Versucht der Solingen-Attentäter Issa al-H. mit Geschichten von „jüdischen Massakern" und „zerfetzten Babys in Gaza" eine Schuldunfähigkeit zu simulieren? Am Prozessgeschehen in Düsseldorf zeigt sich der teilgeständige Syrer bislang nicht interessiert.
Bereits über eine Stunde vor dem Beginn des Prozesses gegen Issa al-H. am Dienstag vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) zeigte sich das enorme Medieninteresse in Form einer langen Warteschlange, die bis auf die Straße reichte. Um 10 Uhr, als der Prozess eigentlich hätte beginnen sollen, wartete immer noch eine Reihe von Medienvertretern auf ihren Einlass. Damit musste auch das Gericht warten, denn wenn es die Verhandlung dennoch eröffnet hätte, wäre den Anwälten eine Gelegenheit zu einem Befangenheitsantrag wegen der nicht gewahrten Öffentlichkeit gegeben worden. Dieses Risiko wollte der 5. Strafsenat des OLG unter dem Vorsitz von Winfried van der Ginten offenbar nicht eingehen. Also wurde abgewartet, bis alle Journalisten und Zuschauer im Gericht waren.
Auch die Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor (Grüne) sowie eine Reihe von Parlamentariern aus dem nahegelegenen Landtag sahen sich die Prozesseröffnung an. Darunter waren mit Enxhi Seli-Zacharias (AfD) und Thorsten Klute (SPD) auch Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Anschlag in Solingen. Die meisten Abgeordneten nahmen im Zuschauerbereich Platz und verhielten sich unauffällig. Lediglich Lamya Kaddor, die sich als „parlamentarische Beobachterin" vorgestellt hatte, fiel sofort auf: Als die Journalisten aufgefordert wurden, ihre Plätze im Pressebereich einzunehmen, wollte sie ebenfalls den Saal betreten. Die Mitarbeiter des Gerichts wiesen Kaddor jedoch darauf hin, dass sie den Aufruf für die Zuschauer abwarten müsse. Die Grünen-Politikerin wirkte überrascht, fügte sich aber.
Um 11 Uhr war es endlich soweit und Issa al-H. konnte, von Polizisten in Sturmhauben begleitet, auf die Anklagebank hinter Panzerglas geführt werden. Dem 27-jährigen Syrer, der 2022 über die Balkanroute illegal nach Deutschland eingereist und zuletzt in einer Flüchtlingsunterkunft der Diakonie untergebracht war, wird von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen, am 23. August 2023 auf dem „Festival der Vielfalt" in Solingen für die Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) drei Menschen mit dem Messer ermordet zu haben und in Mordabsicht sowie „unter wiederholten Allahu-Akbar-Rufen" auf eine Reihe von Menschen weiter eingestochen und sie damit zum Teil schwer verletzt zu haben.
Als der Syrer den Saal betrat, fiel auf, dass ihm keine Handfesseln angelegt waren, was bei Angeklagten in IS-Prozessen sonst üblich ist. Mit einer Hand in der Hosentasche wirkte der 27-Jährige bei seinem Gang zur Anklagebank fast lässig. Dort aber legte er seinen Kopf sofort auf den Tisch, womit sein Gesicht für den Rest des Verhandlungstages nicht mehr zu erkennen war. Einer seiner Anwälte erklärte dies später damit, dass sich al-H. „für seine Tat schäme".
Zusammengesunkener und schweigender Angeklagter
Kurz darauf verlas Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten den Anklagesatz. Der größte Teil seiner rund 30-minütigen Erklärung war bereits aus der Anklageerhebung oder durch an die Presse durchgestochene Ermittlungserkenntnisse bekannt. Neu war jedoch, dass der Vertreter der Bundesanwaltschaft dem Syrer vorwarf, er habe bei seinem Anschlag „in schneller Abfolge" gezielt auf Hälse der Veranstaltungsbesucher eingestochen. Jedes Mal, wenn er glaubte, sein Opfer damit bereits tödlich verwundet zu haben, habe er sich sofort dem nächsten zugewendet und darauf eingestochen. So habe Issa al-H. zielgerichtet in kurzer Zeit eine möglichst hohe Zahl von „Ungläubigen" töten wollen, sagte der Ankläger. Sollte die Beweiserhebung diesen Vorwurf bestätigen, müsste die Tat als planvolles Vorgehen gewertet werden, was wiederum eine im Affekt oder im Zustand einer Wahnvorstellung begangene Tat ausschließen würde.
Damit wirkte alles, als stünde seine Verteidigung auf einem verlorenen Posten. „Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, den Angehörigen der Opfer mein tief empfundenes Beileid und den anderen Geschädigten mein Mitgefühl auszusprechen", begann einer seiner Anwälte. „Ich wende mich aber auch an die Menschen in Solingen und die Medienvertreter aus Deutschland und dem Ausland: Ich bitte Sie, keinen Hass auf al-H. zu hegen und fair zu berichten. Die Hauptverhandlung soll und wird die quälende Frage nach dem ,Warum' beantworten. Mein Mandant wird die Tat gestehen, zum Vorwurf der IS-Mitgliedschaft aber heute schweigen."
Issa al-H. gestand die Tat aber nicht selbst, sondern ließ dies seinen Verteidiger verlesen. „Ich habe Schuld auf mich geladen. Ich habe drei Menschen getötet. Ich habe Unschuldige getötet und verletzt und keine Ungläubigen. Wir alle, Christen, Juden und Muslime sind Kusinen, aber keine Feinde. Deshalb verdiene und erwarte ich eine lebenslange Freiheitsstrafe", las der Anwalt vom Blatt ab. Später bezeichnete der Verteidiger das Teilgeständnis vor Journalisten als „von Reue getragen".
Im Saal war aber nur ein zusammengesunkener und schweigender Angeklagter zu sehen, der während der gesamten Sitzung jeden Blickkontakt strikt vermied. Als kurz darauf ein Justizmitarbeiter quer durch den Saal ging, um Issa al-H. aufzufordern, beim Sprechen das Gericht anzusehen, wiegelte Winfried van der Grinten ab: „Ist schon in Ordnung." Kurz darauf bedankte sich der Syrer bei den Prozessbeteiligten dafür, von ihnen „respektvoll" behandelt zu werden. In die andere Richtung aber haperte es noch mit dem Respekt, denn beim Eintreten des Gerichts stand der 27-Jährige erst nach einer Aufforderung der neben ihm sitzenden Wachleute auf.
6.800 US-Dollar an Schlepper bezahlt
Nachdem Issa al-H. nichts zum Vorwurf der IS-Mitgliedschaft sagen wollte, blieb dem 5. Strafsenat nichts anderes übrig, als den psychiatrischen Sachverständigen Johannes Fuß dazu zu befragen. Der Professor von der Universität Duisburg-Essen hatte Ende 2024 zweimal nur durch eine Glasscheibe getrennt ausführlich mit dem syrischen Flüchtling geredet. Aus al-H.s Perspektive betrachtet, war dies ein geschickter Schachzug, denn so gelangte seine Sicht der Dinge nun in den Gerichtssaal – aber ohne, dass das Gericht oder die Anklage ihn dazu hätte kritisch befragen oder bei einzelnen Punkten nachhaken können.
Johannes Fuß schilderte, dass al-H. ihm bei diesen Gesprächen erzählt habe, er sei 2022 aus der Türkei gekommen und habe dafür 6.800 US-Dollar an Schlepper bezahlt. Deutschland habe er als „das beste Land" gesehen, um so leben zu können, wie man wolle. Allerdings sei es schwierig, einen Freund in Deutschland zu finden, da die Gesellschaft „materiell geprägt" sei. An die „Allgegenwärtigkeit sexueller Reize in Deutschland" habe er sich jedoch gewöhnt. Kurz vor seiner Tat habe er darüber nachgedacht, einen Ehevermittler mit der Suche nach einer muslimischen Frau für ihn zu beauftragen.
Dann berichtete Fuß, dass Issa al-H. auf den Vorwurf einer islamistisch motivierten Tat „entrüstet" reagiert und dies vehement bestritten habe. Der Syrer habe ihm erzählt, seine Tat hätte mit einem Video, „das getötete und zerstückelte palästinensische Kinder gezeigt habe", begonnen. Deren „Leiden sei von der Welt ignoriert worden", habe al-H. gesagt. Nachdem er ein solches Video im Internet gepostet hatte, sei er von „einer ihm unbekannten Person" im Chat angesprochen worden. Diese Person habe ihn aufgefordert, Deutsche zu töten, denn die „sind für das Leid der palästinensischen Kinder mitverantwortlich". Danach habe Issa al-H. dem Psychiater gesagt, „er sei reingelegt worden und selbst ein Opfer".
Als er auf das Solinger Stadtfest gegangen sei, habe er die „vorübergehende Wahrnehmung" gehabt, auf der Bühne anstelle der Musiker von einem Hund zerstückelte palästinensische Kinder zu sehen. „Ein israelischer Polizist sei danebengestanden und habe gelacht. Den habe er dann töten wollen", gab Johannes Fuß die Schilderung von Issa al-H. wieder. Darüber hinaus habe al-H. laut seiner Darstellung gegenüber dem Psychiater keine weitere Erinnerung an den Abend des 23. August. Als er sich am nächsten Tag der Polizei gestellt habe, sei er davon ausgegangen, nur einen Menschen getötet zu haben, dafür „eine Haftstrafe absitzen zu müssen und sich danach ein Leben in Deutschland aufbauen zu können".
Schauergeschichten über angebliche israelische Kriegsverbrechen
„Wenn es die palästinensischen Kinder nicht gegeben hätte, hätte es die Tat nicht gegeben", habe Issa al-H. ihm gesagt, so Fuß weiter. An den Opfern seiner Tat habe al-H. aber nur wenig Interesse gezeigt: „Man ist traurig, dass sie gestorben sind, aber über die Kinder in Palästina ist man nicht traurig", habe er gesagt und sei weiter dabei geblieben, dass er vom IS „reingelegt" worden sei. Jetzt habe er „den Vorwurf am Hals, ein IS-Mitglied zu sein", habe al-H. geklagt. Auch habe der Syrer, so der Psychiater, die Toten von Solingen bezweifelt und deshalb Fotos von ihnen sehen wollen.
Mit dieser bizarren Schilderung stand aber auch die Frage im Raum, ob Issa al-H. dem Psychiater Schauergeschichten über angebliche israelische Kriegsverbrechen als seine Tatmotivation zu verkaufen versucht hat, um eine Schuldunfähigkeit zu simulieren. Denn die Darstellung des Sachverständigen, al-H. habe in der Haft freudig auf die Machtübernahme von Islamisten in seinem Heimatland reagiert, deutet darauf hin, dass der nicht dumm wirkende junge Mann das politischen Geschehen in Deutschland und in der Welt auch im Gefängnis aufmerksam verfolgt hat. Und wer das verfolgt, der dürfte auch schnell begreifen, dass viele Deutsche Geschichten über angebliche israelische „Massaker" in Gaza nur allzu gerne glauben und als Tatsachen sowie als Entschuldigung für Terror-Anschläge ansehen.
Würde die Darstellung einer Tötung aufgrund einer Wahrvorstellung und dem dann folgenden Erinnerungsverlust als glaubhaft gewertet, so müsste sie zu einer Einstufung von Issa al-H. als schuldunfähig führen. Und ohne Schuld gibt es im deutschen Strafrecht keine Strafe. Damit wären bei einer solchen Einstufung auch seine eigenen Beteuerungen, er verdiene eine lebenslange Strafe, rechtlich irrelevant.
Anklage und Gericht aber gehen anscheinend von gänzlich anderen Annahmen aus. So sprach Jochen Weingarten bei seiner Eröffnungsrede auch die Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung an. Und Winfried van der Grinten wies die Prozessbeteiligten darauf hin, dass bei Issa al-H. auch eine besondere Schwere der Schuld festgestellt werden könnte. Bei einer besonderen Schwere der Schuld wäre eine Haftentlassung nach 15 Jahren nicht möglich. Damit wären al-H.s Vorstellungen einer zu verbüßenden Haftstrafe und einem anschließenden Leben in Deutschland zerplatzt.
Vorwurf einer islamistisch motivierten Tat
Und die bisherige Beweisaufnahme spricht klar gegen seine eigenen Darstellungen: Die Bekennervideos, die nach der Tat auf einem IS-Kanal veröffentlicht und gleich am Dienstag im Gerichtssaal gezeigt wurden, unterstreichen den Vorwurf einer islamistisch motivierten Tat. Auf einem der Videos kündigte er seine Taten mit den Worten „Und ihr glaubt, dass ihr ungestraft bleibt? Ich werde euch, so Allah will, zerstückeln und zerschneiden und in Stücke reißen" an. Ebenso war zu sehen und zu hören, wie al-H. „dem Befehlshaber der Gläubigen und dem Kalifen der Muslime" die Treue schwor. Und in einem an seine Eltern in Syrien gerichteten Video sprach er davon, „für jüdische Massaker, die mit Unterstützung der Kreuzfahrer begangen wurden, Rache nehmen zu wollen".
Sein Chat-Eintrag „Ich ficke Deutschland und seine Homosexuellen" spricht ebenfalls eine andere Sprache. An dieser Stelle aber meldete sich Issa al-H., der zum Vorwurf der IS-Mitgliedschaft eigentlich schweigen wollte, plötzlich doch zu Wort und behauptete, er habe damit nur eine Chatpartnerin „eifersüchtig machen wollen".
Auch die am Mittwoch von der Anklage vorgelegten Beweise stützen die Anklage: So wurden unter anderem eine Reihe von zufällig aufgenommenen Handy-Videos gezeigt, die seine Tat auf dem Fronhof in Solingen dokumentieren. Bei einem der Videos war deutlich zu hören, wie sich im Hintergrund „Allahu-Akbar"-Rufe und gellende Hilfeschreie miteinander vermischen. Die Auswertung aller Videos habe ergeben, dass al-H. auf dem Fronhof in weniger als einer Minute 13 Menschen mit dem Messer angegriffen habe, erläuterte ein Polizist im Zeugenstand. Später berichtete ein Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) detailliert über die „IS-lastigen" Suchanfragen sowie die beginnende Chat-Kommunikation mit dem mutmaßlichen IS-Rekrutierer „Abu Faruk", die bei der Auslesung seines Handys gefunden wurden.
Issa al-H. aber zeigte auch am Mittwoch keinerlei Interesse am Prozessgeschehen. So legte er während des ganzen Verhandlungstages seinen Kopf auf die Tischplatte. „Herr al-H., sind Sie noch bei uns?", fragte der Senatsvorsitzende, als das Video einer Überwachungskamera vorgespielt wurde, auf dem zu sehen war, wie er kurz vor der Tat in einem Solinger Geschäft mehrere Messer begutachtete und dann die Tatwaffe kaufte. „Ich sehe, dass Sie nicht auf die Leinwand schauen." Ein Verteidiger des Syrers fuhr den Richter sofort scharf an: „Ich möchte Sie bitten, ihn nicht persönlich anzusprechen. Er möchte nichts dazu sagen."
Nach den Videos, die zeigten, wie er auf Besucher des Stadtfestes einstach, reagierte der 27-Jährige auf die Frage, ob er sich wiedererkenne, indem er kurz den Kopf hob und sagte: „Ja, ja, das bin ich." Kurz darauf klagte al-H.: „Mein Bauch tut mir weh." Das führte zu einer sofortigen Sitzungsunterbrechung, um seine Verfassung zu überprüfen. Nach einer kurzen Pause räumten seine Anwälte aber ein, dass er weiter verhandlungsfähig sei. Während der BKA-Ermittler die ausführliche Darstellung seiner islamistischen Chat-Kontakte fortsetzte, legte Issa al-H. seinen Kopf wieder auf die Tischplatte vor ihm. Eine Zuschauerin aus Solingen schimpfte: „Er sollte wenigstens sein Gesicht zeigen. Das ist das Mindeste, was wir erwarten." Bislang aber scheint dem formal teilgeständigen Syrer die Erwartungshaltung der Menschen in Solingen gleichgültig zu sein.
Peter Hemmelrath arbeitet als Journalist und Gerichtsreporter.