Die Klagen Polens und Ungarns werfen die politische Frage auf: Bleiben die EU-Mitgliedstaaten bei der Organisation ihrer Justiz souverän oder müssen sie Einwirkungen der Europäischen Kommission hinnehmen?
Vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg wird gegenwärtig ein für die Zukunft der europäischen Rechtsordnung wichtiges Verfahren verhandelt. Es geht um die Klagen Polens und Ungarns gegen den sogenannten Rechtsstaatmechanismus, mit dem Zahlungen aus dem EU-Budget ausgesetzt werden können. Die dabei rechtlich entscheidende Frage, ob die von den europäischen Gewalten in Anspruch genommene Verordnung sich auf Art. 2/7 des Europäischen Vertrags (EUV) oder auf Art. 352 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) stützen kann, ist dabei gewiss von juristischer, aber nicht so sehr von politischer Bedeutung. Denn die politische Frage lautet: Bleiben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Organisation ihrer Justiz souverän oder müssen sie Einwirkungen der Europäischen Kommission unter Berufung auf die Rechtsstaatsgarantie des Art. 2 EVU dulden und gegebenenfalls auch die Suspendierung von finanziellen Subventionen aus dem EU-Haushalt hinnehmen?
Die Wellen schlagen hoch, zumal Polen bereits aus geschichtlichen Gründen widerständig und souveränitätsbewusst ist, sein Souveränitätsbewusstsein aber mit einem Nationalismus verbindet, der („Jetzt sind wir dran!“) auf dem Standpunkt steht: „Her mit dem Brüsseler Geld, man schuldet es uns schon lange, und nun lasst uns bitte in Ruhe.“
Glücklicherweise ist dies nicht die Meinung aller Polen. Hiervon zeugen eindrucksvoll die Proteste liberal-bürgerlicher Kreise in der polnischen Hauptstadt. Die Debatte, die juristisch durch ein Marionetten-Verfassungsgericht in Warschau unterlegt wird, das mit handverlesenen Parteigängern der herrschenden PiS-Partei besetzt ist und ein kurzes, nahezu begründungsloses Urteil vorlegte, mit dem polnisches Verfassungsrecht über die Europäischen Verträge gestellt wird, ist gleichwohl politisch stimulierend. Hat sie doch dazu geführt, dass das Vertragsverletzungsverfahren von Frau von der Leyen gegen ihr eigenes Land wegen des EZB-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020 in einem ganz neuen Licht erscheint.
Wie viel von der nationalen Eigenständigkeit soll übrigbleiben?
Zum einen geht es juristisch um das Verhältnis von europäischer Rechtsordnung und nationaler Verfassungsidentität, zu der zweifelsohne in Deutschland eine Verfassungsgerichtsbarkeit gehört. Zum anderen erhält der Bürger Gelegenheit, über das Verhältnis der EU-Hoheitsträger zu den nationalen Rechtsordnungen nachzudenken.
In einer Zeit, in der Brüssel pausenlos unter Berufung auf die Binnenmarktklausel des Art. 114 AEUV immer neue Verordnungen mit Zentralisierungstendenz beschließt und sich mittels des „Wiederaufbaufonds“ in die nationale Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten massiv einmischt, ist Nachdenken darüber geboten, wie viel von der nationalen Eigenständigkeit – noch dazu in juristisch-identitären Bereichen – übrigbleiben soll.
So hat – kein Wunder für den Beobachter der französischen Szene – der Streit zwischen Brüssel/Luxemburg und Warschau auch in Paris Wellen geschlagen. Der prononciert nationalistische Journalist Éric Zemmour wollte es nicht versäumen, in die polnische Kerbe zu hauen und darauf hinzuweisen, dass die französische Souveränität über den europäischen Gewalten stehe. Schnell folgte ihm die Präsidentschaftsbewerberin Pécresse, um aus französischer Sicht klarzustellen, dass es kraft EU-Vertrages kein übernationales Recht gäbe.
Souveränitätsbewusstsein wird mit Nationalismus gleichgesetzt
Mit souveränistischen Diskursen kann man in Frankreich immer punkten, weil von links bis rechts Konsens darüber besteht, dass die Nation über allem stehe. Nicht so in Deutschland. Hier eröffnete die Europäische Kommission wegen eines verfassungsgerichtlichen Urteils – das einer Gerichtsbarkeit entstammt, die in Unabhängigkeit von der Bundesregierung zur EZB-Politik Recht gesprochen hat – ein Vertragsverletzungsverfahren.
Kaum zu glauben: Wegen eines verfassungsgerichtlichen Urteils soll die Bundesrepublik Deutschland die europäischen Verträge verletzt haben. Auf diesen Griff Brüssels nach souveräner Staatlichkeit, die auch die EU-Befugnis umfasst, im Namen der europäischen Rechtsordnung deutsche Gerichte in die Schranken zu weisen, fand die Bundesregierung nur eine lapidare, kleinmütige, juristisch wenig qualifizierte Antwort, die darauf zielte, den Konflikt mit der EU – insbesondere wegen der „deutschen“ Präsidentin von der Leyen – nicht hochkochen zu lassen. Noch verwunderlicher ist es, dass es in der deutschen Bürgergesellschaft keinen Protest gegen die Anmaßungen der Brüsseler Elite gegeben hat. Von Unterschriftenlisten deutscher Staatsrechtslehrer abgesehen, äußerte sich kein Unmut der Bürger. Und auch die deutschen Politiker benahmen sich einmal mehr wie Bundes-Heinzelmännchen. Sie nahmen das Problem nicht einmal zur Kenntnis oder versuchten, es zu marginalisieren.
Zu lange ist Souveränitätsbewusstsein mit Nationalismus gleichgesetzt worden. Zu lange ist von den deutschen Befürwortern des Binnenmarktes die EU-Veranstaltung als eine Abrüstung nationaler Souveränität qualifiziert worden. Diese Irrungen haben dazu geführt, dass die Deutschen ihr Souveränitätsbewusstsein auf die Identifikation mit der Fußball-Nationalmannschaft und der nun vergangenen Währung beschränkt hatten und im Übrigen der Meinung waren, in Europa aufgehen zu müssen, wenn nur der Binnenmarkt den deutschen Produkten guten Absatz beschere.
Und die Bundes-Heinzelmännchen klatschen dazu
Es ist bezeichnend, dass in einem Land, welches den Aufklärungsdenker Rousseau hervorgebracht hat, der Begriff der Souveränität hoch im Kurs steht und das Souveränitätsbewusstsein entsprechend entwickelt ist. So heißt es bei Rousseau, dass die Souveränität niemals veräußert werden könne und dass dieselbe unteilbar sei. [1] Souveränität, also die Entscheidungsbefugnis eines Volkes über seine Bestimmung – so wie sie de Gaulle stets am Herzen lag – ist ein hohes Gut und darf nicht mit Nationalismus verwechselt werden. Der populistische links-grüne Diskurs, der sich in der Bundesrepublik Deutschland über die öffentlich-rechtlichen Medien verbreitet, suggeriert das Gegenteil. Die Bundes-Heinzelmännchen klatschen dazu und applaudieren so dem Untergang ihres Landes. Daher lesen wir noch einmal Rousseau:
„Aber da unsere Staatsmänner die Souveränität in ihrem Ursprung nicht zerteilen können, zerteilen sie sie in ihrem Bezug. Sie teilen sie auf in Kraft und Willen, in Legislative und Exekutive, in Steuerhoheit, Gerichtshoheit, Recht und Kriegsführung in innerer Verwaltung und die Befugnis, mit dem Ausland zu verhandeln: Bald werfen sie all diese Teile wirr durcheinander und bald unterscheiden sie sie säuberlich. Sie machen aus dem Souverän ein Phantasiewesen, aus den zusammengewürfelten Stücken bestehend.“ [2]
Es ist zu hoffen, dass sich Volkssouveränität – also die Voraussetzung von Demokratie – alsbald im Bewusstsein der deutschen Bürgergesellschaft wieder heimisch machen wird. Dies setzt voraus, dass die politische Klasse sich überhaupt über dieses wertvollste Gut eines Gemeinwesens im Klaren wird. Davon scheinen wir in Deutschland noch weit entfernt zu sein.
[1] Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, 2. Buch 1. Kapitel, 2. Kapitel.
[2] Rousseau op.cit. 2.Buch, 2. Kapitel
Prof. Dr. jur. Markus C. Kerber lehrt an der Technischen Universität Berlin öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik, Er ist Gründer von www.europolis-online.org