Sabine Drewes, Gastautorin / 13.07.2019 / 12:00 / Foto: Unbekannt / 14 / Seite ausdrucken

Sommer 1989: Eine Zeit der Wechselbäder

Gleich zu Beginn eine Warnung. Dieser Text ist nichts für Leute, die noch immer der untergegangenen „DDR“ nachtrauern. Die noch immer an einen „Dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus“ glauben. Denen schon immer jegliche Empathie mit unseren Landsleuten abging, die hinter Mauer und Stacheldraht nach jener Freiheit dürsteten, die sie für sich ganz selbstverständlich in Anspruch nahmen. Oder die gar der Meinung waren und geblieben sind, deutsche Flüchtlinge hätten 1989 ihre „schöne Idee vom Sozialismus“ verraten und verdienten deshalb keinerlei Respekt. So betitelte auf dem Höhepunkt der Massenflucht eine marxistisch-leninistische Gruppe ihre Flugblätter, die sie im Westen vor allem an Jüngere verteilte, um sie gegen die Flüchtlinge aufzubringen. Heute würde man ein solches Gebaren gegenüber Menschen, die vor einem menschenverachtenden Regime flohen, zu recht „Hetze“ nennen. Das sollte allen zu denken geben, die in Sachen Flüchtlinge mit zweierlei Maß messen. Und die einen fundamentalen Unterschied zwischen 1989 und 2015ff. leugnen: Vor dreißig Jahren ging es um Flüchtlinge des eigenen Volkes, für die wir uns in der Bundesrepublik eine Obhutspflicht auferlegt hatten und nicht um die Aufnahme fremder Staatsangehöriger.

Eine unrühmliche Rolle in diesem Zusammenhang spielte 1989 der damalige rotgrüne Senat in Berlin unter der Führung von Walter Momper, als es darum ging, Berlinern, denen es gelungen war, in den freien Teil ihrer Stadt zu entkommen, dort eine Bleibe zu gewähren. In den Notaufnahmelagern und in den Ämtern West-Berlins wurde ihnen administrativ angekündigt, sie aus ihrer Geburtsstadt auszusiedeln. Dass mit der anschwellenden Massenflucht Deutscher von Ost nach West auch Probleme entstanden, war dabei nicht der Punkt. Entscheidend war etwas anderes, denn der SPD/AL-Senat hatte keinerlei Schwierigkeiten damit, Asylbewerber ebenso wie Wehrdienstverweigerer oder Krawalltäter aus dem übrigen Bundesgebiet in der eingemauerten Stadt unterzubringen. Übersiedler und deutsche Flüchtlinge wurden ihnen in Sachen Wohnrecht nicht etwa gleichgestellt, sondern sie wurden nachrangig behandelt (WELT v. 30.06.1989). Aus Gründen, die niederträchtiger kaum sein konnten: Man blamiert nicht den „Sicherheitspartner SED“, indem man sich ihm entzieht. Eine ebenso ungeheuerliche wie rechtswidrige Praxis, die ein bezeichnendes Licht auf jene Parteien wirft, die bis heute kein Problem damit haben, mit der mehrfach umbenannten SED zusammenzuarbeiten. Und das in Berlin, das mit seinem westlichen Teil einmal als Symbol der Freiheit galt.

Dieser Text ist allen gewidmet, die 1989 unter großen Gefahren ihren Weg in die Freiheit suchten. Sei es auf dem Umweg über Ungarn, über Polen, über die ehemalige Tschechoslowakei oder, unter Lebensgefahr, entlang der zum damaligen Zeitpunkt noch immer hermetisch abgeriegelten innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. Oder sei es durch die wagemutige Gründung erster Oppositionsgruppen daheim, deren Formierung unter den Augen des Staatsicherheitsdienstes ein gefährliches Unterfangen war. Nicht minder gefährlich waren die anschwellenden öffentlichen Proteste gegen das verhasste Regime. Dieser Text ist auch allen gewidmet, die im Westen unseres Landes mit diesen Menschen mitgebangt, mitgehofft und mitgezittert haben; die halfen, wo sie konnten. Denn, das wird oft vergessen, auch solche Menschen hat es gegeben, die westlich der Mauer am Schicksal ihrer Landsleute Anteil nahmen und die sich nichts sehnlicher wünschten, als dass diese Geschichte vom Abschütteln der kommunistischen Tyrannei ein gutes Ende nehmen würde.

Hoffnung 1989, Bedrücktheit 2019

Unvergessen geblieben ist mir die einzigartige Stimmung vom Sommer 1989. Es war ein Zustand der gespannten Erwartung, ein Zustand, der nicht lange andauern konnte. Selten war das Zeitunglesen während der Sommerferien, die immer als politisches „Sommerloch“ galten, eine Zeit, die ich 1989 teils in Österreich verbrachte, so spannend und ungemein berührend zugleich. Meine Gedanken kreisten in den Wochen und Monaten des Jahres 1989 ständig um jene Menschen, die sich nicht länger von einem niemals demokratisch, geschweige denn moralisch legitimierten Staat bevormunden lassen wollten, die für die Erlangung dieses Ziels die verschiedensten Wege wählten und die wagemutigsten Entscheidungen trafen. Der Mut, der hierhin zum Ausdruck kam, beeindruckt mich bis heute tief.

Denn ich hatte den Umbruch im östlichen Teil Deutschlands und Europas vom damals sicheren Port der Freiheit aus mitverfolgt. In meiner Freiheit fühlte ich mich nicht bedroht. Bedingt durch die Teilung Deutschlands aber war mir der Wert der Freiheit sehr früh bewusst geworden. Ich war dem Schicksal unendlich dankbar dafür, dass ich in Freiheit aufwachsen durfte. Dass ich frei meine Meinung sagen konnte, ohne mich jedes Mal ängstlich umsehen zu müssen, ob da nicht jemand mithören könnte, der mir Böses will. Dass ich, anders als meine Landsleute östlich von Mauer und Stacheldraht, frei und geheim wählen durfte, dass ich Politiker und Parteien unterstützen oder ablehnen konnte. Dass mir der Weg zum Abitur nicht wegen eines „fehlenden Klassenstandpunkts“ verbaut wurde, dass ich die freie Berufswahl hatte, dass ich – so der Geldbeutel es hergab – praktisch um die ganze Welt jetten konnte. Kein Zaun, kein Stacheldraht, keine Mauer, kein Schießbefehl konnte mich davon abhalten, mein eigenes Land zu verlassen, so ich es wollte.

Die Erinnerungen an den Sommer 1989 bekommen fast schmerzliche Züge, wenn ich ihn mit dem Sommer 2019 vergleiche. Den Hoffnungen von 1989 ist eine ebenso bedrückende wie erdrückende Stimmung von 2019 gewichen. Vieles, was vor dreißig Jahren dem Untergang geweiht war, kehrt schleichend zurück. Die Freiheit ist wieder in Gefahr. Die Freiheit, von der ich glaubte, sie sei viel zu kostbar, als dass sie nach über vier Jahrzehnten einer brutalen Teilung Deutschlands und Europas noch einmal zur Disposition gestellt werden könnte. Natürlich im Namen des Guten. Die Mär, dass der Sozialismus im Kern gut, aber schlecht und von den falschen Leuten ausgeführt worden sei, scheint unausrottbar zu sein. Höchste Zeit also, den Freiheitsbestrebungen von 1989 unsere ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden und ihnen damit die Ehre zukommen zu lassen, die ihnen gebührt.

Entfernung eines Stöpsels aus der Flasche

Der im Mai 1989 begonnene Abbau der ungarisch-österreichischen Grenzsperranlagen glich, bildlich gesehen, der Entfernung eines Stöpsels aus der Flasche. Die bald darauf folgenden Sommerferien waren für viele Deutsche östlich der Elbe ein willkommener Anlass, diese im „Ersatzwesten“ zu verbringen. Anders aber, als das am 27. Juni medienwirksam zelebrierte Zerschneiden des „Eisernen Vorhangs“ durch den österreichischen Außenminister Alois Mock und den ungarische Außenminister Gyula Horn am Grenzübergang Klingenbach/Sopron suggerierte, wurden deutsche Flüchtlinge im ungarischen Grenzgebiet zunächst keineswegs einfach nach Österreich durchgelassen. Nur etwa jedem zehnten gelang es, über die grüne Grenze ins westliche Nachbarland zu fliehen (WELT v. 11.08.1989).

Wer erwischt wurde, bekam einen entsprechenden Ausweisungsstempel in den Pass – das bedeutete die Rückkehr in jenen Staat, dem er entfliehen wollte. Zumindest aber war er als "Republikflüchtling" gebrandmarkt. Die Ostberliner Botschaft in Budapest soll diese Leute besonders im Visier gehabt haben; auch hieß es, dass die ungarische Regierung mit der Stasi weiterhin zusammenarbeitete (WELT v. 03.08.1989). Budapest fand sich einstweilen zwischen zwei Mühlsteinen wieder: Bonn und Ost-Berlin. Aber es sollte nicht mehr lange dauern, dass sich die ungarische Regierung auf die Seite der Bundesrepublik und damit auch auf Seite der deutschen Flüchtlinge schlug.

Zur gleichen Zeit flüchten immer mehr Ausreisewillige in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin. Ähnliche Szenen spielten sich in den bundesdeutschen Botschaften in Budapest, in Warschau und in Prag ab. Damit wollten die Menschen ihre Ausreise in den freien Teil Deutschlands erzwingen. In Budapest musste die bundesdeutsche Botschaft schon am 30. Juli ein zusätzliches Gebäude anmieten, um die vielen Flüchtlinge unterbringen zu können [1].

Zu den Botschaftsflüchtlingen nahm die SED-Führung erstmals am 5. August offiziell Stellung. Sie sprach der Bundesrepublik eine Obhutspflicht gegenüber den Deutschen aus der „DDR“ ab. In Bonn sah man es anders: es gebe nur eine deutsche Staatsbürgerschaft, die für alle Deutschen gelte. Der „DDR“-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel teilte dem Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen mit, dass er den Botschaftsflüchtlingen keine „wohlwollende Prüfung“ [3] ihrer Ausreiseanträge, aber Straffreiheit bei Rückkehr in die „DDR“ zusichern wolle. Am 8. August musste die Ständige Vertretung in Ost-Berlin wegen Überfüllung geschlossen werden; am 13. August (ausgerechnet!) folgte die Schließung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest, am 22. August in Prag, am 20. September in Warschau [4].

„Das unerschütterliche Festhalten am bisherigen Kurs“

Neben den vielen Ausreisewilligen (über 1 Mio. Ausreiseanträge), von denen etwa 1.200 am 4. September in Leipzig in einer öffentlichen Demonstration ihrem Wunsch Nachdruck verliehen, formierten sich im Sommer die ersten Oppositionsgruppen zwischen Elbe und Oder, zwischen Ostsee und Erzgebirge. Nachdem am 24. Juli von den Theologen Martin Gutzeit und Markus Meckel ein Aufruf zur Gründung einer „Sozialdemokratischen Partei in der DDR“ verfasst worden war, rief der Physiker Hans-Jürgen Fischbek am 13. August in der Berliner Bekenntniskirche in Treptow vor ca. 400 Menschen zu einem programmatischen Zusammenschluss oppositioneller Gruppen auf. Dafür hatte er den Tag des Mauerbaus vom 13. August 1961 bewusst ausgewählt. Diese Gruppierung sollte eine Alternative zur SED-Herrschaft bilden und zu einer demokratischen Erneuerung führen. Am 9./10. September wurde das „Neue Forum“ gegründet, zu den 30 Erstunterzeichnern gehörte die Malerin Bärbel Bohley. Nur vier Tage später folgte die Gründung des „Demokratischen Aufbruchs“, die durch den Erfurter Pfarrer Edelbert Richter bekanntgegeben wurde [2].

Während das Gros im Westen eher zurückhaltend auf die Oppositionellen reagierte (Kohl beteuerte im Sommer 1989 noch gegenüber Gorbatschow, die Bundesregierung wolle die Lage in der „DDR“ „nicht destabilisieren“), war die WELT gänzlich anderer Ansicht. In seinem Leitartikel vom 19. August („Sie sollten sich organisieren“) schrieb Enno von Loewenstern:

Ihr Problem ist es, und damit auch unser Problem, daß sie nicht organisiert sind wie die Polen, sondern nur individuell die nächstliegende Lösung anstreben, das ‚Nur raus hier‘. Nun haben wir – von unseren Überflutungssorgen einmal abgesehen – kein Interesse an der Entvölkerung Mitteldeutschlands, an einer ‚Wiedervereinigung‘ durch massenhafte Austreibung. […] Warum schlagen wir den Arbeitnehmern drüben nicht vor, eine ‚Solidarität‘ zu bilden […]? Warum schlagen wir den Mitteldeutschen nicht vor, eine Partei zu gründen; nennen wir sie Freiheits-Partei? Nicht per Kongreß von oben, sondern als ‚Basis‘ – es braucht ja nur jeder seine Nachbarn zu rufen und eine Ortsgruppe der Freiheits-Partei zu gründen. Wie wollte das Regime auf all diese Zellbildungen losschlagen? Vor allem: wie wollte es losschlagen, wenn wir und der ganze Westen warnten, daß die guten Beziehungen sich schnell in ungute verwandeln könnten? Wenn wir das in Chile bewirken konnten, warum nicht auf deutschem Boden? Vergessen wir doch nicht: Nicht wir brauchen die SED, sondern die SED braucht uns. Gorbatschow braucht uns. Die straßenlangen Häuser-Einstürze in Leipzig und Görlitz sind Beispiele nicht nur für den inneren, sondern auch für den äußeren Zustand des Systems. Worauf warten wir noch – daß die Menschen drüben blindlings handeln, weil sie sich von uns im Stich gelassen fühlen? Wollen wir das verantworten?

Denn viele Menschen waren verzweifelt. Der Bericht des Leiters der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Franz Bertele, sprach – sehr im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger –  klar von einem „Gefühl der Ausweglosigkeit“, „Gefühl von Hoffnungslosigkeit und persönlicher Beengtheit“ usw.; zugleich lautete die Folgerung: „Das Ausmaß der niedergeschlagenen Stimmung scheint vielen SED-Mitgliedern und der SED-Spitze offenbar erst durch die Fluchtwelle über Ungarn deutlich vor Augen geführt worden zu sein. Ihre Reaktion darauf ist das unerschütterliche Festhalten am bisherigen Kurs“ (WELT v. 04.09.1989).

Eine großmütige ungarische Geste

Die Repressionen des SED-Regimes gingen weiter. Werner Kalinka hatte hierzu am 12. August 1989 einen entsprechenden Bericht für die WELT geschrieben, der die bezeichnende Überschrift trug: „13. August 1989: Wer die DDR-Hymne zitiert, macht sich schon strafbar“. Dort listete er eine ganze Reihe von Beispielen auf, die die Erfassungsstelle Salzgitter registriert hatte und die zeigten, dass die SED keinerlei Spaß verstand, nicht einmal, wenn es um die eigene Hymne ging. So hängte zum Beispiel ein Ausreisewilliger in Leipzig ein schwarz-rot-golden bemaltes Bettlaken ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz aus seinem Fenster, auf dem zu lesen war: „Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland.“ Für das Zitat aus der nicht verbotenen Becher-Hymne, die seit 1972 nur noch gespielt, aber nicht mehr gesungen werden durfte, wurde er zu 15 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.

Am 19. August fand jenes Paneuropäische Picknick im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet bei Sopron statt. Hierbei wurde ein Grenztor vorübergehen geöffnet. Eine Gelegenheit, die sich 661 Deutsche nicht nehmen ließen, um nach Österreich in die Freiheit zu entkommen (WELT, 21.08.1989). Am 24. August gelang es mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes, über 100 Botschaftsflüchtlinge aus Budapest über Österreich in die Bundesrepublik auszufliegen. Einen Tag später eröffnete der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh Bundeskanzler Helmut Kohl auf Schloss Gymnich bei Bonn, dass Ungarn sich entschlossen habe, „DDR“-Bewohnern die freie Ausreise zu gestatten, egal welche Reisedokumente sie bei sich haben. Am 10. September sagte Guyla Horn abends im Fernsehen, Ungarn werde ab dem nächsten Tag deutsche Flüchtlinge ausreisen lassen. Eine mutige Entscheidung, die am Zusammenbruch des SED-Regimes einen gewichtigen Anteil hatte. Ungarns Innenminister Istvan Horvath fragte Horn, ob er nicht wisse, dass er sich damit auf die Seite der Bunderepublik statt auf die Seite der „DDR“ stelle. Horns entwaffnende Antwort: „Ja, ich weiß es. Aber das ist nicht wichtig, sondern zum einen daß ich mich an die Seite der Deutschen stelle, gleichgültig, ob sie in der BRD oder in der DDR leben. Und zum anderen ist wichtig, daß das System eines Landes nichts taugt, in dem seine Bürger nicht mehr leben wollen.

Als Horn dies dem bundesdeutschen Staatssekretär Sudhoff am nächsten Tag in Budapest mitteilte, brachte dieser im ersten Moment kein Wort hervor, so überrascht und bewegt war er von der großmütigen ungarischen Geste (WELT, 03.10.1990). Wurde Ungarn von Ost-Berlin schon seit Ende August als „westliches Ausland“ eingestuft (WELT, 24.08.1989), so wurden ab sofort keine Reisegenehmigungen für Ungarn mehr ausgestellt; dies führte zur Verzweiflung vieler Zurückgebliebener, die jetzt keinen halbwegs gefahrlosen Weg mehr sahen, dem „Gefängnis DDR“ zu entkommen. Die SED-Führung protestierte erfolglos gegen Öffnung der Grenzen und beschuldigte Ungarn des „organisierten Menschenhandels“. Zynischer ging es kaum. Es war die SED, die sich nie zu schade war, über den Freikauf politischer Gefangener durch die Bundesrepublik Deutschland ihren Haushalt auf perfide Art aufzuhübschen; noch dazu, wo sie Menschen schon mal nach Devisenbedarf ins Gefängnis warf. Das war Menschenhandel en gros.

Viele halfen, „Willkommenskultur“ war nicht nötig

Als den Neuankömmlingen am 11. September 1989 in einem österreichischen Rote-Kreuz-Zelt mitgeteilt wurde, dass die SED-Führung vom angeblichen „Menschenhandel“ sprach, hatten sie dafür nur eine wegwerfende Handbewegung übrig: „Die Genossen behandeln uns, als seien wir ihr Eigentum. Damit ist es jetzt vorbei.“ Die Freude darüber, es endlich in die Freiheit geschafft zu haben, war groß; viele hatten Freudentränen in den Augen, andere konnten kaum sprechen. „Mensch, wir sind in Österreich. Wir haben es geschafft. Jetzt sind wir frei!“ ertönte es immer wieder. Unbeschreibliche Szenen spielten sich wiederholt auf der österreichischen Seite der Grenze ab.

Nicht nur in dieser Nacht, auch schon in den Wochen davor zeigten die Österreicher ein großes Herz gegenüber deutschen Flüchtlingen: „Na, endlich seid ihr da. Wir haben so lange auf euch gewartet. Jetzt wird alles gut, ihr werdet sehen“, wurden die deutschen Neuankömmlinge von Österreichern wieder und wieder zur Zuversicht ermuntert. Auffallend viele junge Flüchtlinge zeigten ihre Verbundenheit mit Deutschland, indem sie einen schwarz-rot-goldenen Wimpel am Auto anbrachten oder das erste D und das R beim Autokennzeichen „DDR“ durchstrichen. D für Deutschland. Die Mehrheit zog es denn auch zum sofortigen Weiterfahren ins westliche Deutschland (WELT, 12.09.1989).

Die Ungarn hatten im Sommer 1989 das Tor zur Freiheit aufgestoßen. Dafür gebührt ihnen tiefer Dank. Nicht weniger Dank gilt der österreichischen Regierung, die sich ebenfalls auf Seite der Deutschen stellte. Nicht vergessen werden sollte an dieser Stelle die großartige menschliche Geste vieler Österreicher, vor allem im unmittelbar betroffenen Burgenland. Für die WELT berichtet Carl Gustaf Ströhm am 18. August, wie von österreichischer Seite Flüchtlingen durch Winken der Weg gewiesen wurde. Ein Weinbauer sei mitten in der Nacht bis an den Grenzstein gefahren, um die erschöpften Flüchtenden aufzunehmen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern.

Viele von ihnen wurden in Privathäusern untergebracht; sie wurden sowohl mit Essen als auch mit Kleidung versorgt, manche Österreicher kümmerten sich höchstpersönlich um die Weiterfahrt ihrer Gäste, spendierten ihnen eine Fahrkarte oder fuhren sie bis zur Bonner Vertretung. Von einer „Willkommenskultur“ redete keiner, auch nicht in Deutschland (West); wer es ernst meinte, der half einfach, so gut er konnte. Es war eine Hilfsbereitschaft, die von Herzen kam, ohne jedes moralisierende Gehabe. Das war großartig. Das alleine zählt.

Bilanz einer Massenflucht im Sommer 1989 

  • Im Juni gelingt 12.428 Bürgern die Flucht in den Westen; mit Genehmigung dürfen 10.646 Menschen die „DDR“ verlassen.
  • Im Juli gelingt 11.707 Bürgern die Flucht in den Westen; mit Genehmigung dürfen 9.563 Menschen die „DDR“ verlassen.
  • Im August gelingt 20.955 Bürgern die Flucht in den Westen; mit Genehmigung dürfen 12.812 Menschen die „DDR“ verlassen.
  • Im September gelingt 33.255 Bürgern die Flucht in den Westen; mit Genehmigung dürfen 11.903 Menschen die „DDR“ verlassen.

Quellen:

[1] Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Der Mauerfall. Ein Volk nimmt sich die Freiheit. Seite 125-127. [2] Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Der Mauerfall. Ein Volk nimmt sich die Freiheit. Seite 140-141. [3] Deutschland – Von der Teilung zur Einheit. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, März 1995, Seite 101
 

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Gabriele Schulze / 13.07.2019

Ja guck, nach dieser plastischen Beschreibung und nach so vielen Jahren habe ich wieder Pipi in den Augen….

Kai Nissen / 13.07.2019

Ja, das war eine sehr aufregende, großartige Zeit, eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung. Nie davor und nie danach konnte ein gespaltenes Land friedlich wiedervereinigt werden. Unsere damals traditionelle “DDR-Klassenfahrt” war die letzte. Wir erlebten noch Intershops in Ostberlin. Damals hatten wir schon viel den mutigen Ungaren zu danken, aktuell erneut, eigentlich. Uneigentlich weht jetzt ein anderer Wind, ein hoch moralisierender, hochmütiger, Zeigefinger erhebender, weltrettender Wind. Es ist jetzt nicht mehr zeitgemäß, dass wieder Ungarn uns Probleme vom Halse hält, damit die kinderlose Mama weiter ihre gesinnungspolitische Fahne schwenken kann!

Heinrich Moser / 13.07.2019

Vielleicht sollte man an dieser Stelle neben des rühmlichen Verhaltens des österreichischen Außenministers Alois Mock das unrühmliche Verhalten des sozialistischen Kanzlers Vranitzky erwähnen.

Stefan Riedel / 13.07.2019

” ...deutsche Flüchtlinge hätten 1989 ihre „schöne Idee vom Sozialismus“ verraten und verdienten deshalb keinerlei Respekt.” Welch schöne Idee! Ein Kamel für fünf Frauen.

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