Vera Lengsfeld / 06.09.2020 / 15:00 / Foto: Pixabay / 4 / Seite ausdrucken

Sonntagslektüre: Die Villa

Hans-Joachim Schädlich wird von den Kritikern als einer der „ganz Großen der zeitgenössischen Literatur“ gewürdigt. Das liegt an seiner besondern Sprache, mit der er in knappen Worten lebhafte Bilder in der Phantasie seiner Leser entstehen lässt. So gelingt es ihm, zu beschreiben, was als unsagbar gilt. Wer wissen will, was das 20. Jahrhundert ausmachte, sollte zu Schädlichs Prosa greifen.

In seinem neuesten Buch „Die Villa“ erzählt Schädlich die Geschichte einer Familie aus seinem heimatlichen Vogtland. Die Geschichte umfasst den Zeitraum von Anfang der 1930er  bis in die frühen 50er Jahre, also die der umstürzlerischsten Zeit der Deutschen. Er entdämonisiert die Geschichte, macht aber gleichzeitig klar, wie ein Volk in den finstersten Totalitarismus seiner Geschichte hineinwachsen konnte.

Elisabeth, die weibliche Hauptfigur, wollte eigentlich gar nicht heiraten, sondern als erwerbstätige Frau ein unabhängiges Leben führen. Aber dann traf sie Hans, den dunkelhaarigen Mann, von dem ihr Bruder sagte, der sähe aus wie ein „Jud“ und alles wurde anders. Sie gebar vier Kinder, nach drei Jungen endlich das ersehnte Mädchen, und wurde Mutterkreuzträgerin statt Geschäftsfrau. Hans, der sehr bald NSDAP-Ortsgruppenleiter wurde, musste vorher wegen seines verdächtig nichtarischen Aussehens einen lückenlosen Herkunftsnachweis erbringen, um zu beweisen, dass sein Aussehen trog.

Der Aufstieg der Familie vollzog sich schnell und sichtbar. Erst konnte von den Einkünften aus dem Wollhandel, der damals einer der Hauptwirtschaftszweige von Reichenbach waren, ein Haus in einem der Stadt benachbarten Dorf gekauft werden. Die große Politik wurde nur am Rande wahrgenommen. Durch den Vertrag von München wurde das Sudetenland heim ins Dritte Reich geholt. Für die Familie brachte das den Vorteil, dass man nun eine Schwester Elisabeths besuchen konnte, ohne eine Grenze überschreiten zu müssen.

Bald wurde das Haus zu klein, und Hans musste sich nach einer größeren Bleibe umsehen. Er wählte die Gründerzeitvilla in Reichenbach, gebaut von einem Industriellen, die seit ein paar Jahren leer stand. Was mit den Besitzern geworden ist, wird verschwiegen, das war damals so üblich. Auch der jüdische Lehrer, der immer mit seinem Auto zur Schule gefahren war und in dessen Garten seine Schüler mit Vorliebe Obst klauten, war eines Tages verschwunden, und sein Auto wurde jetzt von dem neuen Besitzer des Lehrer-Hauses gefahren.

Das Leben einer verbrecherischen Sache gewidmet

Als 1939 der Krieg begann, fragte Elisabeth ihren Mann, ob man sich jetzt Sorgen machen müsste. Nein, denn es wird schnell zu Ende gehen. Hans brauchte keine Einberufung zu befürchten, denn er hatte einen Herzklappenfehler. Als die Villa 1940 bezogen wurde, hatte sich der Krieg schon ausgeweitet, aber war zu weit weg, als dass man sich Sorgen machte. In die Villa kam jeden tag Pierre, ein französischer Zivilzwangsarbeiter, der sich gemeinsam mit dem Hausmeister um den weitläufigen Garten kümmern musste. Dafür bekam er Essen und ab und zu heimlich eine Zigarette, weil der Hausmeister nur Pfeife rauchte, in die er lieber getrocknete Rosenblätter steckte, wenn der Pfeifentabak alle war, statt des Zigarettentabaks.

Im Jahr 1943 wurde Hans’ Herzklappenfehler akut. Parallel zur dramatischen Entwicklung an der Front nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad und aufkommenden Gerüchten, was mit den Juden im Osten geschah, erkannte er, dass er sein Leben einer verbrecherischen Sache gewidmet hatte:

„Ich habe Angst um dich und die Kinder. Die Schuld kommt über uns alle…Und da fragt Goebbels noch, ob wir den totalen Krieg wollen. Der Krieg ist längst total gegen Deutschland“. Elisabeth sagte: „Du darfst Dich nicht aufregen, es ist zu spät“.

Nach dem Tod von Hans muss Elisabeth die Villa verkaufen, darf aber im obern Stockwerk wohnen bleiben, während unten das Rote Kreuz einzieht.

Nun kommt der Krieg mit voller Wucht nach Reichenbach, mit Bombenangriffen und Einquartierung aus Berlin. Die Berlinerin spricht mit Pierre Französisch.

Die Zwangsarbeiter wohnen abseits in Baracken, von dort hört man ab und zu Gesang, aber zu sehen sind sie erst, als sie nach dem Einmarsch der Amerikaner in Kolonnen durch die Straßen Reichenbachs ziehen, zu den Repatriierungspunkten. Pierre winkt den Kindern der Familie zu, als er zum letzten Mal an der Villa vorbeikommt. Die Frauen tragen seltsame Kopftücher und werden gegen ihren Willen in die Sowjetunion abgeschoben.

Die deutsche Geschichte endet als Abrissunternehmen

Nach der Übergabe des Vogtlandes an die Rote Armee muss Elisabeth aus der Villa ausziehen und sich in einer kleinen Mietwohnung einrichten. Da ist sie immer noch besser dran als ihre sudetendeutsche Schwester, die über Nacht Haus und Hof verlassen musste, ohne mehr mitnehmen zu dürfen, als was in einen Rucksack passte. Es beginnt die Hungerzeit. Erwachsenen werden 1.500 Kalorien zugestanden. Wer nicht verhungern will, muss hamstern gehen. Zum Glück hat Elisabeth Möbel und Teppiche zu bieten, für die sie sowieso keinen Platz mehr hat. Sie bringt sich und ihre vier Kinder durch.

Die Villa wurde dann Volkseigentum und nach dem Mauerfall von der AWO übernommen. Nachdem die AWO ausgezogen war, wurde das Grundstück von einem bundesdeutschen Investor gekauft, der in Reichenbach eine Produktionsstätte für Aktenvernichter bauen ließ. Dabei stand die Villa im Weg. Obwohl sie unter Denkmalsschutz stand, wurde sie abgerissen.

Vorher wurde aber eine Fotodokumentation erstellt und verfügt, was beim Abriss geborgen werden sollte: Stuckdecken, Innentüren, Fenster, Bleiglas, Geländer, Dielen, Parkett, Natursteinstufen und Fußböden. Die deutsche Geschichte endet als Abrissunternehmen. Die Villa ist ein Gleichnis, exemplarisch für die Umbrüche des 20. Jahrhunderts.

Hans-Joachim Schädlich: Die Villa, Verlag Rowohlt

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Frances Johnson / 06.09.2020

Ich weiß wirklich nicht, wie viel Sinn es maht, so einen Roman zu schreiben. Ich kenne einen Mann, der in den Armen seiner Mutter zu Fuß nach Westdeutschland kam, einen weiteren Mann, der mit Mutter und Schwester zu Fuß dieselbe Reise überstand und diverse Leute, die später kamen. Man konnte das. Wenn der alte Bankier Pringsheim, dessen Wohnraum von Villa in der Arcisstraße München zu einem Raum schrumpfte, keinen gegen die Regeln agierenden Bürokraten kurz vor Kriegsende gefunden hätte, der ihm und seiner Frau einen Passierschein für die Schweiz gab oder verkaufte, wäre er im KZ gelandet. Deswegen auch njet.

Frances Johnson / 06.09.2020

Ich bin übrigens froh, dass die Villa von Thomas Mann immerhin versuchsweise nachgebaut wurde. Es ist ein Versuch, etwas ungeschehen zu machen, der nicht gelingt und dennoch etwas Tröstliches hat. Wenn Heinrich Breloer das Innenleben eines solchen Hauses darstellt und dort steht ein gleich hohes gleichwertiges Gebäude, kann man sich die Familie vorstellen. Und das ist besser als gar nichts. Der Roman hat etwas Trostloses. Ich brauche für jene Zeit immer etwas zum Festhalten. Daher bin ich den Weg nachgegangen, den Mann mit dem Bauschan gegangen ist, bis zur Maffei’schen Maschinenfabrik gegenüber, die dort nicht mehr ist. Etwas ist noch: Dieselben Bäume und der Fluss. Schlimm ist ein Nichts. Das betrifft die Juden mehr als die deutschen Opfer der Rotgardisten.

Frances Johnson / 06.09.2020

Ich danke Ihnen, Frau Lengsfeld, für die Zusammenfassung. Wie Marcel Seiler kann ich das im Moment auch nicht lesen.

Marcel Seiler / 06.09.2020

So ein Buch tue ich mir nicht an. – Überzeugt hingegen bin davon, dass das jetzige Deutschland als Abrissobjekt enden wird. Während Deutschland durch die Zerstörungen zweier Weltkriege irgendwie durchgekommen ist, wird es die merkelschen Zerstörungen nicht überleben.

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