Vera Lengsfeld / 13.09.2020 / 14:00 / 13 / Seite ausdrucken

Sonntagslektüre: Der Schmuggel über die Zeitgrenze

Chaim Noll ist einer der produktivsten deutschsprachigen Schriftsteller. Ihn zu lesen, ist immer ein Gewinn. Anlässlich des 30. Jahrestages des Endes des sozialistischen Experiments DDR habe ich noch einmal zu seinem bereits vor fünf Jahren erschienenen Buch „Schmuggel über die Zeitgrenze“ gegriffen. Es beschreibt Nolls Leben in der DDR innerhalb der Nomenklatura und wie er aus Erfahrung zum Gegner wurde, obwohl ihm alle Türen offen standen.

Noll ist der erste Sohn des Schriftstellers Dieter Noll, der mit seinem Roman „Die Abenteuer des Werner Holt“ bei der Kriegsgeneration in beiden Deutschlands eine Wirkung erzielte, die man durchaus mit der von Goethes „Das Leben des jungen Werther“ vergleichen kann. Er erzielte eine Millionen-Auflage und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. 

Chaim, der damals noch Hans hieß, erlebte den Aufstieg seines Vaters und seine Zerissenheit mit. Hans verbrachte eine behütet Kindheit im Prenzlauer Berg, in einem Häuserkarré, das von den Bomben verschont worden war. Im begrünten Innenhof gab es Blumen und Obstgehölze, man konnte auf der Wiese liegen und den Schmetterlingen nachschauen, oder sich nach außerhalb wagen, wo die Stadt noch in Trümmern lag, was von den Kindern als Abenteuerspielplatz wahrgenommen wurde. Nolls Beschreibung des Nachkriegs-Berlin mit seinen Bierkutschern und Trümmerfrauen, ist so lebendig, dass diese versunkene Welt vor den Augen des Lesers wieder aufersteht.

Vom Prenzlauer Berg zog die Familie erst in eine geräumige Wohnung, die von DDR-Flüchtlingen verlassen worden war, später in ein Haus am Zeuthener See. Außerdem verfügte man noch über eine Stadtwohnung am Straußberger Platz. An diesen Orten lebte Noll das privilegierte Leben eines Normenklatura-Kindes. Vater Noll bezog Zeitschriften, wie den Spiegel aus dem Westen, durfte in den verbotenen Teil der Stadt reisen und in den Devisen-Läden einkaufen. Trotzdem war dieses Leben für manche offensichtlich schwer zu ertragen. Hans Noll erlebt den heute vergessenen Schriftsteller Bodo Uhse, damals ein mächtiger Literaturfunktionär, der zum Alkoholiker wurde, weil er, wie sein Stiefsohn Joel Agee schrieb, der Meinung war, sein Leben sei verpfuscht. Er hätte sein Talent vergeudet und seine Seele an den „Schweinehund Stalin“ verkauft. Uhse starb mit 59 Jahren an einem Gehirnschlag, nachdem er schon vorher gesundheitlich angeschlagen war.

Ein ungeheurer Tabubruch

Vater Noll betäubte ähnliche Probleme mit Alkohol und Kettenrauchen. Nach den zwei Bänden Werner Holt brachte er jahrzehntelang nichts mehr zustande. An seinem letzten Roman „Kippenberg“ schrieb er 16 Jahre, doch an seinen Erfolg konnte er nicht anknüpfen. Seinen Ruf ruinierte Noll Senior, als er sich 1979 dazu hinreißen ließ, seine Schrifstellerkollegen, die gegen die Veröffentlichungspraxis im SED-Staat protestiert hatten, in einem Brief an Erich Honecker als „kaputte Typen“ zu denunzieren. Das mag heute, da missliebige Andersdenkende als „Nazis“ gebrandmarkt werden, eher trivial erscheinen. Damalls war es ein ungeheurer Tabubruch. Hans Noll erfuhr davon, als er in der Staatsbibliothek das „Neue Deutschland“ aufschlug und auf den Abdruck dieses Briefes stieß. Ein Kommilitone, der ihn beobachtet hatte, bedauerte ihn. Von vielen wurde er aber auch schief angesehen.

Nolls Buch ist ein Who is Who der DDR. Fast allen, die Rang und Namen hatten, ist er persönlich begegnet. Zum Beispiel Tutti Heartfield, die Frau des legendären John Heartfield, der von seinem Bruder Wieland Herzfelde überredet worden war, aus dem Exil in die DDR zurückzukehren, was er schwer bereute. Tutti war bis zu ihrem Tod verbittert über diese Entscheidung. Sie verachtete die DDR und ihre Machthaber aus tiefstem Herzen.

Oder Agi, die Mutter seiner ersten Freundin, die als jugendliche Emigrantin in Moskau mit Markus (Mischa) Wolf, den späteren Stasi-Spionagechef, und Wolfgang Leonhardt, dem Abtrünnigen aus der „Gruppe Ulbricht“, zur Schule gegangen war. Von Agi erfuhr Hans viel über Stalins Gulag und registrierte das Schweigen, das von ehemaligen Häftlingen darüber bewahrt wurde. 

Ein ähnliches Schweigen gab es in der Familie Noll über das Schicksal der Großmutter värterlicherseits, die als Jüdin mit einem „Arier“ verheiratet war und nur mit viel Glück die Naziherrschaft überlebte. Während sein Sohn sich früh zum Judentum hingezogen fühlte, hatte Dieter Noll bis zum Schluss Schwierigkeiten mit seiner jüdischen Herkunft.

Der feste Wille, sich nicht anzupassen

Eine entscheidende Wende nahm Nolls Leben, als er bei dem bekannten Grafiker Werner Klemke dessen Tochter Sabine begegnete. Sabine gehörte zu den ganz seltenen Menschen, die sich dem DDR-System systematisch und erfolgreich entzogen. Sie war nicht bei den Pionieren oder in der FDJ. Natürlich bot die Prominenz ihres Vaters einen gewissen Schutz, aber vor allem war es der feste Wille der jungen Frau, sich nicht anzupassen. Dabei war sie ganz konsequent.

Als Hans Noll den Wehrdienst verweigern wollte und man ihm in einem Gespräch auf dem Wehrkreiskommando anbot, ihn in einem rückwärtigen „sensiblen“ Bereich einzusetzen, sagte Sabine zu ihrem Mann: „Wenn Du das machst, sind wir geschiedene Leute“. Noll, der auf keinen Fall eingezogen werden wollte, trat in eine Art Hungerstreik, der ihn in eine psychiatrische Einrichtung brachte, wo er unter seinen Mitpatienten vor allem Funktionäre, bis hin zu Stasileuten traf, die vor ihren Problemen mit dem System geflüchtet waren.

Als Meisterschüler von Walter Womacka an der Weißenseer Kunsthochschule gehörte Noll schließlich sogar zu denen, die in der DDR „Reisekader“ genannt wurden. Er durfte mit einigen ausgewählten Kommilitonen einen Tag nach Westberlin ausreisen, um dortige Kunstsammlungen zu besuchen. Einer Studentin wurde erst am Tränenpalast, wie der Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße im Volksmund genannt wurde, mitgeteilt, dass sie doch nicht mit in den Westen dürfe. Man hätte es ihr vorher sagen können, aber diese demonstrative Zurückweisung war gewollt. Sie sollte eine erzieherische Wirkung entfalten.

Statt sich geehrt und privilegiert zu fühlen, weil er jetzt in den Westen durfte, fühlte Noll sich gedemütigt. Er beschloss, das Land zu verlassen. Obwohl er damit bei seiner Frau offene Türen einrannte, dauerte es, bis sie diesen Entschluss in die Tat umsetzen. Anlass war, das eine Nichte des Politibüromitglieds Willy Stoph in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Familie Asyl suchte. Der Skandal war so groß, dass es in seinem Windschatten möglich war, die üblichen Ausreiseschikanen zu umgehen. Allerdings waren beide Väter strikt gegen den Entschluss ihrer Kinder. Sie fürchteten beide, Hans und Sabine würden im Westen scheitern. Das war, was die DDR-Propaganda von allen Ausreisern behauptete.

„Wir waren im Westen. Ohne Aufsicht, zum ersten Mal uns selbst überlassen. An diesem Tag endete unsere Kindheit“, damit schließt Nolls Bericht. 

Statt zu scheitern, wurden beide als Erwachsene sehr erfolgreich. Sie als Malerin, er als Schriftsteller.

 

Chaim Noll: Der Schmuggel über die ZeitgrenzeDieser Beitrag erscheint auch  auf  Vera Lengsfeld.de

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Dirk Göske / 13.09.2020

@ K. Bucher Ich schließe mich Ihren Worten an und trösten Sie sich. Ich, Jg. 66 bin im Osten aufgewachsen und obwohl wir unsere Wohnung mittels Kachelöfen heizen mußten, kein Telefon und Auto besaßen brauchte ich nichts großes Entbehren. Außer der Freiheit, das damals für mich der “Westen” bedeutete. Damals wie gesagt. Aber all das macht es auch nicht wirklich heute leichter. Schon wieder im Sozialismus zu leben (für mich Bolschewismus, alles gleich ) der kaum noch abweichende Meinung duldet, ist beinahe unerträglich. Bedauerlicherweise scheinen nur wenige Leute daran zu stören. Aber das war in der DDR nicht anders. Selbst 1989 war nicht die Mehrheit auf der Straße, und trotzdem war das jämmerliche Regime erstmal von der Macht weg. Erstmal, dann haben wir offensichtlich Fehler gemachtdas sie schon wieder die Fäden in der Hand halten.

Helmut Driesel / 13.09.2020

  Hans im Glück sozusagen. Aber mal ganz fies gefragt: Hat der Westen solche Einwanderer damals gebraucht? “Sie als Malerin” und er als “Schriftsteller.” Ich dachte immer, solche Drückeberger treten sich im Westen schon gegenseitig auf die Füße. Ich meinte natürlich Künstler und Ost-Intellektuelle. Die müssen den Kollegen drüben doch unheimlich lästig gewesen sein?

Anneliese Kumbroch / 13.09.2020

Vielen Dank für den schönen Text, Frau Lengsfeld, Sowas liest sich auch mal gern, einfach mal die Vergangenheit zurückgehen, die jetzt wieder da ist… und im exponentiellem Ausmaß. Haben wir das nicht hier irgendwie??? Kann das sein, dass wir gar keine BRD haben sondern eine DDR? Tja. Politbüro, Volkskammer, SED, Staatsratsvorsitzende und jede Menge Staatsfunk, Staatskunst, Denuziantentum, Blockwarte, Propaganda aus allen Kanälen - allerdings international. Und ganz viel Netzwerkdurchsetzung…. Kommt einem das nicht bekannt vor? Also Ausreisen dürfen wir ja auch nicht mehr so richtig, neu ist: man fragt sich auch - wohin… Die Mauer ist wieder da aber von etwas anderer Art. Und das ging auf einmal auch alles ganz schnell…. Und Erika kaut an ihren Nägeln. Eine Menge läuft so jemandem hinterher wie damals… Unglaublich erbärmlich würde ich sagen.  

K.Bucher / 13.09.2020

und es ist wie es ist auch wenn es vielen aus wirtschaftlichen Gründen nicht passt mit den Inzwischen 57 ISLAM Staaten mach man einfach keine Geschäfte weil man zum Schluss eh immer der ewige Verlierer ist ***Hier Nachzulesen ....Dass Voltaire über den historischen Mohammed recht gut informiert war, zeigt folgender Brief an Friedrich den Großen: „Ich gebe zu, dass wir ihn hoch achten müssten, wenn er Gesetze des Friedens hinterlassen hätte. Doch dass ein Kamelhändler in seinem Nest Aufruhr entfacht, dass er seinen Mitbürgern Glauben machen will, dass er sich mit dem Erzengel Gabriel unterhielte; dass er sich damit brüstet, in den Himmel entrückt worden zu sein und dort einen Teil jenes unverdaulichen Buches empfangen zu haben, das bei jeder Seite den gesunden Menschenverstand erbeben lässt, dass er, um diesem Werke Respekt zu verschaffen, sein Vaterland mit Feuer und Eisen überzieht, dass er Väter erwürgt, Töchter fortschleift, dass er den Geschlagenen die freie Wahl zwischen Tod und seinem Glauben lässt: Das ist mit Sicherheit etwas, das kein Mensch entschuldigen kann, es sei denn, er ist als Türke [Synonym für Moslem] auf die Welt gekommen, es sei denn, der Aberglaube hat ihm jedes natürliche Licht erstickt.“+++oder hier noch besser +++Islam: eine Mords-Ideologie—-: 548 Schlachten mit 278 Millionen Toten

Rolf Westermann / 13.09.2020

Ich frage mich (oder besser, Frau Lengsfeld): Wie konnte man in der DDR Reisekader werden, nachdem man zuvor den Wehrdienst total verweigert hatte?

A. Damberg / 13.09.2020

Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Bericht und die Erwähnung der Namen, die damit auch dem Vergessen entzogen werden, indem man ihnen nachforschen kann. Für mich persönlich auch eine innerliche Reise zurück in meiner Biografie.

Gerd Koslowski / 13.09.2020

Genau die Sorte Bücher, die ich seit 5 Jahren fast ausschließlich lese. Vielen lieben Dank. Ich werde es wieder zur Hand nehmen.

B. Oelsnitz / 13.09.2020

Immerhin sind aus der ehemaligen Nomenklatura der DDR bekannte Nachkommen entsprungen, die die Widerwärtigkeiten des damaligen Systems erkannten und ihren Lebensweg selbst in die Hand genommen haben. Solche Zeitgeister sucht man wohl aus westlich des Thüringer Waldes gelegenen Landesteilen heutzutage anscheinend vergeblich? Sie müßten ja wenigstens bis zu Frau Lengsfeld durchgedrungen sein, wenn sie schon einem Zeitungs- und TV-Abstinenzler gänzlich unbekannt sind (bis auf Thilo S. selbstredend).

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