Burkhard Müller-Ullrich / 12.11.2007 / 20:51 / 0 / Seite ausdrucken

Sozialkassenkunst

Es ist wirklich verdammt schwer, in Deutschland kein Künstler zu sein. Denn so wie im Strafprozeß die Unschuldsvermutung gilt, so gibt es in Bezug auf jede Tätigkeit, die einem seltsam vorkommt, die primäre Kunstvermutung. Bis zum Beweis des absoluten Gegenteils hat jeder Furz in unserem Land zumindest potentiellen Kunstcharakter, und dies wiederum hat weitläufige sozialversicherungsrechtliche Auswirkungen. Der freischaffende Künstler steht nämlich unter dem besonderen Schutz des Staates; im Alter und bei Krankheit wird er genauso gut versorgt wie jeder Angestellte – vorausgesetzt, der freischaffende Künstler wurde amtlich anerkannt.

Zuständig hierfür ist die Künstlersozialkasse – kurz KSK – , eine in Wilhelmshaven ansässige Behörde, die der gesamthaften Verwandlung des deutschen Volks in Künstler durch gewisse Prüfungsprozeduren entgegenwirken soll. Das ist gar nicht so einfach, denn der Gesetzgeber hat es freundlicherweise vermieden, klar zu definieren, wer Künstler und was Kunst ist, beziehungsweise nicht ist. So kommt es immer wieder zu spaßigen Gerichtsprozessen, in denen zum Beispiel geklärt werden muß, ob auch Tätowierer oder Trauerredner als Künstler zu betrachten seien. Letztere ja, erstere nein: das ist der aktuelle Stand.

Dieter Bohlen läßt sich da besonders schwer einordnen, und man kann vielleicht von Glück reden, daß er bis jetzt noch nicht als Tätowierer oder Trauerredner im Fernsehen aufgetreten ist, sondern bloß als Juror in der RTL-Serie „Deutschland sucht den Superstar“. In einem geordneten Künstlersozialstaat erhebt sich allerdings sofort die Frage, ob nicht auch diese Auftritte versicherungspflichtig im Wilhelmshavener Sinn waren. Die KSK meint ja, RTL hingegen nein, weil der Sender sonst 173 000 Euro an die Kasse überweisen müßte.

Und so wurde jetzt auch dieser Fall von der Justiz entschieden. Das Kölner Sozialgericht urteilte, schon ein geringer Grad der eigenschöpferischen Leistung reiche aus, um eine Abgabenpflicht zu begründen. Anders gesagt, es gibt in der Kunst keine Untergrenze des geistigen Niveaus und der Kreativität. Allein der Unterhaltungscharakter macht’s. Das sieht Bohlen selbst ganz ähnlich, nur legt er – ebenso wie RTL – nicht den geringsten Wert darauf, das amtlich bestätigt zu bekommen.

Es ist nämlich so: nur arme Künstler machen Klimmzüge, um in die KSK zu kommen; wer viel verdient, der ist privat versichert und pfeift auf die Mitgliedschaft bei der staatlichen Kasse. Deshalb macht die KSK vielen Antragstellern die Aufnahme als Künstler schwer, aber einigen jagt sie hinterher und versucht sie mit gerichtlicher Hilfe zur Strecke zu bringen. Bei Bohlen hat es sich gelohnt – finanziell. Aber substantiell? Wird nicht das Wort Künstler in Künstlersozialkasse welk und modrig, wenn Dieter Bohlen dazugehört? Der Satz, daß schon ein geringer Grad der eigenschöpferischen Leistung ausreiche, wird sich noch furchtbar rächen – in Wilhelmshaven und anderswo.

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