich erinnere auch an Bad Kleinen, wo man mit etwas “pocket-money” eine Kioskverkäuferin zu einer falschen Aussage bewegte, was zu Rücktritten und Entlassungen bis hin zum damaligen Innenminister führte. Als der Berliner SPD/AL-Senat ab 1989 mit gefälschten!!! Vorschriften und unzutreffenden Gründen unbescholtene Bürger wie Verbrecher jagte, da informierte ich damals den Berliner Vertreter mit entsprechenden Unterlagen. Dieser winkte ab, erklärte mir telefonisch, dass da noch einiges auf uns zukäme und als ich die Unterlagen zurückforderte, da waren sie verschwunden.  Dafür gab es dann einen Entlastungsartikel nicht nur für den Berliner Senat.

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