Von Ylva Hartman.
Wie geht es für Israel weiter? Ist eine Teilung erforderlich und schafft Frieden oder ist der Gedanke utopisch?
Seit ein paar Wochen sind sie wieder da. Mal deutlicher, mal weniger vehement, und sie kommen dieses Mal aus unterschiedlichen Teilen der Welt: die Rufe nach einer Zwei-Staatenlösung. Sie klingen hilflos und trotzig, und sie klingen nach schlechtem Gewissen. Trotz der vermutlich guten Absichten: Nie waren die Voraussetzungen für dieses Vorhaben so aussichtslos wie jetzt.
Über einhundert israelische Geiseln, die sich immer noch in Gefangenschaft in irgendeinem Tunnel im Gazastreifen befinden, erleiden in diesen Minuten schlimmste Formen von Folter, Vergewaltigung und Demütigungen, Männer wie Frauen, wie bereits freigelassene Geiseln berichten. Zur gleichen Zeit harren zwei Millionen Palästinenser unter furchtbaren und allerschwierigsten Bedingungen in Ruinen und Zelten aus. Und jetzt soll also der mörderische Angriff einer Terrorgruppe, die beide Seiten ins Elend gestürzt hat, der unbeabsichtigte Startschuss für ein Vorhaben sein, auf das das Ausland schon immer gedrängt hat und darin die Lösung des Konfliktes sieht. Das Problem ist nur: Von beiden Seiten vor Ort wird dieser Plan, um es vorsichtig zu sagen, kritisch gesehen und nicht annähernd anvisiert.
Einer der führenden Köpfe der Hamas, Khaled Mashal, mehrfacher Millionär mit Wohnsitz in Qatar und in seinem ganzen Leben nur einmal für einen Besuch in Gaza gewesen, hat in einem Interview mit einem kuwaitischen Podcaster verlauten lassen, dass er eine Zwei-Staaten-Lösung kategorisch ablehne und die Hamas Israel niemals anerkennen werde. Der 7. Oktober, so Mashal, hätte gezeigt, dass es eine reelle Chance gebe, ganz Palästina (also auch israelisches Staatsgebiet) zurückzuerobern, und er behauptet, dass alle Palästinenser diese angebliche Aussicht auf eine Rückeroberung des gesamten historischen Palästinas erkennen und sich nicht mit dem Gebiet in den Waffenstillstandslinien von 1967 begnügen würden. Diese Aussage ist fragwürdig.
Die Mehrheit ist pro Hamas
Was aber nicht mehr angezweifelt werden kann, ist, dass eine ernstzunehmende Anzahl der Palästinenser den Terrorangriff der Hamas begrüßt hat, im Westjordanland und im Gazastreifen, so palästinensische Umfragen. Auch vonseiten der Palästinensischen Autonomiebehörde gab es bis heute keine offizielle und hörbare Verurteilung dieses bestialischen Angriffs, der – in dem Verständnis vieler Palästinenser, aber auch in der arabischen Welt allgemein – so brutal gar nicht stattgefunden habe, trotz der Filmaufnahmen, die die Hamas noch während des Angriffs live im Internet gestreamt hat.
Dass die Zustimmung zu den Taten der Hamas und zur Organisation generell nicht neu ist, dafür gab es schon vor dem 7. Oktober 2023 deutliche Anzeichen und ein verändertes Stimmungsbild. Die Hamas gewann im Mai 2023 an zwei bedeutenden Universitäten im Westjordanland (an der Birzeit Universität nahe Ramallah und der An-Najah Universität in Nablus) die Wahlen zu den Studentenräten. In Abwesenheit von „normalen“ Wahlen im Westjordanland werden diese immer wieder an Universitäten durchgeführt.
Die Unzufriedenheit mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland trieb auch den Rest der Bevölkerung immer weiter in die Arme der Hamas. Das bedeutet: Die Zustimmung und Unterstützung einer Terrorgruppe, die die Auslöschung Israels zum Ziel hat, ist keine Minderheitenmeinung beziehungsweise umfasst nicht nur einen kleinen Prozentsatz, wie unermüdlich behauptet und vom Ausland, insbesondere der EU und den USA, verzweifelt geglaubt werden möchte. Und die PA unter Mahmoud Abbas hat außerdem gezeigt, dass sie nicht in der Lage oder willens ist, gewaltbereite und bestens bewaffnete Kampfgruppen in Nablus und Jenin zu entwaffnen und die Situation der Palästinenser im Westjordanland zu verbessern.
Die Zwei-Staaten-Utopie
Und auf der anderen Seite? Die Hardliner in der derzeitigen israelischen Regierung wollen die „freiwillige“ Emigration der Palästinenser aus Gaza, die Wiederansiedlung von Juden im Gazastreifen oder, wie Premierminister Netanyahu, zumindest die Kontrolle an der Grenze zwischen Ägypten und Gaza, um den Waffenschmuggel und damit ein zukünftiges Aufrüsten der Palästinenser zu unterbinden. Eine Aufgabe der Sicherheitskontrolle und der Siedlungen im Westjordanland steht nicht einmal zur Diskussion. Es entspricht der Wahrheit, dass die Siedlungen die Bewegungsfreiheit der Palästinenser im Westjordanland massiv beeinträchtigen, unterschiedliche Gesetze je nach Herkunft angewandt werden und es immer wieder Übergriffe von einem radikalen Teil der jüdischen Siedler auf palästinensische Dörfer und Städte gibt und die Täter oft straffrei davonkommen.
Bei all diesen Punkten stellt sich dennoch die sehr unbequeme Frage, wie das heutige Westjordanland ohne die jüdischen Siedlungen und insbesondere ohne das israelische Militär aussähe. Wäre das Westjordanland ein friedlicher Nachbar an der Seite eines israelischen Staates oder würde es doch eher Gaza ähneln, komplett untertunnelt und hochgerüstet, mit dem anhaltenden Wunsch, die Situation von vor 1948 wiederherzustellen? Hat Ägypten den Waffenschmuggel in den Gazastreifen verhindert? Würde die Palästinensischen Autonomiebehörde ihn an der Grenze zu Jordanien verhindern? Hat die Abwesenheit von Juden im Gazastreifen dazu geführt, dass man sich in Gaza gegen den Hass und für eine Zukunft und verbesserte Lebensbedingungen entschieden hat? Zumindest für den letzten Punkt lässt sich sagen: leider nein.
Zieht man einen Strich unter diese Auflistung, so bräuchte man wahrlich viel Vorstellungsvermögen, um hier noch Potenzial für eine Zwei-Staatenlösung zu erkennen. Aber da der Pfad der Utopien schon beschritten ist, sei auch der folgende Gedankengang erlaubt. Einer der wesentlichen Punkte, der immer wieder als Hindernis für einen unabhängigen Palästinenserstaat angebracht wird, ist die Existenz der jüdischen Siedlungen im Westjordanland. Ist von diesem zukünftigen Staat die Rede, spielen Juden dort keine Rolle und es scheint für ausländische Regierungen, die diese Zwei-Staatenlösung fordern, auch völlig klar zu sein, dass in einem zukünftigen palästinensischen Staat auch keine zu leben hätten, weder im Westjordanland, noch im Gazastreifen.
Ein demokratischer Palästinenserstaat
Der israelische Staat besteht zu fast 25 Prozent aus arabischstämmigen Israelis (oder palästinensischstämmigen; die Identitätsbezeichnung sei den Betroffenen überlassen). Warum fordert die internationale Gemeinschaft einen vollkommen homogenen arabischen Palästinenserstaat? Liegt der Grund darin, dass sie sich nicht vorstellen kann, dass ein Teil der derzeitigen jüdischen Siedler gewillt wäre, in einem palästinensischen Staat als dann palästinensische Staatsbürger leben zu wollen? Das wäre natürlich zu klären, aber es soll Willige unter ihnen geben. Oder ist die Angst vielmehr, dass Juden dort nicht sicher wären? Die rund 800 Samariter, die aus dem Volk Israel hervorgegangen sind, sich als Juden verstehen und auf dem Berg Garizim bei Nablus wohnen, können als Beispiel für ein friedliches Zusammenleben unter palästinensischer Verwaltung nicht herhalten, verhalten sie sich doch so unauffällig wie möglich und äußern sich zudem nie politisch und sind auch politisch nicht vertreten.
Das Ziel wäre also ein Palästinenserstaat mit einer demokratischen Verfassung, der den religiösen und sonstigen Minderheiten auf seinem Gebiet die gleichen Rechte wie der Mehrheit der palästinensischen Muslime einräumen würde: das Wahlrecht, das Recht, eigene Parteien zu gründen, ja, sogar Mitglied eines Obersten Palästinensischen Gerichtshofes zu werden. Ein palästinensischer Staat, in dem in der Mehrzahl Muslime und eine noch verbliebene Minderheit Christen leben, aber eben auch Juden – wie in Israel, nur mit umgekehrten Mehrheitsverhältnissen.
Was damit erreicht wäre? Prinzipien, an denen wir demokratische Staaten messen: eine pluralistische Gesellschaft, in der alle die gleichen Rechte und Pflichten genießen und ein hoffentlich friedvolles Zusammenleben und der Respekt vor dem anderen, sowie eine Art gegenseitige, stillschweigende Vereinbarung zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat: Behandelst du meine Leute gut, tue ich das Gleiche mit deinen. Könnte so Terror und Krieg verhindert werden? Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich bleibt diese Idee im Bereich der Utopien haften, aus vielerlei Gründen. Wobei: Sie ist wohl auch nicht unwahrscheinlicher als ein unabhängiger palästinensischer Staat, der wie ein Phoenix aus der Asche aus dem unsagbaren Leid, das seit dem 7. Oktober permanent präsent ist, hervorgehen soll und für dessen Existenz ganz existenzielle Fragen weiterhin ungeklärt sind.
Ylva Hartman schreibt unter Pseudonym und lebt in Israel. Sie hat in den letzten 12 Jahren für eine internationale und eine deutsche Organisation im Westjordanland und im Gazastreifen gearbeitet.