Alain Pichard, Gastautor / 12.12.2017 / 06:15 / Foto: Pixabay / 9 / Seite ausdrucken

Sozialhilfe als Sockenschuss

Von Alain Pichard.

Beat aus Berikon, einer Kleinstadt in Kanton Aargau (Schweiz) war eine Zeit lang der berühmteste Sozialhilfeempfänger der Schweiz. Für unsere deutschen Leser: Das war der junge Mann, der seit jeher vom Geld seiner Aargauer Wohngemeinde lebt und nie richtig gearbeitet hat. Die ganze Schweiz weiß, dass er vor dem Bundesgericht eine Nachzahlung erstritt, weil ihm die Gemeinde die Gelder kürzte.

Und da war sie wieder einmal im Gang, die Missbrauchsdebatte. Der gesunde Menschenverstand rebelliert, die politische Rechte pauschalisiert, die Linke banalisiert und die Sozialindustrie relativiert. Und nach einer gewissen Zeit beruhigten sich die Gemüter wieder, und es durfte zur Tagesordnung übergangen werden.

Dabei ist es genau diese Tagesordnung, die uns interessieren sollte. Ist es wirklich so, dass die Mehrheit der Sozialhilfebezüger sich nichts sehnlicher wünscht, als einer Arbeit nachzugehen? Ich denke schon! Sind aber 99 Prozent aller Sozialhilfebezüger ehrlich, willig und eigentlich Opfer des Systems, denen man helfen sollte, wie es der Präsident der schweizerischen Sozialhilfekoordination meinte? Natürlich nicht!

Ganze Maturajahrgänge gingen aufs Arbeitsamt

Manchmal lohnt sich ein Blick zurück. Nach der Rezession von 1990 wurden vermehrt jüngere Arbeitnehmer arbeitslos, und sofort entstand die Forderung, man müsse Schulabgängern der Sekundarstufe II ab dem fünften Tag nach der Prüfung Taggelder beziehen lassen. Gesagt, getan, und sofort vervielfachte sich die Zahl der Jugendarbeitslosigkeit, denn schon damals hatten die Jungen nicht mehr die Scham der Älteren, und ganze Maturajahrgänge und andere Absolventen gingen sofort aufs Arbeitsamt.

Sie liessen sich die Zeit bis zur Aufnahme des Weiterstudiums finanzieren und machten unterdessen unter anderem schöne Reisen. Dazu gehörte auch – ich wage es Ihnen kaum zu sagen – meine eigene Tochter, was mich kurz fassungslos machte, meine Frau entsetzte und meine heutige Tochter vor Scham in den Boden sinken lässt. Als die Defizite Mitte der 1990er Jahre ins Unermessliche wuchsen, wurde das Gesetz revidiert. Nachzulesen ist diese Episode in Beat Kappelers Buch „Wie die Schweizer Wirtschaft tickt“, ein Buch das ich auch unseren Achse-Leserinnen und -Lesern wärmstens empfehlen kann.

Der Verdacht, dass nicht der Missbrauch, sondern der Gebrauch der Sozialhilfe das eigentliche Problem sei, hatte sich bei mir schon damals eingeschlichen. Nur getraute ich das nicht zu sagen, denn ich war ja ein Linker.

Jahrelang haben uns die Vertreter der Linken, zu denen ich mich immer noch gerne zählen würde, den Ausbau der Sozialleistungen gepredigt. Das „immer mehr“ betrachteten wir als Heilsweg. Dass Eingriffe das Eingegriffene verändern, hatten wir nicht im Gespür. Warum auch? Die Sozialindustrie ist zu einem der größten Arbeitgeber in unserem Land geworden. Und im Bieler Stadtparlament zum Beispiel sind von den 25 linksgrünen Parlamentariern deren acht direkt mit den zahlreichen Hilfsinstitutionen (36!) verbandelt.

Jede Änderung bekommt das Etikett „Sozialabbau"

Sie alle sorgen dafür, dass jeder Änderung sofort das Etikett „Sozialabbau“ angehängt wird. Die lauthals wiederholten holistischen Gesellschaftsziele der Vertreter der Hilfsindustrie verursachten eine Umwertung aller Werte: keine Leistung, viele aufpäppelnde Sonderbetreuungen, niemand ist Täter, alle sind Opfer eines brutalen Wirtschaftssystems (das ironischerweise die Arbeitenden in der Sozialindustrie und in den Sozialämtern recht gut bezahlt).

Als ehemaliges Mitglied der Partei der Arbeit (das ist bei uns die kommunistische Partei) bin ich vielen Irrtümern aufgesessen. Eine grundlegende Einsicht haben mir die alten Genossen meiner damals kränkelnden Partei aber nachhaltig eingepflanzt: den Wert der Arbeit zu schätzen. Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts. Hätte ich zu jener Zeit, als die Linke noch eine Arbeiterbewegung war, den Genossen und Gewerkschaftern damals die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens angetragen, dann hätten die mir den Vogel gezeigt.

Die von der Linken heute gepredigte Verachtung von Leistung und Eigenverantwortung schadet in erster Linie den Kindern unterer Schichten, denn gerade sie müssen Leistung zeigen, damit sie hochkommen.

Viel zu viele Jugendliche der Unterschicht (in Biel ist zurzeit jeder 5. Jugendliche von der Sozialhilfe abhängig) glauben daran, dass sie für ihre Situation gar nichts können. Die Gefahr ist, dass sie dies ein Leben lang tun werden.

Als mich ein alter Sozi letzten Sommer nach einigen Gläsern Wein wieder einmal als Renegat bezeichnete und mich an meine Vergangenheit erinnerte, antwortete ich ihm: „Ich habe nie dafür gekämpft, dass Jugendliche, die nicht aufstehen wollen, schon mit 16 Sozialhilfe erhalten.“

Er nahm einen Schluck und meinte: „Wo du recht hast, hast du recht.“

Alain Pichard, Lehrer, Publizist, Mitglied der Grünliberalen Partei der Schweiz, ehemaliger Statdrat

Foto: Pixabay

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Wolfgang Kaufmann / 12.12.2017

In Deutschland gilt seit längerem das Dogma, dass Leistung des Teufels sei. Wo kämen wir denn hin, wenn wir unsere Gesellschaft auf die gleichen Grundlage stellten wie die Amerikaner? Dann lieber sozialistisch miteinander untergehen.

Rudolf George / 12.12.2017

Das Immer-Mehr ist das inhärente Problem des Sozialstaatsgebots. Dieses Gebot besagt, dass der Sozialstaat stets einzugreifen hat, um Benachteiligungen innerhalb der Gesellschaft zu beseitigen oder zumindest abzumildern. Die entscheidende Frage ist allerdings, wo ist die Grenze des Sozialstaats? Und siehe da, unter dem Gebot kann es gar keine Grenze geben, da es stets und immer soziale Probleme zu identifizieren gibt. Und sobald eines erkannt ist, verlangt das Gebot den Einsatz von staatlichen Geldern zur Bekämpfung. Dazu kommt die rein menschliche Neigung, sich nicht den Ast absägen zu wollen, auf dem man sitzt, sodass Instititutionen zur Sozialproblembekämpfung sehr gut darin sind, immer neue Probleme zu entdecken bzw. zu analysieren, dass die bestehenden Probleme überhaupt nicht gelöst werden, was natürlich nur durch erhöhten „Einsatz“ (d.h. mehr Geld aus dem Sozialhaushalt) ausgeglichen werden kann. Es ist also eine Zwangsläufigkeit, dass der Sozialetat immer nur wachsen kann, solange, bis er an seine „natürliche“ Grenze stößt, d.h. die Volkswirtschaft zerstört, von der er gespeist wird.

Anders Dairie / 12.12.2017

Als Bill Clinton in einer Phase des Haushaltsnotstandes, etwa um Mitte der Neunziger,  die Schecks für Arbeitslose nicht mehr zusenden ließ, gingen binnen eines Vierteljahrs rund 20% der Arbeitslosen in Anstellung.  So ist das mit dem Sozialabbau.  Es ist schön,  fast 3 Jahre lang 900 Euro “einfach so” zu bekommen,  wenn man weiss,  dass alsbald 880 Euro Rente drohen.  Noch schöner ist es, wenn Schwarzarbeit möglich ist.  Es ist die sicherlich größte Fehlleistung der Politik jedes Staates, wenn die Kombination von Hartz4 und Schwarzarbeit möglich ist.

Wolfgang Richter / 12.12.2017

Hat Herr Broder bei seiner “Deutschland-Safari” vor Jahren nachdrücklich aufgezeichnet am Beispiel einer “sozialindustriellen” Arbeitslosenhilfe in einem sozialen Brennpunkt. Die stzaatlich finanzierten Projekte waren so ausgerichtet, daß man zwar vereinzelt “Erfolge” belegen konnte, aber sich strukturell nichts änderte, denn eine strukturelle Verbesserung hatte zum Einschmelzen der staatlichen Mittel, damit zum Verlust von Jobs bei der Initiative geführt. Also ist man stets mit Projekten aktiv, aber immer darauf bedacht, seine eigene Existenz nicht zu gefährden. Erbgebnis: Man darf nicht erfolgreich sein, um selbst wirtschaftlich zu überleben.

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