Über keine Frage wird zwischen den Parteien so kontrovers gestritten wie über die Einwanderung. Dabei geht alles durcheinander. Das Asylrecht für politisch Verfolgte, das niemand in Frage stellt, wird vermengt mit Kriegsflüchtlingen, denen Schutz gewährt werden muss. Aber dies ist hier nicht mein Thema. Über eine Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen – und es geht dabei nicht um Wirtschaftsflüchtlinge, sondern um den „Facharbeitermangel" – aber sind sich alle Parteien einig. Nur das „Wie“ und „Wie viele“ ist umstritten.
Gerne wird dabei auf andere Einwanderungsstaaten verwiesen, zum Beispiel Kanada. Völlig unerwähnt werden die unterschiedlichen Ausgangssituationen in Bezug auf die Bevölkerungsdichte. In Kanada kommen vier Einwohner auf einen Quadratkilometer. Beispiele weiterer Einwanderungsländer: Australien drei, Neuseeland 17, die USA 33 und Schweden 22. In Deutschland dagegen sind es 226 Einwohner pro Quadratkilometer. Ein Staat, der in Bezug auf Bevölkerungsdichte und Wirtschaftskraft eher mit Deutschland verglichen werden kann, ist Japan. (Bevölkerungsdichte pro km²: 335) Aber da schaut kaum einer hin.
Einwanderung als Produktivitätsbremse
Zu meiner Zeit als Autor und Korrespondent in Tokyo habe ich einen anderen Weg kennengelernt, wie die damals noch zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit dem Problem des Arbeitskräftemangels umging. Ähnlich wie die Bundesrepublik boomte die Exportwirtschaft dank einer unterbewerteten Währung. Aber trotz Millionen unbesetzter Arbeitsplätze ließ die Regierung keine Ausländer anwerben. Die Vorgabe an die Wirtschaft war sehr einfach: „Zahlt entsprechend hohe Löhne, und dann finden sich auch Arbeitskräfte. Ist die Produktivität des Arbeitsplatzes aber so niedrig, dass keine Lohnerhöhungen tragbar sind, dann exportiert diese niedrigen Produktivitätsjobs ins Ausland." Das war der Beginn der japanischen wirtschaftlichen Eroberung Ostasiens.
Diese Doktrin setzte aber noch eine zweite, bis heute spürbare Entwicklung in Gang: Die japanischen Unternehmen forschten und investierten massiv in die Automatisierung der Wirtschaft. Ich erinnere mich noch gut an den Besuch des Nissan-Werkes in Zama, wo die erste Roboterstraße der Welt Autos fertigte. Ein Blick auf die Montagebänder bei Ford in Köln zur gleichen Zeit zeigte eine Werkhalle voller Türken mit deutschen Vorarbeitern. Dort Roboter, hier „Gastarbeiter". Nach der Ölkrise 1973, als die Automatisierung auch in Deutschland nicht mehr aufzuhalten war, pilgerten bis in die 90er Jahre deutsche Automobilhersteller nach Japan, um herauszufinden, warum dort fertige Autos in bis zur Hälfte der Zeit – verglichen mit Deutschland – vom Band liefen. Diesen Vorsprung haben die deutschen Produzenten bis heute nicht aufholen können. Der Import billiger Arbeitskräfte hat den Produktionsfortschritt in Deutschland gebremst.
Die Flucht vor Phrasendreschern
Zurück nach Gelsenkirchen. Von den 260.000 Einwohnern sind 186.450 Deutsche. Wie viele davon einen Migrationshintergrund haben, ist nicht erfasst. Das Durchschnittsalter der deutschen Männer beträgt 48,76, das der Frauen 51,39 Jahre. Das waren einmal diejenigen, die fest zur SPD standen, und aus deren Reservoir immer noch die 33,8 Prozent kommen, die übrig geblieben sind. Gerade in den ehemaligen Berg- und Stahlarbeiter-Stadtteilen feierte die AfD ihre Rekordergebnisse von 28% (Rotthausen) und Grillostraße 27 Prozent. Nur wer völlig verbohrt ist, wird behaupten, dass diese AfD-Wähler praktisch über Nacht zu Rechtsradikalen oder gar Faschisten mutiert sind.
Wenn Sigmar Gabriel für die SPD darüber nachdenkt, dass sich auch ihre ehemaligen Wähler und Wählerinnen einen „sicheren Grund unter den Füßen" wünschen, sich also auch eine Heimat wünschen, die in ihren Augen verloren gegangen ist. Nicht nur in Gelsenkirchen fühlen sich gerade ältere Menschen fremd in ihrer eigenen Umgebung. Nein, die sind nicht fremdenfeindlich oder ausländerfeindlich, sie wollen nur nicht, dass das Fremde ihre „Heimat", ihr Viertel übernimmt. Die SPD hat sie dabei alleine gelassen.
Sie hat mitgemacht, als wir Millionen Gastarbeiter ins Land geholt haben, ohne zu verhindern, dass sie in Deutschland ein neues Prekariat bilden. Und seit dem Zusammenbruch der deutschen Nahostpolitik, die zur unkontrollierten Masseneinwanderung führte, unterstützte die SPD bedingungslos die „Willkommenskultur" der orientierungslosen CDU-Kanzlerin. Wieder werden zuerst die sozial Schwachen, die Unterbeschäftigten und die einfachen Arbeiter die Folgen spüren.
Die SPD mahnt zwar, dass die Milliarden, die uns die Flüchtlingswelle kosten, nicht zu Lasten derjenigen gehen dürfen, die bisher vergebens auf eine Verbesserung ihrer schwierigen Situation hofften, weil für sie kein Geld da sei. Aber das einzige Rezept, das sie anbietet, ist mehr Umverteilung durch höhere Steuern für die Besserverdienenden und staatliche Unterstützung der unteren Einkommensschichten. Ein Rezept, das bei der ersten Gastarbeiterwelle nicht funktioniert hat und das jetzt – wie überall auf der Welt – auch wieder nicht klappt.
Juristen und Politologen an die Front
Ein Blick auf die Zusammensetzung der neuen, 153 Mitglieder starken Bundestagsfraktion gibt darüber eine von mehreren Antworten, warum die SPD den Kontakt zu ihrem Klientel verloren hat. Aus dem Arbeiter- und Handwerksmilieu stammen nur ganz wenige Abgeordnete, und auch die nur noch wegen der Herkunft ihrer Eltern. Dazu gehört sicher Sigmar Gabriel. Waren es früher vor allem Lehrer, die in die Parlamente drängten, so sind es heute Juristen und Politologen. In der SPD-Fraktion sind es 53. Weitere 42 Abgeordnete stammen aus der SPD-Nomenklatura: Sie arbeiteten früher für die Partei oder in einem Job, den die Partei zu vergeben hatte, dienten Abgeordneten in deren Büro und hatten einen nahtlosen Aufstieg von Jungsozialisten über den Parteiapparat zu SPD-Mandaten – und schließlich als Krönung ein Bundestagsmandat. Für die trifft der Spott zu: Die Sozialisierung erfolgt in der Reihenfolge: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal.
Seit der letzten Wahl heißt der neue Bundestagsabgeordnete für Gelsenkirchen, Markus Töns. Ein braver Parteisoldat, der sein ganzes Berufsleben für die SPD oder ihr nahestehenden Organisationen tätig war und jetzt vom Landtag in den Bundestag aufgerückt ist. Natürlich hat auch er seinen Wahlkampf mit dem SPD-Schwerpunkt „Mehr soziale Gerechtigkeit” geführt.
Aber hat er seinen Rentnern und den vielen Einwohnern der Stadt mit schmalen Einkommen erklärt, warum sie durch hohe Strompreise für die Renditen der Investoren in Windkraftanlagen und Sonnenkollektoren bezahlen müssen? Hat er einmal darüber nachgedacht, dass die ganzen Energiesparappelle für ältere Menschen zynisch sind? Da wird im Fernsehen eine gutverdienende junge Familie gezeigt, die die Temperatur in ihrem Haus bei 18 Grad Celsius belässt und die Kinder dafür Wollmützen tragen (war keine Satiresendung). Ältere Menschen benötigen mehr Wärme und mehr Licht. Sie können auch nicht ihre Küchengeräte schnell mal durch neue Energiesparmodelle ersetzen. Und wenn sie eines der früheren Bergarbeitersiedlungshäuschen besitzen, dann haben sie gewiss nicht die Kapitalreserven, um es schnell mal mit einem KfW-Kredit zu dämmen.
Auf Kosten der Rentner: Klimaschutz a la SPD
Eine Fraktion, die so viele Juristen und Soziologen hat, sollte doch in der Lage sein, die Energiewende wegen des CO2-Ausstoßes, an die die SPD ja unerschütterlich glaubt, wenigstens so zu gestalten, dass nicht mit diesem Vehikel eine noch nie dagewesene Umverteilung von unten nach oben betrieben wird. Gabriel in seinem Aufsatz: „Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze." Stimmt.
Nur muss hier seinem Kritiker, dem hessischen SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel, zugestimmt werden: War Sigmar Gabriel nicht einmal Umweltminister, Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender? Nur, Schäfer-Gümbel nimmt diese Kritik zum Anlass, Gabriels Gedanken gleich ad acta zu legen und will sich weiter in den Wolkenkuckucksheimen der klimatologischen Weltrettung einrichten. Aber da sitzen schon die Grünen und die obergrüne Kanzlerin drin. Da ist kein Platz mehr für gestandene Arbeitnehmervertreter.
Die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles, die sich ja besonders für die soziale Gerechtigkeit stark macht, könnte ja mal einen ihrer vielen Juristen beauftragen, herauszufinden, was in den letzten Jahren stärker gestiegen ist: Die Erhöhungen der Bezüge für Kleinrentner oder die Stromrechnung, und was dann vielleicht noch für den Rentner übrig geblieben ist.
Wählerkiller: Die Vereinigten Staaten von Europa
Der amtierende Parteivorsitzende Martin Schulz hat die SPD aufgefordert, mit ihm zu kämpfen, um bis 2025 die Grundlagen für die „Vereinigten Staaten von Europa" zu schaffen. Soll das die Bergarbeiter in der Braunkohle beruhigen, wenn ihnen gerade gedroht wird, sie alsbald überflüssig zu machen? Im Gegensatz zur Steinkohle ist die deutsche Braunkohle wettbewerbsfähig, kommt ohne Subventionen aus, solange sie nicht wegen des CO2 für den Weltuntergang verantwortlich gemacht wird. Den Grünen sind die Bergarbeiter und deren Milieu egal. Dort werden sie sowieso nicht gewählt.
Für die SPD aber ist das ruinös. Ein Ratschlag: Der deutsche Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß ist 2 Prozent, davon weniger als die Hälfte von Menschen verursacht. Indien und China bauen mehr Kohlekraftwerke pro Jahr, als Deutschland in Betrieb hat. Fazit: Am Weltklima ändert der deutsche Ausstieg überhaupt nichts. Vielleicht wäre das eine Botschaft für die SPD. Sonst wird sich die AfD auch noch diesem Thema zuwenden und im Reservoir der nichtakademischen Wähler der SPD weiter Stimmen sammeln.
Die „Vereinigten Staaten von Europa" sind für die deutschen Arbeitnehmer eine Schimäre. Als Wahlkampfhit ein absolut untaugliches Thema. Der Gelsenkirchener MdB Markus Töns will demnächst die Bewohner der Stadtteile besuchen, in denen die AfD so erfolgreich war. Da kann er ja mal fragen, ob die Schulz’schen Vorstellungen von Europa die Wähler bei der nächsten Abstimmung zur SPD zurückholen, oder ob sogar sein Wahlkreis mit solchen Botschaften wackelt.
Wie schnell das passiert, könnte er bei der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg in Mannheim erkunden. Dort ging der letzte SPD-Direktwahlkreis des Landes direkt von der SPD an die AfD. Wer einmal an einem Sonnentag durch die Innenstadt Mannheims bummelt, kann die Ursachen sofort erkennen – ohne Gutachten. Es gibt ganze Straßenzüge, die wie Ostanatolien aussehen. Deutsch ist da eine Fremdsprache. Das scheint den Arbeitern, die bisher die Innenstadt Mannheims prägten, nicht zu gefallen – ob das der SDP-Führung gefällt oder nicht.
Im dritten Teil lesen Sie: „Blindheit oder Unfähigkeit?“
Teil 1: „Gelsenkirchen landunter“