Ralf Schuler / 11.08.2020 / 06:00 / Foto: Bildarchiv Pietermahn / 63 / Seite ausdrucken

So werden Sie was in der Politik

„Stimmt. Sehe ich genau so, aber …“

Wenn es darum geht, in aktuellen politischen Debatten KEINE Meinung zu vertreten, ist die Liste der Begründungen lang. Das ist kein Phänomen des Berliner Politikbetriebs, sondern hängt mit der inneren Dynamik von Parteien zusammen, mit Wahlterminen und der Interessen-Vernetzung in der Politik überhaupt. Für politische Neueinsteiger, die noch immer glauben, man müsse zu seinen Überzeugungen stehen, hier eine kleine Auswahl der beliebtesten Ausflüchte aus der täglichen Praxis. Die eine oder andere Wendung dürfte sich eigentlich mit Anführungszeichen schmücken, aber sei’s drum ...

„Das Thema passt jetzt nicht in die Zeit“

Gern genutzt, wenn statt unbequemer Anfragen lieber der politische Gegner ins Visier genommen werden soll und ablenkende Debatten nicht zielführend sind.

„Diese Frage stellt sich nicht“

Grundwissen und Standard-Repertoire jedes Polit-Profis. Inhaltlich zwar doppelt dämlich, weil Fragen sich ohnehin nie selbst stellen (sie haben noch nicht mal Beine), sondern auch, weil die betreffende unliebsame Frage ganz offensichtlich soeben gestellt wurde. Macht nichts. Bei dem einen oder anderen Interviewer kommt man dann doch immer wieder damit durch, sich die genehmen Fragen einfach selbst auszusuchen.

„Ich will XY nicht schaden“

Sicher, die Sache ist eine Riesen-Dummheit gewesen, aber wir haben so lange gebraucht, endlich eine Frau unseres Flügels auf den Posten zu bekommen. Das will ich jetzt nicht gefährden. Merke: Man muss einen Dummen nicht dumm nennen, wenn es der eigene Dumme ist.

„Diese Schlacht kann man nicht gewinnen“

Vorsicht, Zeitgeist-Falle! Umbenennung der Mohrenstraße, Frauenquote, Adoption für Homo-Paare, Rassismus-Keule … In der Sache mag es da gute Argumente Pro und Contra geben, aber im Zweifel hat man tagelang im Netz einen Shitstorm an der Hacke, gilt womöglich irgendwann den eigenen Leuten nicht mehr als unbelastet vorzeigbar. Fazit: Klappe halten, statt Maul verbrennen.

„Das spielt doch nur den falschen Leuten in die Hände“

Im milderen Fall ist es nur die politische Konkurrenz, im schlimmsten die AfD. Grundsätzlich muss die Benennung von Tatsachen lieber einmal aussetzen, als dass Applaus von der „falschen Seite“ kommt. Auch Follower in sozialen Netzwerken sollten streng auf Gesinnung gesichtet, ggf. rasch blockiert und Likes von dubiosen Absendern nicht angenommen werden. Auch bei Empfängen in Berlin-Mitte gilt: Immer erstmal sehen, mit wem man nicht gesehen werden darf …

„Bin im Urlaub“

Naja, ist weder glaubwürdig noch originell, wenn man mit diesem Spruch per SMS antwortet, also durchaus aufs Handy gesehen hat, geht aber gerade jetzt im Sommer immer. Auch wenn sonst keine Zeit zu unchristlich und kein Sonntag zu heilig ist, um zweckdienliche Dinge durchzustechen, sich selbst ins Gespräch zu bringen oder Missgünstiges über Dritte auszuträufeln – wenn das Thema zu heikel ist, einfach Urlaub vorschieben. Müssen die auch mal akzeptieren.

„Zuviel Aufmerksamkeit für die Falschen“

Auch im Gespräch zu sein, ist eine politische Währung. Deshalb Obacht, wem man zu Beachtung verhilft. Thema hin oder her, wenn man jemanden aus dem Diskurs wegschweigen kann oder in eine vermeintlich niedrigere Liga abqualifizieren will: Klappe halten. Motto: Nicht mal ignorieren.

„Nicht zuständig“

Die Mutter aller Beamten-Ausflüchte ist ein wenig in Verruf geraten. Zu banal, die Organigramm- und Hierarchie-verliebt. Meine Meinung gibt’s eine Tür weiter, Kostenstelle 08/15. Wenn der Spruch unvermeidlich ist, bitte um gespielte Fürsorge für den eigentlich Verantwortlichen ergänzen: Er hat den Sprecher-Posten noch nicht so lange, da will ich ihm nicht reingrätschen ... Siehe auch: Das ist Ländersache.

„Dazu hat der Vorsitzende schon alles gesagt“

Klar, wenn der Chef gesprochen hat, schweigen die Zwerge im Vorgarten. Die Losung für den heutigen Tag finden wir im Chef-Evangelium, Kapitel 1, Vers 3: Du sollst keine anderen Meinungen haben neben mir.

„Ich möchte da nicht vorgreifen“

Wenn Gremien wichtige Beschlüsse fassen müssen, vermeidet man a) tunlichst den Eindruck, die Entscheidung stehe schon fest und wird nur noch abgenickt, b) man geht kein unnötiges Risiko ein, wenn die Würfel doch anders fallen sollten und leistet sich c) keine abweichende Meinung. So geht Geschlossenheit heute.

„Ich kann da intern mehr erreichen“

Wenn Wahlen in Bundestagsfraktionen oder auf Parteitagen anstehen, empfiehlt es sich, die gemeinsamen Erfolge hervorzuheben und nicht mit kleinlicher Sachkritik „quer im eigenen Stall zu stehen“ (Wolfgang Bosbach). Wer Vize-, Beisitzer-, Sprecher- oder Ausschuss-Posten anpeilt, verweist gern darauf, dass mit den neuen Epauletten dann das eigene (kritische) Wort noch mehr Gewicht habe. Da ist insofern etwas dran, als man beim Versuch, das System von innen umzukrempeln, das angenehme (zum Beispiel Funktionszulagen) mit dem Nützlichen verbinden könnte. Leider weisen die Posten-Patrone auch nach der Beförderung allzu aufdringlich immer wieder darauf hin, wem der Beförderte seine Meriten zu verdanken hat und verlangen Gefolgschaft. Hach.

„Ich will die jetzt nicht verärgern, weil ich noch Zugeständnisse beim Soli will“

Da es nicht nur bei Trump, sondern auch in der deutschen Politik hin und wieder ums Deal-Machen geht, muss Wahrheit auch hier mitunter taktisch klug dosiert werden. Warum Fronten unnötig verhärten, die man hernach mit politischen Geschenken verlustreich wieder aufweichen muss. Aufrecht stirbt der Teppichhändler. Klarheit kommt demnächst wieder rein.

„Ich habe schon genug Ärger“

Da muss man in der Tat Verständnis haben. Wer auf zu vielen Baustellen unterwegs ist, wird schnell zum Dauernörgler und Querulanten etikettiert und auch sonst nicht mehr ernst genommen. Also hin und wieder mal aussetzen mit der berechtigten Kritik. Können ja auch andere mal den Mund aufmachen. Theoretisch zumindest.

„Sie wissen ja, wie ich darüber denke“

(Aber deshalb muss ich es doch nicht auch noch laut aussprechen.) Kuschelige Übereinstimmung ist das eine, mit unbequemen Zwischenrufen erwischt zu werden, das andere. Wenn das nächste Mal wohlfeil auf die politische Konkurrenz eingeprügelt werden kann, gern nochmal nachfragen.

„Sonst gern, aber ...“

Irgendwas ist ja immer. Vor Wahlen nimmt man sich besser etwas zurück, zeigt Geschlossenheit, nach Wahlen, wenn es um die Postenvergabe geht, empfiehlt sich ebenfalls geschicktes Aufmerksamkeitsmanagement und keinesfalls vorlautes Auffallen. Wenn es keine Parteilinie in der Sache gibt, wartet man besser ab, wenn es eine gibt, hält man sich dran, bekräftigt, unterstreicht, pflichtet bei.

„Aber sonst ...

Lassen Sie mich das mit aller Deutlichkeit sagen: Hier muss entschlossen geprüft werden. Da kann es kein „Weiter so“ geben. Wir müssen Zukunftsfähigkeit konsequent implementieren, damit aus Bologna II nicht Basel 3 wird und die Gespräche im Normandie-Format im Sinne der Reziprozität auch den BEPS-Prozess voranbringen ... Was Letzteres ist, können Sie ruhig mal selbst herausfinden. Die ersten zehn Einsendungen gewinnen an Erkenntnis. Die anderen auch.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Uta Buhr / 11.08.2020

Bei Totalversagen an der Spitze des Staates ist jegliche Kritik ausgeschlossen, Argument: Damit wird das Amt des BP beschädigt.

Thomas Schmied / 11.08.2020

Habe gerade live ein Interview mit Kevin Kühnert gesehen. Er behauptete da, dass die SPD keine “Krabbelgruppe sei, in der es darum geht, wer am Ende die Bauklötze bekommt”. Das glaube ich dem Kevin aber nicht.

George Samsonis / 11.08.2020

Hätte ich bloß ein Studium der Theaterwissenschaften begonnen und dieses nach zwei Semestern ohne Abschluss beendet. Dann wäre ich jetzt einer der Bundestags-Vizepräsidenten. Oder mit noch weniger bzw. gar keinem Aufwand: Gar keine Berufsausbildung, so null-komma-null, nichts, nada, niente, und für den nächsten Bundestag in einem Wahlkreis in Berlin kandidieren. Dann säße ich voraussichtlich auch bald im Dtsch. Bundestag - natürlich für das LinksGrüne politische Spektrum ;-).

Claudius Pappe / 11.08.2020

Ich entgegen oft mit: Trump gefällt mir.

Rainer Niersberger / 11.08.2020

Zur notwendigen Ergänzung fehlt noch die andere Seite, das sind die, die Derartiges problemlos hinnehmen oder sogar toll finden, Demos genannt. Denn zugleich werden die, die konkreten Klartext reden und nicht Bullshit absondern, abgestraft. Warum? Offenbar schaetzen doch viele Zeitgenossen Klarheit, nicht selten, zumal in diesen Zeiten, mit gewissen Unwohlgefuehlen verbunden, nicht sonderlich. Lieber Bullshit, der zur Selbsttaeuschung passt, als demaskierte! Wahrheit. Die Polutkaste bedient das Bedürfnis der Wohlfuehlgenerationen, die in ihrer Blase bleiben wollen, zumal die Entbildung “hilft” , dass nur noch ganz simple Plattitueden “verstanden” werden. Und Handicaptraegerinnen wie Merkel werden eher uebersinnliche Eigenschaften und spezielle Verbindungen oder eine Art Auserwaehltheit zugeschrieben, die sich ueber eine besondere, eher unverständliche “Sprache” vermittelt. Ihr Schweigen gilt ja ohnehin als Zeichen einer gelassenen Genialität.

Max Wedell / 11.08.2020

Liebe Achgutleser, ich denke mal, jeder steht jetzt in der Verantwortung. Die Ereignisse stellen uns alle auf die Probe. Aber gemeinsam werden wir sie meistern. Ich will aber auch sagen, was mir jetzt ganz besonders am Herzen liegt: Daß es besser wird. Das werden wir schaffen, wenn wir uns anstrengen. Denn Demokratie muß ja gelebt werden. Dafür will ich werben. Die Politik muß erfahrbar werden. Dafür stehe ich voll und ganz ein. Ich bin guten Mutes, daß die Menschen das einsehen. Denn dafür habe ich immer schon gekämpft. Aber das steht jetzt überhaupt nicht zur Debatte. Jeder muß die Spielregeln einhalten, das muß ganz klar verhandelt werden. Da kann man auch nicht drumherumreden, sondern muß klare Worte sprechen, die der Bürger versteht. Da sind so viele Ansätze, die ich teile. Dabei dürfen wir aber auch die Unterschiede nicht aus den Augen verlieren. Viele fürchten, von den Entwicklungen überrollt zu werden. Alte Gewißheiten werden infrage gestellt. Das ist ein alarmierendes Zeichen. Den Menschen muß daher die Zuversicht zurückgegeben werden. Wir müssen nicht über, sondern mit ihnen reden. Es muß Vertrauen entstehen. Das müssen wir gemeinsam lernen. Mit einer geeigneten Strategie wird sich dann eine neue Dynamik entwickeln. Den Nachhaltigkeitsgedanken dürfen wir dabei aber nicht aus den Augen verlieren. Vor diesem Hintergrund sollten wir unser Hauptaugenmerk auf geeignete Maßnahmen legen, ohne die es nicht gehen wird. Ich unterstreiche daher den Handlungsbedarf. Dafür brauchen wir eine offene Debatte. Es wurde uns doch eindringlich vor Augen geführt, daß es so nicht weitergehen kann. In diesem Sinne begrüße ich eine global vernetzte Entwicklung besonders in kritischen Bereichen sehr. Das mag ambitioniert klingen, aber nur Mut und Zuversicht bringen uns weiter. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Ilona Grimm / 11.08.2020

@Steffen Lindner: Danke für den Hinweis auf Loriots Bundestagsrede. Die kannte ich noch nicht. Sehr lustig und absolut zeitlos. Hat Helge Lindhhh nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Abgeordneten von Bülow/Loriot? Oder bilde ich mir das ein? @Herr Schuler: Ihre Liste wird demnächst Eingang in den Lehrplan für das Studium der Politikwissenschaften finden.

S. E. L. Mueffler / 11.08.2020

Zu Antwort 3 (Diese Frage stellt sich nicht!) gibt es eine freundlicher klingende Umgehung, die uns in der Serie “Yes, Minister!” aus den 1980er Jahren überliefert ist. Sie lautet (sinngemäß übersetzt): “Ich freue mich, daß Sie mir diese Frage stellen, da sie mich auch sehr bewegt und ich im Übrigen der festen Überzeugung bin, daß die Bürger diese Landes das Recht auf eine umfassende Antwort auf diese Frage haben. Ich möchte ganz offen sein ... ” Ab hier ist dann der Weg zur freien Phrasenbildung bis hin zu einem kompletten Themawechsel freigeschaufelt. Am Ende des Monologs gewinnend lächeln und auf die nächste Frage warten.

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