Im Prozess um den Messer-Anschlag in Solingen sagten am Dienstag mehrere Überlebende aus. Der Attentäter Issa al-H. hob zwar den Kopf, sah aber keines seiner Opfer an. Bislang glaubt ihm die Nebenklage seine Reue nicht.
Als der 61-jährige Berufsschullehrer am Dienstagvormittag den Saal 1 des Düsseldorfer Oberlandesgerichts betrat, war sein Blick fest auf die Anklagebank gerichtet. Dort saß mit dem 27-jährigen Issa al-H. jener Mann, der ihn am Abend des 23. August 2024 auf dem Fronhof in Solingen bei einem Stadtfest mit dem Messer angegriffen und schwer verletzt hatte. Im Gegensatz zu letzter Woche, als der syrische Flüchtling seinen Kopf zwei Tage lang auf die Tischplatte legte, saß der 27-Jährige am Dienstag zwar mit leicht gebeugtem Kopf hinter dem Panzerglas. Den Lehrer aber würdigte er keines Blickes. Stattdessen schaute Issa al-H., der seine Tat, bei denen drei Menschen vor Ort verstarben sowie zehn weitere schwer verletzt wurden, bereits zum Prozessauftakt zugegeben hatte, auf den Boden.
Kurz darauf schilderte der Berufsschullehrer, dass er den Messerangriff auf dem Solinger Stadtfest zuerst als „Zusammenprall" mit einer von hinten kommenden Person wahrgenommen hatte. Dies sei so schnell gegangen, dass er sich „nicht schützen oder wehren konnte". Er habe noch etwas gehört, dass „arabisch klang und laut war". Danach habe er eine „ganz andere Atmosphäre" auf dem Stadtfest wahrgenommen. Erst als er an sich herunterschaute, habe er bemerkt, dass er blutete. „Ich wusste, dass ich schwer verletzt war." Daraufhin wollte er zu seiner Frau, die in einer benachbarten Gaststätte wartete. Aber da er schnell Blut verlor, habe er geglaubt, dass er „gleich weg sei", schilderte der Lehrer. Seine Freunde hätten ihn angefleht: „Bleib bei uns." Später sei er an einen Tropf gelegt und dann in ein Krankenhaus nach Wuppertal gebracht worden.
Bis zum Ende der Osterferien sei er arbeitsunfähig gewesen, beschrieb der Berufsschullehrer seine heutige Situation. Nun aber unterrichte er sechs Stunden in der Woche. Im Rahmen der Wiedereingliederung sei für die Zukunft eine Steigerung auf zwölf Stunden geplant. Aufgrund der Physiotherapie könne er auch wieder schwimmen. „Aber nur Brustschwimmen, Kraulen geht nicht", sagte der 61-Jährige. Auf die Frage, ob er wieder öffentliche Veranstaltungen besuche, sagte er: „Es geht, aber es ist schon anders. Man guckt sich immer um, ob einer hinter einem steht."
„In weniger als einer Minute waren drei Menschen tot"
Zuvor hatte ein 34-jähriger Iraner, der in Düsseldorf eine Ausbildung macht und das Solinger Stadtfest mit einem Freund besucht hatte, die Situation beschrieben. „Ich habe den Täter gesehen. Er hat meine Schulter zerschnitten", schilderte der junge Mann, bei dem später eine 13 Zentimeter lange Schnittwunde festgestellt wurde. „Mein Hals brannte, dann kam das Blut." Gleichzeitig habe er „drei andere Menschen mit der Hand am Hals" gesehen. „In weniger als einer Minute waren drei Menschen tot." Als die Polizei kam, sei der Täter jedoch nicht mehr zu sehen gewesen: „Nach dreißig Sekunden war er wieder weg."
Er sei immer noch verletzt und auch weiter in psychologischer Behandlung, schilderte der 34-Jährige seine heutige Situation. So habe er seitdem elf Kilo abgenommen. „Am schlimmsten aber sind meine Träume", sagte er. „Ich sehe immer noch die drei Opfer." Ebenso wie bei den Ausführungen der anderen Überlebenden schaute Issa al-H. auch während der Schilderungen des Iraners seitlich zu Boden und zeigte keinerlei Regung.
Später beschrieb ein 61-jähriger Industriekaufmann aus Solingen, der das Fest ebenfalls mit seiner Frau besucht hatte, die Situation am Abend des 23. August. „Der Angreifer kam von links", sagte er. Zuerst dachte er, es gebe eine Schlägerei. „Aber dann habe ich mindestens vier- bis fünfmal ,Allahu Akbar' gehört." Er habe „Schreie und Panik" wahrgenommen. „Die Menschen stoben auseinander und flüchteten." Erst danach habe er bemerkt, dass er auch getroffen sei „und das Blut schon herunterlief". Er habe „gedrückt und gedrückt", um das Blut wieder zu stoppen. Um ihn herum habe es „einen Tumult" gegeben. „Es ging um Leben und Tod", schilderte er. „Dann habe ich gesehen, wie ein Mann verstarb." Später sei er in eine Solinger Klinik abtransportiert worden, wo bei ihm ein sieben bis zehn Zentimeter langer Einschnitt festgestellt wurde. „Ein Zentimeter daneben, dann hätten wir uns jetzt nicht mehr gesehen", sagte er dem Gericht.
Nach einer Operation habe sich seine Verfassung zwar wieder verbessert, schilderte der 61-Jährige seine heutige Situation. „Aber es ist noch nicht wie vorher." So könne er seinen Arm „nur waagrecht heben". Auch sei ein Teil seiner Muskulatur weg. Jetzt arbeite er hauptsächlich im Home-Office. „Ich möchte nach vorne gucken. Ich habe Familie. Ich möchte mich nicht ständig beeinträchtigen lassen", sagte der 61-Jährige. „Aber was für mich schlimm ist, sind die Fernseh-Meldungen über andere Anschläge. Dann kommt alles zurück." Auch sei er in der Öffentlichkeit misstrauischer geworden. Als er zur Einweihung einer Gedenktafel zu dem Anschlag durch den Solinger Oberbürgermeister eingeladen war, habe er „die ganze Zeit nach hinten geguckt". Er habe sich ständig gefragt, „was da für Personen kommen und warum die da herum gehen".
Peinliche Identifizierung
Lange Zeit schien es, als würde der Vorsitzende Richter Winfried van der Grinten die Zeugen zu Issa al-H. befragen, als ob der syrische Flüchtling gar nicht im Raum säße. Erst als ein 64-jähriger Solinger, der zwar nicht physisch verletzt, aber als unmittelbarer Zeuge der schrecklichen Ereignisse schwer traumatisiert wurde, am frühen Nachmittag beiläufig anmerkte, er habe dem Täter kurz in die Augen gesehen, fragte van der Grinten erstmals nach: „Erkennen Sie den hier?", wollte der Senatsvorsitzende wissen. „Es könnte sein", antwortete der Solinger. „Aber die Entfernung ist zu weit. Dazu müsste ich mich der Person schon nähern."
Das aber wollte van der Grinten nicht: „Darauf ist die Verteidigung nicht ausgelegt", sagte der Vorsitzende Richter mehrdeutig. Kurz darauf wurde dem 64-Jährigen stattdessen ein Polizeibild von Issa al-H. gezeigt. Dass ein Gericht bei einem Strafprozess einem Zeugen zur Identifizierung eines im Saal sitzenden Täters dessen Polizeibild zeigt, dürfte ein äußerst seltener und nicht wenig peinlicher Vorgang sein.
Nach dem Ende der mehr als fünfstündigen Sitzung zeigte sich Simon Rampp, der alle am Dienstag vernommenen Zeugen als Nebenklage-Anwalt vertritt, zufrieden. Alle sind gerettet worden und seien nun „dankbar, noch am Leben zu sein", sagte Rampp. Die für sie belastende Situation der Zeugenvernehmung, in der sie erneut mit den Erinnerungen an den Anschlag konfrontiert wurden, haben seine Mandanten „gut überstanden".
Außerdem hätten ihre übereinstimmenden Schilderungen, in einem Moment der Arglosigkeit angegriffen worden zu sein, das von der Bundesanwaltschaft angeklagte Mordmerkmal der Heimtücke bestätigt, lautete Rampps juristisches Fazit. Auf die Frage, wie er das Verhalten von Issa al-H. vor Gericht bewerte, sagte der Solinger Rechtsanwalt, dazu sei es „noch zu früh". Er habe zwar dessen „veränderte Sitzhaltung" bemerkt. „Aber die Reue nehmen wir ihm – Stand jetzt – definitiv nicht ab."
Der Prozess wird am 17. Juni mit Zeugenvernehmungen weiterer Geschädigter fortgesetzt. Bislang hat das Oberlandesgericht Verhandlungstermine bis 24. September vergeben. Die dürften auch zur weiteren Beweiserhebung benötigt werden, denn obwohl Issa al-H. seine Tat schnell eingeräumt hatte, ist die Frage nach seiner Motivation juristisch weiter ungeklärt. So geht die Bundesanwaltschaft aufgrund der Bekennervideos, die der 27-Jährige für die Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) angefertigt haben soll, sowie von auf seinen Datenträgern gefundenen Suchanfragen und Chatverläufen mit islamistisch-salafistischen Inhalten von einer religiösen Motivation aus. Der syrische Flüchtling aber bestreitet das und behauptete in der Untersuchungshaft gegenüber einem psychiatrischen Gutachter, er sei „vom IS reingelegt" worden und deswegen „selbst ein Opfer".
Auch die Frage nach der Schuldfähigkeit, die üblicherweise zum Ende eines Prozesses geklärt wird, dürfte noch spannend werden: So behauptete Issa al-H. gegenüber dem Psychiater, er habe die Tat aufgrund einer Wahnvorstellung begangen. So habe er anstelle der Musiker auf der Bühne in Solingen ein von „einem Hund zerfetztes Baby aus Gaza" gesehen. Daneben habe er einen „lachenden israelischen Polizisten" gesehen, den er dann habe töten wollen. Danach habe er sich an nichts mehr erinnern können. Ob er mit dieser Darstellung Erfolg haben wird, dürfte jedoch zweifelhaft sein. Die Anklage geht bislang fest von seiner Schuldfähigkeit aus.
Peter Hemmelrath arbeitet als Journalist und Gerichtsreporter.