Sozialismus, die unsterbliche Idee

Von Kristian Niemietz.

Sozialismus ist in Großbritannien wieder in Mode gekommen. Eine Umfrage nach der anderen zeigt eine weit verbreitete Unterstützung sowohl für den rein theoretischen Sozialismus als auch für die gesamte Bandbreite sozialistischer Politik. Und doch lässt sich diese Unterstützung des Sozialismus als Ideal keiner positiven Sicht auf ein bestimmtes Beispiel von angewandtem Sozialismus zuordnen – weder gegenwärtig noch historisch. Im Gegenteil: Wann immer solch ein Beispiel erwähnt wird, verdrehen Sozialisten ausnahmslos ihre Augen und weisen es als denkfaules Strohmann-Argument zurück. 

Sozialisten haben sich größtenteils erfolgreich von früheren Versuchen, sozialistische Gesellschaften zu errichten, distanziert. Wenn man einem selbsternannten Sozialisten ein Beispiel aus der realen Welt des Sozialismus entgegenhält, wird dies heutzutage als unfaires Argument betrachtet.

Die gängige Meinung lautet, dass diejenigen, die Sozialismus mit den Warschauer-Pakt-Ländern, dem maoistischen China, Nordkorea oder Nordvietnam assoziieren, einfach nicht klug genug sind, um den Unterschied zwischen einem Konzept und der verzerrten Umsetzung zu verstehen. Demokratischen Sozialisten den Gulag oder die Berliner Mauer entgegenzuhalten, wird als genauso ungebildet betrachtet, wie friedlichen Muslimen die Gräueltaten von al-Qaida oder dem Islamischen Staat entgegenzuhalten.

Vermischung von Wunsch und Wirklichkeit

Und doch, wenn man fragt, was nun an früheren Varianten des Sozialismus "unecht" war oder was hätte anders gemacht werden können, haben heutige Sozialisten Probleme, eine klare Antwort zu finden. Wenn sie dazu gedrängt werden, flüchten sie sich in die Theorie und reden eher über hohe Erwartungen als über greifbare Eigenschaften. Doch die hohen Erwartungen, die in der Regel zitiert werden, sind die gleichen, die schon immer die Erwartungen des Sozialismus waren. Die Idee, dass ein sozialistisches System eher einfache Arbeiter als Parteifunktionäre ermächtigen sollte, ist keineswegs so originell, wie gegenwärtige Sozialisten denken. Denn dies war schon immer die Vorstellung.

Heutige Sozialisten definieren "echten" Sozialismus in Bezug auf die Ergebnisse, die sie gerne sehen würden, und eben nicht als den institutionellen Aufbau, der dazu dienen soll, die Ergebnisse hervorzubringen. Indem das gewünschte Ergebnis eines Systems mit der eigentlichen Definition dieses Systems vermischt wird, erweist sich die Vorstellung, dass "echter" Sozialismus noch nie ausprobiert wurde, als unwiderlegbar. Es ist, als ob wir einen Regentanz als "einen Tanz, der Regen verursacht" definieren und nicht als "einen Tanz, der darauf hinzielt, Regen zu verursachen".

Mit der zuletzt genannten Definition ist es möglich, zum Schluss zu kommen, dass Regentänze nach einer genügenden Anzahl von fehlgeschlagenen Versuchen im Grunde genommen keinen Regen verursachen können. Mit der zuerst genannten Definition ist diese Schlussfolgerung nicht möglich. Denn wenn ein Versuch keinen Regen verursacht, kann es – laut Definition – kein echter Regentanz gewesen sein. Ein echter Regentanz wurde noch nie ausprobiert. Diejenigen, die behaupten, dass Regentänze versagt haben, sind einfach nicht klug genug, den Unterschied zwischen der Idee des Regentanzes und der verzerrten Umsetzung zu verstehen.

In dem Sinn, in dem selbst ernannte demokratische Sozialisten den Sozialismus definieren – nämlich als ein demokratisiertes Wirtschaftssystem, das gemeinsam "vom Volk" geplant wurde –, wurde dieser noch nirgends erreicht und konnte auch nicht erreicht werden. Wirtschaftliches Planen kann immer nur auf technokratische, elitäre Weise geschehen, und es erfordert eine extreme Konzentration an Macht in den Händen des Staates. Es kann keine einfachen Arbeiter "ermächtigen". Es kann immer nur eine bürokratische Elite ermächtigen.

Das Erwachen nach den Flitterwochen

Doch während diese Vision des Sozialismus nicht erreicht werden kann, so kann sie dennoch einfach auf aktuell existierende Gesellschaften projiziert werden, und zwar aufgrund dessen, dass sie so abstrakt und nebulös ist. Aus demselben Grund kann diese Projektion auch einfach beendet werden. Dies haben westliche Intellektuelle nahezu ein ganzes Jahrhundert lang getan. Vor 30 Jahren (1988) schrieb Hayek über die vergebliche Suche von "Intellektuellen" nach einer wahrhaft sozialistischen Gemeinschaft, die aus der Idealisierung und später der Desillusionierung einer offenbar endlos langen Reihe von "Utopien" entsteht. Seitdem ist diese Reihe nur noch länger geworden.

Die Rezeption sozialistischer Experimente folgt gewöhnlich einem dreistufigen Muster. Sozialistische Experimente durchleben oft zunächst eine Flitterwochenzeit, während der sie anfängliche Erfolge haben oder wenigstens zu haben scheinen und während der sie international ein relativ hohes Ansehen genießen. Während dieser Flitterwochenzeit wird das Experiment von westlichen Intellektuellen gewöhnlich mit enthusiastischem Lob überschüttet. Es wird als Vorbild für den "echten" Sozialismus hochgehalten, als "Beweis", dass Sozialismus funktioniert und als inspirierende Alternative für die moralisch bankrotten, kapitalistischen Systeme des Westens.

Diese Flitterwochen dauern natürlich nicht ewig. An einem gewissen Punkt werden die Fehler des Vorbilds im Westen weitestgehend bekannt und das internationale Ansehen des jeweiligen Landes sinkt. Während dieser Periode suchen westliche Intellektuelle krampfhaft nach Entschuldigungen. Das betreffende Vorbild erhält immer noch breite Unterstützung, doch Sprache und Gewichtung verändern sich drastisch: Eine hoffnungsvolle und optimistische Sache wird durch eine ungehaltene und defensive ersetzt. Westliche Sozialisten schießen auf den Boten; sie handeln, als ob die Kritiker des Systems verantwortlich sind für das Versagen des Systems. Außenstehende Kräfte und/oder Mitglieder der alten, diskreditierten Eliten werden beschuldigt, den Sozialismus "untergraben" zu haben. Westliche Apologeten beschäftigen sich ausgiebig mit Gegenfragen, Gegenbeschuldigungen und Ablenkungsmanövern.

Doch es kommt der Punkt, an dem das Versagen des Systems so offensichtlich ist und sein internationaler Ruf irreparabel geschädigt wird, dass seine Verteidigung zu einem Kampf auf verlorenem Posten wird. Dies ist die dritte und letzte Stufe. Kleine Gemeinschaften von wahrhaft Gläubigen fahren fort, das System zu verteidigen, doch Mainstream-Intellektuelle schweigen dann zu diesem Thema. Nach einiger Zeit verschwinden die Wallfahrten und Lobreden aus dem Gedächtnis, und westliche Intellektuelle beginnen damit, die sozialistische Legitimation des Systems zu bestreiten. Das neue Narrativ lautet, dass das System niemals wirklich sozialistisch war, dass nur eine Handvoll Extremisten dies behauptet habe und dass nur ein vollkommener Ignorant dieses System als sozialistisch hochhalten würde. Dieses Narrativ wird zur gängigen Meinung. Und der Ruf des Sozialismus als Ideal bleibt unbefleckt.

Fanartikel mit Mao-Themen

Das erste Beispiel war die Sowjetunion. In den 1930ern reisten tausende von westlichen Intellektuellen in Stalins Sowjetunion und kehrten voll des Lobes zurück. Die 1930er waren die blutrünstigste Periode in der sowjetischen Geschichte. Sie begannen mit der Zwangskollektivierung im Agrarsektor und der Entkulakisierung, die zur – eigentlich völlig vermeidbaren – Hungersnot in der Sowjetunion führten. Dieser folgten der Große Terror und die Moskauer Prozesse. Doch in den Büchern der westlichen Wallfahrer war Stalins Sowjetunion der Welt schönster Arbeiterstaat, der Vorbote einer neuen Zivilisation. Die Stalin-Manie musste mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt (auch Deutsch-Sowjetischer Nichtangriffspakt oder Hitler-Stalin-Pakt) einen Schlag einstecken, doch sie endete damit im Westen nicht, sondern erst, als sie in der Sowjetunion selbst ein Ende fand.

Es dauerte nicht lange, bis neue Utopien sie ersetzten. Doch von da an musste jedes neue sozialistische Experiment explizit als ein Gegenstück zum nun diskreditierten Sowjet-Model definiert werden, und – wo angebracht – auch zu anderen, gleichermaßen diskreditierten Modellen. In den 1960ern galt dies für das maoistische China, Nordvietnam und Kuba.

In China führte der Große Sprung nach vorn zur wahrscheinlich größten Hungersnot in der Menschheitsgeschichte. Darüber hinaus wurden Millionen Menschen exekutiert oder mussten sich in Zwangsarbeitslagern zu Tode schuften. Doch nach dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis wurde China zum beliebtesten Wallfahrtsort westlicher Intellektueller. Von Kalifornien bis Westberlin kamen Fanartikel mit Mao-Themen, wie zum Beispiel die "Mao-Bibel", bei Studentenprotesten in Mode. Der sowjetische Sozialismus war verrufen, doch das maoistische China repräsentierte das Versprechen eines Neuanfangs. Der sowjetische Sozialismus hatte nur eine bürokratische Kaste ermächtigt, doch das maoistische China war ein wahrer Arbeiter- und-Bauern-Staat. Dieses Mal würde es anders sein.

Doch das war es nicht. Nach Maos Tod verschwand die Mao-Manie im Westen schnell, und rückwirkend hörte die chinesische Version des Sozialismus auf, "echter" Sozialismus zu sein. 

Selbst die Roten Khmer wurden romantisiert

In den 1960ern bot Kuba ähnlich große Hoffnungen. Kuba weicht von dem herkömmlichen dreistufigen Muster ab, da es dauerhaft irgendwo zwischen Stufe Zwei und Drei steckengeblieben zu sein scheint. Man kann immer noch relativ prominente Unterstützer des kubanischen Regimes finden, die ausschließlich äußeren Faktoren die Schuld für die wirtschaftliche Unterentwicklung des Landes und den repressiven Charakter des Regimes geben. Doch der anfängliche Enthusiasmus ist längst verschwunden, und heute würden selbst am linken Rand nur Wenige behaupten, dass der kubanische Sozialismus ein Zukunftsmodell darstellt.

Kambodscha war unter den Roten Khmer bis zum letzten Jahr des Regimes nahezu komplett abgesperrt für ausländische Besucher und konnte deshalb nicht zum Wallfahrtsort werden. Doch dies hinderte eine Anzahl von westlichen Intellektuellen nicht daran, das Regime aus der Ferne zu romantisieren. Rein rechnerisch betrachtet, war die westliche Fangemeinde der Roten Khmer nie besonders groß. Doch sie bestand aus einem großen Anteil von wichtigen Akademikern. Westliche Unterstützer sahen den Sozialismus der Roten Khmer als eine idyllische, malerische und ländliche Version des Sozialismus, errichtet auf einer Wertegemeinschaft und auf Sittenreinheit. Kambodscha blieb nach dem vietnamesischen Einmarsch sozialistisch. Doch Vietnam war zu dieser Zeit bereits ein Mitglied des Clubs derjenigen Länder geworden, deren Version des Sozialismus verrufen war: Vietnamesischer und mit Vietnam verbundener Sozialismus war nicht länger der "echte" Sozialismus.

Als der Völkermord durch die Roten Khmer nicht mehr länger geleugnet werden konnte, hörte auch der Sozialismus der Roten Khmer sofort auf, der "echte" Sozialismus zu sein. Und wie immer geschah auch dies rückwirkend. Die gängige Meinung war, dass die Roten Khmer niemals Sozialisten waren. Andere Behauptungen wurden als gemeine Verleumdung betrachtet, die nur darauf abzielte, die noble Idee des Sozialismus in Verruf zu bringen.

Albanien, Nordkorea, DDR

So wie das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis der Beginn der Mao-Manie war, so wurde das chinesisch-albanische Zerwürfnis der Startschuss für den Hodschaismus im Westen. Während China und die Länder des Warschauer Paktes die alte diskreditierte Version des Sozialismus darstellten, wurde Albanien zur neuen Hoffnung für eine authentische Arbeiter-Demokratie, die treu zu ihren sozialistischen Idealen stand. Einige enttäuschte Maoisten übertrugen ihre Hoffnungen nun auf Albanien, und der Hodschaismus wurde der neue Maoismus, jedoch in viel kleinerem Umfang. Die selbstauferlegte Isolation des Landes ließ es für manche westliche Intellektuelle attraktiv erscheinen, da ein isoliertes Land nicht durch Verbindungen mit bereits verrufenen Varianten des Sozialismus verunreinigt werden konnte.

Wenn das Erwähnen der Sowjetunion oder des maoistischen China in Gegenwart eines selbsternannten Sozialisten heute schon als deklassiert gilt, so wird die Erwähnung von Nordkorea als völlig inakzeptabel betrachtet. Heute wird Nordkorea höchstens als groteske Karikatur des Sozialismus gesehen. Doch dies war nicht immer so. Südkorea, das zwangsläufig mit Nordkorea gemessen wird, war nicht immer die erfolgreiche liberale Demokratie, die es heute ist. Solange noch nicht klar war, welches der beiden Koreas das ansprechendere werden würde, erwählten einige aus dem Westen die Demokratische Volksrepublik Korea, um auf sie ihre Idee eines Arbeiterstaates zu projizieren.

Die Deutsche Demokratische Republik ist eine Fallstudie, die dem dreistufigen Muster trotzt. Es gab keine Periode breiter begeisterter Unterstützung und deshalb auch keine drastische Wende. Dieses System wurde eher von verschiedenen Intellektuellengruppen zu verschiedenen Zeiten für verschiedene Dinge gepriesen. In den frühen Jahren wurde die Selbstdarstellung der DDR als „Antinazistaat“ von ausländischen Bewunderern für bare Münze genommen. In der Endphase lag die Gewichtung auf dem relativen wirtschaftlichen Erfolg der DDR als des fortschrittlichsten Wirtschaftssystems im sozialistischen Block. Diese letztgenannten Begutachtungen waren lange nicht so wahnhaft wie diejenigen von Stalin- oder Mao-Pilgern. Doch es ist auch klar, dass sie sich nicht gut gehalten haben.

Auch Venezuela war einst Steckenpferd

Venezuela, das jüngste Beispiel, befolgt das dreistufige Muster buchstabengetreu. Es begann mit der üblichen Dieses-Mal-ist-es-anders-Rhetorik. Venezuelas aufkeimendes Sozialismusmodel wurde ausdrücklich in Opposition zu früheren Modellen definiert, sowohl differenziert (zum Beispiel in Hugo Chavez‘ Rede vor dem Weltsozialforum im Jahr 2005) als auch über Schlagworte (zum Beispiel „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“). Die Distanzierung zu früheren Formen des Sozialismus war keine leere Rhetorik: Die Chavisten gaben sich wirklich die größte Mühe, neue Formen sozialen Eigentums zu gestalten und neue Wege demokratischer Teilhabe zu finden. Doch letztendlich kam keiner von ihnen weit voran. Genossenschaften wurden zum Beispiel subventionierte private Unternehmen. 

Doch die Kombination von sozialistischer Rhetorik und Öl-bedingtem Boom war genug, um den Eindruck zu erwecken, dass Venezuela einen Weg gefunden hatte, den Sozialismus zum Funktionieren zu bringen. Wieder einmal gingen westliche Intellektuelle auf ausgedehnte Pilgerfahrten und kehrten mit der Überzeugung zurück, dass sie die Zukunft gesehen hatten. Das Leitmotiv der Venezuela-Manie war, dass Chavismus nicht nur eine große Erfolgsstory für sich genommen war, sondern ein Modell, dem der Westen folgen konnte. Als das Land begann auseinanderzufallen, wurde die Venezuela-Manie ungehalten und defensiv. Die Gewichtung verlagerte sich von den vermeintlichen Errungenschaften des Modells zu den vermeintlichen Motiven seiner Kritiker. Nach kurzer Zeit schwiegen die meisten Chavisten einfach zu dem Thema.

Etwa ein Jahrzehnt lang war Venezuela das Steckenpferd vieler westlicher Intellektueller. Wenn man Venezuela heute erwähnt, wird das als billiges politisches Punktesammeln betrachtet. Venezuelas sozialistische Legitimation wird rückwirkend entzogen. Der entstehende Konsens lautet, dass Venezuela niemals sozialistisch war und dass nur jemand, der zutiefst ignorant gegenüber dem Sozialismus ist, etwas anderes behaupten würde.

Kapitalismus ist gegen unsere Intuition

Und so wurde wieder einmal etwas, das „echter“ Sozialismus war, rückwirkend unecht. Venezuela ist das jüngste Beispiel dieser Art. Es wird nicht das letzte bleiben. Sozialismus hat so viele Male zum Scheitern geführt. Es ist nicht so, dass zwei oder drei weitere Beispiele einen Unterschied machen würden.

Die Wiederbelebung des Sozialismus geschieht in einer außergewöhnlichen Zeit. Die weltweite Armutsrate ist die niedrigste, die es jemals in der Geschichte gab. Die globale Lebenserwartung, ob gemessen am Geburtsdatum oder an der noch verbleibenden Lebenszeit in einem gewissen Alter, ist die höchste, die es jemals gab. Die weltweite Kindersterblichkeitsrate ist die niedrigste in der Geschichte. Die globale Alphabetisierung ist die höchste seit jeher. Man kann nahezu jeden wirtschaftlichen, sozialen oder umweltbedingten Indikator zufällig heranziehen und darauf wetten, dass er sich in den letzten 30 oder 40 Jahren verbessert hat. In einem großen Ausmaß müssen diese Verbesserungen dem Kapitalismus zugeschrieben werden. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, und andere Faktoren sind auch im Spiel, doch insgesamt ist die Maßeinheit der wirtschaftlichen Freiheit ein gutes Anzeichen für das Ausmaß an Verbesserungen. Es gibt Raum für einen legitimen Dissens darüber, welches das beste Kapitalismus-Modell ist. Wir können darüber diskutieren, ob wir mehr wie Schweden und Dänemark oder mehr wie Hong Kong und Singapur sein sollten. Doch schon vor langer Zeit hätte es klar sein sollen, dass die Zukunft nicht in einer Wirtschaftspolitik à la Venezuela liegt.

Mehr als zwei Dutzend Versuche, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, sind gescheitert. Doch der Sozialismus wird nichtsdestotrotz von Dauer sein. Der Grund dafür ist, dass die meisten von uns instinktiv die Marktwirtschaft ablehnen. Antikapitalismus ist eine „Standardeinstellung“, die mühelos und wie selbstverständlich in uns aufkommt. Was auch immer seine Errungenschaften sind, Kapitalismus fühlt sich falsch an. Er ist gegen unsere Intuition. Selbst die prominentesten Vordenker der freien Marktwirtschaft, wie zum Beispiel F. A. von Hayek, James Buchanan oder Milton Friedman, haben ihre Karrieren nicht als freie Marktwirtschaftler begonnen.

Wenn wir Marktwirtschaften vor allem nach ihren Defiziten beurteilen, während wir den Sozialismus vor allem als eine Idee und auf Grundlage der Absichten seiner Befürworter einschätzen, dann kann die Marktwirtschaft niemals gewinnen. Motivierte Argumentation ist eine starke Macht. Wir können immer eine Ausrede finden, einen wohlgehegten Glauben zu schützen, wenn wir es nur stark genug versuchen. Und wenn wir danach suchen, können wir immer Mängel finden in Gedankenkonstruktionen und Ideen, die uns nicht gefallen.

Auszug aus dem Buch „Socialism.The failed Idea that never dies“ von Kristian Niemietz, 2019, London Publishing Partnership: London, hier bestellbar.

Aus dem Englischen übersetzt. Zuerst veröffentlicht vom Institute of Economic Affairs, London, 2019.

Dr. Kristian Niemietz ist Head of Political Economy des Institute of Economic Affairs, London und Fellow des Age Endeavour Fellowship. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitschriften in Großbritannien, Deutschland und der Schweiz.

Foto: Tim Maxeiner

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Jan Kandziora / 02.07.2019

Mein alter Vater hat mich dieses Jahr zu einer Wanderung eingeladen. Auf zum ehemaligen Todesstreifen bei Braunlage, über den er und meine Mutter im Jahr 1964 »rübermachten«. Bewaffnete Grenzer, Tretminen, das volle Programm. Ihr unverletztes Überleben? Reine Glückssache. So sehr liebte der Sozialismus seine Arbeiter und Bauern, dass er sie lieber tot sah als beim bösen, faschistischen Feind. Heute nennt man das wohl einfach Nazi. Mir wurden dank Ostverwandschaft als Kind auch noch Innenansichten dieses grotesken Systems zuteil, das sich durch den kleinsten Widerspruch in seiner Existenz bedroht sah. Meine eigene Stasi-Agentin hatte ich bei Tätärä-Besuchen, immer ein paar Meter hinter mir. Als Achtjähriger. Leider kann ich meinen Vater nicht dazu bringen, durch Schulen zu tingeln und von seinen Erfahrungen mit der DDR der 1960er und auf seiner Flucht – einer echten Flucht – vor diesem hanebüchenen Schwachsinn zu berichten. Da würden vielen Schülern die Augen aufgehen, wenn ihren Lehrern plötzlich die Gehörgänge zuwachsen.

W.Schneider / 02.07.2019

Einen Versuch immer wieder durchzuführen und andere Ergebnisse zu erwarten, ist ein Zeichen von Dummheit. (A. Einstein)

Rolf Lindner / 02.07.2019

Der Kapitalismus funktioniert auch nicht immer und überall, aber er hat in einer ganzen Menge von Ländern zum Erfolg geführt oder mindestens einigermaßen funktionierende Strukturen geschaffen. Ursache für die Unterschiede sind die nach sozialistischer Ideologie nicht vorhandenen Eigenarten von Menschen, ja ganzer Völker. Kardinalfehler der sozialistischen Utopien ist die Verleugnung der Natur des Menschen, die Idee, dass der Mensch gut wird, wenn die Verhältnisse gut sind. Letztlich ist es die Ablehnung der Erkenntnis, dass im Menschen Millionen Jahre Evolution stecken, die man nicht so einfach ablegen kann, wie einen alten Mantel. Das führt zum immer gleichen Muster der Entwicklung sozialistischer Staaten. Die Inhaber der guten Ideen erliegen selbst der Natur des Menschen und werden über kurz oder lang zu Diktatoren, die glauben, sich gottähnlich über alles und alle hinwegsetzen zu können. Einen der uns in der DDR eingebläuten Lehrsätze des Marxismus haben diese Sozialisten selbst nie richtig verstanden, denn weil gerade in der DDR die Produktionsverhältnisse diktatorisch die Produktivkräfte behinderten, war sie untergegangen. Man könnt jetzt meinen, dass die Entwicklung Chinas ein erfolgreiches sozialistisches Experiment wäre, aber ich denke, dass die Genossen dort der Natur des Menschen zumindest auf dem Gebiet der Ökonomie ziemlich freien - sprich kapitalistischen - Raum lassen, während gerade die Neosozialisten in Deutschland jetzt schon in Restriktionsphantasien schwelgen.

Helmut Kaßner / 02.07.2019

So wichtig der Artikel ist, so richtig er die jeweiligen Daseinsformen des Sozialismus aufzeigt, sowenig kommt er zum Kern der Sache. Sozialismus ist immer wieder recht beliebt, weil er denjenigen eine Möglichkeit bietet von den Früchten der Gesellschaft über Gebühr zu profitieren, die aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit normalerweise davon nicht profitieren würden. Der Sozialismus erkennt grundsätzlich nicht an, dass Menschen unterschiedlich in ihren Leistungsmöglichkeiten sind und deshalb nur unterschiedlich von den Errungenschaften einer Gesellschaft profitieren können. Die Menschen werden mit unterschiedlichen Begabungen und Talenten in diese Welt gestellt. Das mag ungerecht sein (ich würde auch lieber bei Bayern München Fußball spielen), aber so ist es nun einmal. Im Sozialismus werden alle gleich gestellt, der Professor dem Laborangestellten, der Wissenschaftler dem Facharbeiter usw. Das führt zu Leistungsunwillen, zu Frustration, zu Verlusten, zur Mangelwirtschaft. Und dann setzt die Repression bis zur physischen Vernichtung der Kritiker ein, da nicht sein kann was nicht sein darf, was zu weiterer Leistungsminderung führt. Wenn dann die Saatkartoffeln aufgegessen sind, bricht das System zusammen. Nach einer Karenzzeit versucht man erneut sich die (Vermögens)werte derer anzueignen, die den allg. Wohlstand erarbeitet haben. Kurzsichtig betrachtet ist es der „Arbeiter“ der Werte schafft. Die Idee und das know how dahinter wird ausgeblendet. Was die ehemalige „DDR“ betrifft so ist sie ein Sonderfall, wurde sie nur durch unzählige, verwandtschaftliche Unterstützung aus Westdeutschland und durch Erpressung der dortigen Regierung durch die SED – Machthaber künstlich am Leben gehalten wurde. Ich habe den Eindruck, dass sich die deutsche Gesellschaft auf dem Weg zu einem neuen Sozialismus befindet Leistungsminderung und Repressionen eingeschlossen. Die soziale Marktwirtschaft als bisher beste Möglichkeit des sozialen Ausgleichs wird abgewertet und schlecht geredet.

Roland Jungnitsch / 02.07.2019

Der Sozialismus ist vor allem die Ideologie der Selbstgerechten und Blockwarte. Endlich kann man seinem armseeligen und bedeutungslosen Leben einen Sinn geben und durch rücksichtslose Propagierung der sozialistischen Richtlinien die Macht über seine Mitmenschen ausüben, die einem nach eigenem Ermessen zusteht. Endlich kann man die Leute ungestraft drangsalieren, maßregeln, denunzieren und einsperren lassen, wenns nötig ist. Natürlich gebühren einem als Held des Sozialismus auch entsprechende Privilegien, meist kapitalistischen Ursprungs wie Westauto, Westfernseher und Auslandsreisen. Wie sagte ein SED-Parteifunktionär zu seinem Nachbarn, als dieser dessen neu gelieferten Datschia bewunderte: “Na, wenn der uns nicht zusteht, wem denn dann sonst?” Das Ganze funktioniert übrigens auch ausgezeichnet in einem Sozialismus mit ökologischem Anstrich!

Sven Bauer / 02.07.2019

Es ist nicht so schwierig. Im Sozialismus gibt es viele Allgemeingüter, welche gleichverteilt werden. Das Individuum kann also den eigenen Profit nur durch Arbeitsverweigerung maximieren. Im Kapitalismus hingegen entsteht maximaler Profit, wenn die eigenen Produkte oder Dienstleistungen stark nachgefragt werden.

A.Ziegler / 02.07.2019

Praktisch alle Befürworter des Sozialismus leben in kapitalistischen Staaten. Die Klima-Apokalyptiker wohnen in den reichsten Ländern. Die Grünen und Impfgegner befinden sich in den reichen Städten und Stadtteilen. Die Angst vor der Kernenergie wächst im Quadrat des Abstandes zu einem Kernkraftwerk ( siehe Fukushima). Satte Europäer warnen vor golden rice und Glyphosat. Plastik wird so lange recycelt, bis es im Pazifik endet, statt verbrannt zu werden.  Alternative Heiler haben dort Hochkonjunktur, wo es eine moderne Medizin-Versorgung gibt. Die freiesten Muslims, vor allem aber muslimische Frauen, wohnen in christlich, jüdischen, säkularen Ländern, „Flüchtlings-Retter“ gefährden Menschenleben. Wo liegt der Fehler? Die Antwort: Ideologie. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet einer der unrühmlichsten Ideologen, Karl Marx, prägte den Satz, dass sich bei Aufeinandertreffen von Idee und Realität die Idee blamiert. Recht hatte er, auch wenn er das wohl anders meinte.

Helmut Driesel / 02.07.2019

Aber wie ist es denn nun, wenn so etwas wie kostenloser öffentlicher Nahverkehr in die heile bürgerliche Welt der marktförmigen Konsensdemokratie herein bricht? Ist das auch unmöglich eine Erfolgsgeschichte? Und gibt es nicht noch eine Menge solche sozialromantische Artefakte, die sich an allen möglichen Ecken einfinden, um ihre Existenzberechtigung und Erfolgschancen zu beweisen? Man kann sie doch in einer freiheitlichen offenen Gesellschaft nicht einfach mit trockenen Verweisen auf die Geschichte abweisen. In einer Zeit und einem Umfeld, wo die öffentliche Meinung jeder Idiotie eine Chance zu geben bereit ist, da schon gar nicht. Es ist meiner Meinung nach ein Irrtum, zu glauben, dass Sozialismus immer ganzheitlich und totalitär kommt und herrscht oder zusammenbricht. Nein, der ist in beliebigen Körnungen und Packungsgrößen zu haben und lässt sich unter alles mischen, das den Menschen lieb und wichtig ist. Sogar unter die demokratischen Gepflogenheiten. Da gibt es nichts, was ich für unmöglich halten würde. Die Sache mit dem Regentanz, ja, ein gutes Beispiel. Ein Regentanz ist ein Regentanz, das bleibt auch so, wenn es nicht regnet. Und wenn es regnet, dann weiß man ja nie, ob es auch ohne Tanz geregnet hätte. Der Regentanz wendet sich an den Regengott, nicht an die physikalische Instanz der Wolken. Und jeder Gott tut, was ein Gott tun will, oder er tut es eben nicht. Das ist, wie wenn Sie Frau Merkel nach dem dritten Stichpimpuli bitten, ein FDJ-Hemd anzuziehen und die falsche Nationalhymne anzustimmen.

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