Ja, es gibt ihn, den Krieg in Europa, aber kaum jemand spricht darüber. Seit ein bröckeliger Waffenstillstand ausgehandelt wurde, wird ein Mantel des Schweigens über die Kampfhandlungen gebreitet. Doch plötzlich flammt der Konflikt wieder hoch. Aktuell gibt es die unbewiesene Behauptung, Russland habe „mehr als 150.000 Soldaten“ an der Grenze zur Ukraine und auf der annektierten Halbinsel Krim stationiert. Das sagt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, ohne die Quelle seiner Angaben zu benennen.
Aber: Ist diese Ukraine, die lange Bestandteil der Sowjetunion war, überhaupt Europa? Wenn man von ihr gehört hat, dann am ehesten vom Reaktorunglück im Tschernobyl, dessen 35. Jahrestag noch nicht so weit zurückliegt. Und dann kommt dieser Ausnahmeschriftsteller Andrej Kurkow und schreibt ein Buch über das Leben in diesem Krieg, das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.
Kurkow, geboren 1961 in Leningrad, bald jedoch nach Kiew verfrachtet, wo er heute noch lebt, war, bevor er anfing, Bestseller zu schreiben, Journalist und während seines Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher, bis er sich als freier Autor etabliert hatte. Sein Roman „Picknick auf dem Eis“ wurde ein Welterfolg. Sein jüngstes Werk „Graue Bienen“ hat ebenfalls das Zeug dazu.
Strom gibt es schon lange nicht mehr
Sein Held Sergej Sergejitsch lebt in Malaja Starogradowka, einem verlassenen Dorf in der „grauen Zone“ zwischen den Fronten der Ukraine und der Freien Republik Donezk, die von den Separatisten ausgerufen wurde, im Bestreben, den Donbass von der Ukraine loszulösen und zu einem Teil Russlands werden zu lassen. Seit Jahren beschießen sich die Kriegsparteien über die graue Zone hinweg. Sergejitsch ist nicht wie die meisten anderen Dorfbewohner geflüchtet. Er wollte Haus, Hof und Bienen nicht allein lassen. Der Leser begegnet Sergejitsch zum erstmals gegen drei Uhr nachts, als er von der Kälte aufwacht. Der von ihm selbst gebaute Kaminofen spendete keine Wärme mehr. Die Kohleeimer waren leer. Also ging Sergejitsch mit Mantel und Filzstiefeln bekleidet nach draußen, um Nachschub zu holen.
„Irgendwo in der Ferne feuerte ein Geschütz. Eine halbe Minute später wieder ein Schuss.“ Können die nicht schlafen, oder wollen sie sich aufwärmen, fragte sich Sergejitsch, als er ins Haus zurückkehrte.
Der Krieg war Alltag geworden, an den er sich gewöhnt hatte. In all den Jahren hatte es in Malaja Starogradowka nur die Kirche und ein Haus erwischt. Allerdings gab es schon lange keinen Strom mehr, also keinen Fernseher, keine Nachrichten. Lebensmittel zu beschaffen, war eine Aufgabe, die viel Zeit und Kraft in Anspruch nahm. Außer Sergejitsch ist nur sein Kindheitsfeind Pascha im Dorf geblieben. Die beiden Männer sehen sich ab und zu, helfen sich auch einmal, aber kommen sich kaum näher. Noch hat der Winter das Leben fest im Griff, es fließt unter der Kälte gemächlich dahin. Sergejitsch vermisst nicht viel. Er hat seine täglichen Verrichtungen und seine Erinnerungen, die wie ein Film ablaufen.
Er lässt sich von seinem Bauchgefühl leiten
Eines Tages bekommt er überraschend Besuch von Pedro, einem Soldaten. Der liegt seit über einem Jahr im ukrainischen Schützengraben und beobachtet das Dorf. Nun will er den Mann, den er täglich durch den Feldstecher sieht, kennenlernen. Pedro bringt etwas Essen mit und verspricht, Sergejitschs Handy aufgeladen wiederzubringen. Er kann nur nachts kommen, tagsüber hat ein Scharfschütze die Gegend unter Kontrolle. Den lernt Sergejitsch später auch kennen, denn es ist ein Bekannter seines Freundfeindes Pascha, ein Sibirier, der beschlossen hat, die Separatisten zu unterstützen. Allerdings gibt der Sibirier nur ein kurzes Gastspiel, denn nachdem Sergejitsch Pedro dessen Liegplatz verraten hat, wird er von den Ukrainern unschädlich gemacht.
Als sich der Frühling nähert, beschließt Sergejitsch, seine Bienen in ruhigere Gefilde zu bringen. Zum Glück ist sein alter grüner Schiguli bei der Requirierung von Fahrzeugen für den Krieg übersehen worden. Er kann seine sechs Bienenkästen auf den Hänger laden und in die Ukraine fahren. Am Checkpoint wird er nachsichtig behandelt. Einem aus der grauen Zone verzeiht man sogar die sowjetische Fahrerlaubnis. Er bekommt ein Papier, das er bei künftigen Kontrollen vorweisen soll, und darf durch.
Er lässt sich von seinem Bauchgefühl leiten, landet an einem Waldrand, der an Felder grenzt, schlägt dort sein Zelt auf und lädt die Bienenkästen ab. Im nahen Dorf lernt er die Verkäuferin Galja kennen, die ihm nicht nur seinen Honig abnimmt und verkauft, sondern täglich frisch gekochte Mahlzeiten bringt, sogar die Suppe Borschtsch, von der er seit Kriegsbeginn nur träumen konnte. Die Frühlings-Idylle endet jäh, nachdem ein gefallener Soldat ins Dorf zurückgebracht wurde. In der Westukraine werden solche Gefallenen von den Bewohnern ihrer Heimatorte am Straßenrand kniend empfangen. Sergejitsch kniet sich zwar neben Galja hin, spürt aber gleichzeitig seine Fremdheit und dass er nie Teil dieser Gemeinschaft werden würde.
Tataren und Russen reden nicht miteinander
Er zieht weiter, auf die Krim. Vor zwanzig Jahren hatte er auf einem Bienenzüchterkongress Achtem, einen Krimtataren, kennengelernt. Ein Bienenzüchter wird einen andern nicht abweisen. Der Grenzübergang nach Russland, zu dem die Krim wieder gehört, ist nicht einfach. Sergejitsch bekommt 90 Tage Aufenthaltserlaubnis und wird darauf hingewiesen, dass ihm Asyl nicht gewährt wird.
Auf der Krim ist es warm, die Vegetation ist üppig, es gibt Wein. Hier müsste man wohnen, ist Sergejitschs erste Reaktion. Er findet Achtems Dorf und sein Haus. Achtem selbst ist aber vor Jahren von russischen Milizen mitgenommen worden und nicht wieder aufgetaucht. Es ist ein tatarisches Dorf, Albat, das jetzt Kujbyschewo heißt und auch von Russen bewohnt wird. Tataren und Russen reden nicht miteinander. Sergejitsch wird schief angesehen, weil er in einem tatarischen Haus verkehrt.
Als Achtems Frau Sergejitsch bittet, bei der Kriminalpolizei in der Kreisstadt nach dem Schicksal ihres Mannes zu fragen, kommen die Dinge in ungute Bewegung. Zwar bekommt Sergejitsch keine direkte Auskunft, aber zwei Tage später werden die Überreste von Achtem seiner Witwe übergeben. Es gibt aber keinerlei Erklärung, wie Achtem ums Leben kam. Bald darauf wird Achtems 18-jähriger Sohn verhaftet, weil er angeblich Kirchenkerzen gestohlen hätte. Zwar kann Sergejitsch beweisen, dass diese Bienenwachskerzen ein Geschenk von ihm sind, damit die Familie bei Stromausfall nicht im Dunklen sitzen muss. Aber das führt nicht zur Freilassung des jungen Mannes. Er muss ins Gefängnis, oder zum Militär, das kann er wählen. Es gibt sogar ein Drittes: Seine Mutter könnte ihn freikaufen, wenn sie genug Geld hätte.
Sergejitsch erfährt, dass der Krieg auch die schöne Krim beherrscht, nur verdeckt.
Im Krieg ist es am besten, zu Hause zu bleiben
Als seine 90 Tage sich dem Ende nähern, bekommt er Besuch von zwei Geheimdienstagenten. Sie nehmen einen Bienenkasten mit. Den bekommt er vor seiner Abfahrt zwar wieder, aber die Bienen sehen irgendwie grau aus und neigen zum Schwärmen, obwohl das Volk nicht stark genug dafür ist. Sergejitsch steht vor einem Rätsel, um so mehr, als er zwischen den Waben eine Handgranate findet. Er entschließt sich, mit dieser Handgranate den Bienenstock zu zerstören. Eine graue Biene überlebt, wird aber nicht in einem der anderen Bienenkästen aufgenommen, sondern von den Wächterbienen verjagt.
Im Krieg ist es am besten, zu Hause zu bleiben, schlussfolgert Sergejitsch. Auf dem Weg zum Donbass nimmt er Achtems Tochter mit über die Grenze in die Ukraine. Das Land ist riesig und in Winnyzia, in der Nähe von Lemberg, tief im Westen, wohin Sergejitschs Frau gegangen ist, herrscht Frieden. Seine Frau wird sich um Achtems Tochter kümmern. Vielleicht wird auch Sergejitsch sich eines Tages nach Winnyzia aufmachen, aber vorerst kehrt er in sein Heimatdorf zurück. Der Winter ist nicht mehr fern. Die Baptisten werden Kohlen für den Winter bringen, aber nur denen, die zu Hause sind.
„Graue Bienen“ von Andrej Kurkow, 2019, Zürich: Diogenes. Hier bestellbar.