Thilo Sarrazin / 15.05.2025 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 49 / Seite ausdrucken

Sozialer Opportunismus – früher und heute

Sozialer Opportunismus hat offenbar Überlebenswert, sonst wäre der Mensch im Lauf der Evolution damit nicht so reichlich ausgestattet worden. Aktuell können wir das unter anderem bei den amerikanischen Tech-Giganten beobachten.

Bei der Betrachtung der nationalsozialistischen Machtergreifung im Winter und Frühling 1933 fand ich es stets besonders bestürzend und rätselhaft, wie wenig Gegenwehr es aus der deutschen Zivilgesellschaft gab. Schon im April 1933 begannen deutsche Sportvereine, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen, und Anwaltskanzleien trennten sich von ihren jüdischen Kollegen. Die „neue Zeit“ fand eilfertige Unterstützer. Das ist heute nicht anders:

Bei Trumps Inauguration als Präsident erwiesen ihm diesmal die meisten Chefs der Tech-Giganten die Ehre ihrer Anwesenheit, und der Amazon-Gründer Jeff Bezos stutzte der Redaktion der ihm gehörenden Washington Post rechtzeitig zum Event die Flügel der journalistischen Unabhängigkeit. Da die neue Administration als entschiedener Gegner von gendergerechter Sprache und Diversity-Programmen bekannt ist, passten zahlreiche Unternehmen zügig ihre internen Richtlinien an. Anwaltskanzleien krochen zu Kreuze, um auch von der neuen Administration Aufträge zu erhalten, Universitäten änderten ihren Umgang mit propalästinensischen Demonstranten, um ihre Zuschüsse aus der Bundeskasse nicht in Gefahr zu bringen. 

Im Mittelpunkt steht die Anpassung

Unabhängig davon, als wie brutal oder rechtlich grenzwertig man das Vorgehen von Trumps Administration einschätzt, wirkt das Verhalten vieler Akteure so, als ob nicht die Gültigkeit von Überzeugungen, sondern die Anpassung an veränderte politische Erwartungen im Mittelpunkt stünde. Sollte sich der Zeitgeist drehen und im November 2028 die Trump-Administration bei einem Erdrutschsieg eines linken demokratischen Präsidentschaftskandidaten untergehen, so ist wohl eine erneute eilfertige Anpassung, nur diesmal in die Gegenrichtung, zu erwarten.

Zum Kriegsende 1945 zählte die NSDAP in Deutschland 8,5 Millionen Mitglieder, aber schon wenige Wochen nach der Kapitulation am 8. Mai schien es in den Trümmerlandschaften der Städte nur noch Regimegegner und verhinderte Widerstandskämpfer zu geben.

Die sozialen Mechanismen, die in menschlichen Gesellschaften zur Anpassung an dominierende Zeitströmungen und wahrgenommene Erwartungen führen, sind in Psychologie und Soziologie vielfältig erforscht und sattsam bekannt. In der Wahlforschung spielt das Phänomen der „Schweigespirale“ eine wichtige Rolle: Menschen, die glauben, mit ihrer Meinung in der Minderheit zu sein, halten sich bei Äußerungen unter Bekannten, Freunden und in der Öffentlichkeit eher zurück. Menschen, die sich auf der Seite der Mehrheit wähnen, geben ihre Meinung dagegen eher lauthals kund. Wer zuverlässige Wahlprognosen abgeben will, berücksichtigt diesen statistisch relevanten Effekt.

Opportunismus erleichtert das Überleben

Die Urangst der Menschen vor sozialer Ausgrenzung und dem Verlust des Schutzes der Gemeinschaft ist für diesen Mechanismus verantwortlich. Sozialer Opportunismus hat offenbar Überlebenswert, sonst wäre der Mensch in Lauf der Evolution damit nicht so reichlich ausgestattet worden. Aus diesem Grund ist bei politischen und gesellschaftlichen Debatten auch das Argument „ad hominem“ so beliebt. Fehlt es einem zur Widerlegung einer missliebigen Analyse oder abgelehnten Meinung an sachlichen Argumenten, so bietet es sich an, die Ablehnung einer Meinung oder Analyse auf die Person zu übertragen, die diese vertritt.

So wurde über Martin Luther im April 1521 nach seinem Auftritt auf dem Reichstag zu Worms die Reichsacht verhängt, er war nun vogelfrei. Den weiteren Fortschritt der Reformation hielt das nicht auf, es verewigte vielmehr die Kirchenspaltung.

Mit Argumenten „ad hominem“ konnte auch ich seit 2010 reichlich Erfahrungen sammeln. Ich gehe damit eher locker um. Es offenbart die Schwäche meiner Gegner, wenn sie den sachlichen Austausch verweigern oder in persönliche Herabsetzung flüchten. Aber die Waffe der sozialen Ausgrenzung wirkt natürlich auch: Wer sich zur Ablehnung der Person moralisch ermächtigt sieht, ist der Notwendigkeit enthoben, deren Schriften zu lesen und Argumente anzuhören.

In meinen Erfahrungen als Autor ist es ein wiederkehrendes Muster, dass für meine Lesungen kommunale Vortragssäle gesperrt oder Vorträge abgesagt werden, weil verantwortliche Politiker, die dies so wollen, entsprechend Einfluss nehmen. Ob es ihnen hilft? Ich glaube eher nicht. Der historische Aufstieg der SPD vor dem Ersten Weltkrieg war begleitet von den vergeblichen Versuchen ihrer Behinderung durch Bismarcks Sozialistengesetze. Wer eine Meinung administrativ oder durch soziale Ausgrenzung verhindern will, anstatt auf das bessere Argument zu vertrauen, wird es im demokratischen Austausch auf die Dauer schwer haben, solange ihm nicht die Einrichtung einer Diktatur gelingt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Züricher Weltwoche.

 

Dr. Thilo Sarrazin, geb.1945 in Gera, aufgewachsen in Recklinghausen. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Bonn. Er bekleidete zahlreiche politische Ämter und war unter anderem von 2002 bis 2009 Senator für Finanzen im Land Berlin. Sein im August 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ löste eine anhaltende Diskussion aus und wurde zum meistverkauften deutschen Sachbuch seit 1945.

Foto: Achgut.com

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Albert Martini / 15.05.2025

Donald der Schreckliche hat die totale Machtergreifung in letzter Sekunde verhindert und versucht jetzt mit aller Kraft, die Juden an den Universitäten zu schützen und den faschistoiden Linksmob zurückzudrängen. Der Anfangsvergleich im ansonsten guten Beitrag ist so klug wie geschmackvoll.

Judith Siart / 15.05.2025

Zitat: “[...] sonst wäre der Mensch im Lauf der Evolution [...]” ++ Beweisen Sie doch erst einmal “Ihre” Evolution. Hat der Autor bis heute immer noch nicht mitbekommen, daß diese nicht nur nicht beweisbar ist, sondern längst widerlegt? ++ Nutzt der Autor nicht die gleiche Masche, wie diejenigen, die ihn bekämpfen? ++ Wenn das die Krönung “Ihrer” Denkarbeit sein soll, dann gute Nacht.

Marcel Seiler / 15.05.2025

“Wer eine Meinung administrativ oder durch soziale Ausgrenzung verhindern will, ... wird es im demokratischen Austausch auf die Dauer schwer haben, ...” Meine Hoffnung auf die segensreiche Wirkung der Wahrheit ist in den letzten Jahren stark beschädigt worden. Die Macht der Propaganda hat erheblich zugenommen. Dazu die Korruption der Justiz, die “unerwünschte” Informationen (nicht nur Meinungen) immer konsequenter als kriminell verfolgt. Um das Lügengebäude der Nazis zu zerstören, hat es die materielle und seelische Zerstörung ganz Deutschlands gebraucht. Wie wird es diesmal ausgehen?

Winston Smith / 15.05.2025

Sozialer Opportunismus ist eine Folge der simplen Tatsache, dass der Mensch nur in einer sozialen Gemeinschaft überleben kann. Aber das ist nicht neu. Opportunismus erleichtert das Überleben in erster Linie in einer Diktatur. In einem liberalen bürgerlichen Rechtsstaat hat eine oppositionelle Meinung eventuell unangenehme ökonomische Folgen, aber deswegen ist das Leben nicht bedroht, man geht deswegen noch nicht einmal in den Knast - das Wort “Überleben” ist hierbei fehl am Platz. ++ Der Vergleich zwischen den USA und Nazi-Deutschland ist total abwegig. Anstatt Trump und den immer noch gut funktionierenden US-Kapitalismus zu denunzieren, sollte der ehemalige Polit-Beamte Sarrazin besser den riesigen Scheißhaufen im Wohnzimmer des absolutistischen EU/deutschen Beamtenstaates thematisieren. ++ (1) In den USA ist Trump regulär an die Macht gewählt worden. Im EU/deutschen Beamtenstaat vollkommen undenkbar. Dank der demontierten Meinungsfreiheit in Schland würden hier eine ganze Menge US-Bürger (inclusive US-Politiker) im Knast sitzen. In den USA wird niemand zu 7 Monaten Knast verurteilt, wenn er Trump auf einer Fotomontage durch den Kakao zieht. ++ (2) News-Redaktion von gestern: Google will drei Kernkraftwerke finanzieren. Zitat: “Auch Amazon will einen ähnlichen Weg schreiten, wie praktisch alle großen Tech-Konzerne: Amazon schloss Vereinbarungen mit drei Energieunternehmen zur Entwicklung neuer SMRs”. Während im Schland 20 große KKWs geschreddert wurden, im weltweiten Vergleich mit die besten und leistungsstärksten KKWs.

Petra Göllwarth / 15.05.2025

@B.Michalski: Genau meine Meinung!

E Ekat / 15.05.2025

Zitat Sarrazin : “Die sozialen Mechanismen, die in menschlichen Gesellschaften zur Anpassung an dominierende Zeitströmungen und wahrgenommene Erwartungen führen, sind in Psychologie und Soziologie vielfältig erforscht und sattsam bekannt”. Zitatende. >>> “Sattsam bekannt” das weist noch nicht darauf hin wer diese Kenntnisse anwendet. Für eine freie Gesellschaft, die auch frei bleiben soll ist es jedenfalls ein Unding, wenn politische Organisationen, gar Regierungsstellen dazu übergehen, derartige Techniken auf den Souverän anzuwenden, um diesem dadurch seine unverzichtbare Vormachtstellung zu entwinden. Genau dies ist geschehen.  Noch fataler haben sich die dazu anberaumten Hintergrundgespräche zwischen Politikern und führenden Journalisten herausgestellt, in denen erörtert wird, was in der Öffentlichkeit nicht mehr diskutiert werden sollte. Die Eitelkeit der Spitzenjournalisten als Klebstoff. Damit wurde die Kontrollaufgabe der Medien abgeschafft, die Öffentlichkeit zunehmend ahnungslos gestellt. Ergebnis: ein ahnungsloser Souverän, der mit psychologischen Methoden geführt, geblendet wird. Status der Demokratie: Absolut Hoffnungslos.

Dr. Leonid Basovski / 15.05.2025

Ein unverschämter Vergleich der Machtergreifung durch A. Hitler mit der Wahl von D. Trump. Offensichtlich steckt doch in jedem Deutschen ein Antisemit. Sarrazin.

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