Robert von Loewenstern / 08.10.2019 / 06:20 / Foto: Bundesarchiv / 91 / Seite ausdrucken

So werde ich nie ein Gutbürger!

Anfang des Jahres nahm ich mir vor, ein besserer Mensch zu werden. „Vom Wutbürger zum Gutbürger in 100 Tagen“, lautete mein Vorsatz, genau wie bereits 2018. Und erneut muss ich gestehen: Mit der Umsetzung läuft es relativ medium.

Immer noch werde ich von schlimmen Vorurteilen geplagt. Worte wie „ein Mann“, „eine Gruppe von“ oder „Messer“ rufen spontane Assoziationen in mir hervor. Ähnlich verhält es sich mit „Massenschlägerei“, „Hochzeitskorso“ und „Großfamilie“. Die Gedanken kommen mir einfach so in den Sinn. Und sie drehen sich nicht um Japaner, Buddhisten oder Elektriker, ich sag’s ganz ehrlich.

Das Schlechte sitzt tief in mir. Nicht einmal bei einem harmlosen Spaziergang in der Natur verschont es mich. Unvermittelt schießen mir Ungeheuerlichkeiten durch den Kopf. Ich denke Dinge wie „Wald“. „Wald“! Einfach so, aus heiterem Himmel. Und was ist „Wald“? Genau, der Prototyp von Generalverdacht. Jeder Baum ist schließlich ein Einzelfall und verdient individuelle Zuwendung und Anerkennung. Wer weiß, vielleicht hat er sogar psychische Probleme. So wie ich zum Beispiel. Aus einer Reihe von Einzelfällen auf die Gesamtheit zu schließen, ist Pauschalisierung und der Beweis, dass ich Schwierigkeiten mit Differenzierung habe. Ja, ich weiß das alles, aber was soll ich machen? Mein Fleisch ist willig, mein Geist ist schwach.

Ich habe kein Problem, ich bin eines

Auch meine Toleranz lässt zu wünschen übrig. Ich stehe jeder Art von Religion kritisch gegenüber, egal, ob es sich um die katholische, kommunistische oder klimatische Ausprägung handelt. Von der islamischen will ich gar nicht erst anfangen, sonst wird eine Flasche Klosterfrau Melissengeist fällig, um mein vegetatives Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. 

Falls Sie weitere Belege für meine Mangelpersönlichkeit benötigen, gerne: Ich gebe grundsätzlich nichts an organisierte Bettel-Zigeuner. Die lassen mich nicht nur kalt, sondern hinterlassen mich sogar kälter. Ich bin für ein radikales Kopftuchverbot in Schulen und Behörden, ebenso für Atomkraft und für die Schwarze Null. Ich bin gegen Windräder, ich halte Robert Habeck für einen Schaumschläger, und der Name Greta erzeugt in meinem Kopf Bilder von Chucky, der Mörderpuppe. Ich mag Juden und Ossis, letztere spätestens seit einer Motorradtour durch die eroberten Bundesländer. Unter meinen Freunden sind AfD-Wähler, und ich finde das nicht einmal schlimm.

Falls Sie denken, abscheulicher geht’s nicht, täuschen Sie sich. Zu allem Überfluss hänge ich längst überholtem Gedankengut nach: Ich halte es für wünschenswert, dass Regierungen sich an Recht und Gesetz halten und dass Medien die Wahrheit sagen. Die Essenz meiner Existenz: Ich habe kein Problem, ich bin eines. Ich bin der, vor dem Ihre Kinder Sie warnen.

Die Umstände sind gegen mich

Es liegt also noch eine Menge Arbeit vor mir, da sind wir uns einig. Die Umstände machen es mir allerdings nicht gerade leichter. Ich kämpfe sozusagen unter erschwerten Bedingungen. Bitte, ich will mich nicht herausreden, ich sage einfach nur, wie es ist. 

Nehmen wir den vergangenen Samstag. Der begann am Freitag. Die beste kleine Frau von allen hielt es für eine gute Idee, mich an die frische Luft zu führen. Ich auch. Im Speziellen schlug sie vor, die Neue Synagoge in Berlin zu besuchen. Da wir das Gebäude noch nie von innen gesehen hatten, hielt ich dies ebenfalls für eine gute Idee. War es aber nicht, denn am Freitagnachmittag schließt das Baudenkmal vorzeitig. Hätte man drauf kommen können. Egal, wir fuhren trotzdem nach Mitte und unternahmen einen ausgedehnten Spaziergang rund um die Synagoge. 

Tags darauf machte mich die kleine Frau auf eine dpa-Meldung aufmerksam: „Ein Mann“ hatte am Freitag „die Absperrung vor der Neuen Synagoge überwunden und ein Messer gezogen“. Sicherheitskräften gelang es mit einer gesunden Ladung Pfefferspray, ihn zu überwältigen. Dpa weiter: „Den Angaben nach ließ sich das Motiv der Tat auch nach der Festnahme zunächst nicht klären. Da ein politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden konnte, hat der Staatsschutz die Ermittlungen übernommen.“

Ein Mann, ein Messer, ein Gott

Ah, dachte ich, „ein Mann“ und „ein Messer“. So weit normal. Üblicherweise recherchiere ich den täglichen „Ein Mann“- oder „Eine Gruppe von“-Nachrichten nicht mehr hinterher. Man hat schließlich auch noch ein Leben zu leben. Bei dieser Meldung war es etwas anderes, denn das nicht ganz undramatische Ereignis am Vortag hatte offenbar exakt zu der Zeit stattgefunden, als wir keine hundert Meter entfernt spazierten. Außerdem war es eine gute Gelegenheit zur Eigentherapie, um meinen spontanen Generalverdacht zu widerlegen. Also googelte ich „Mann Synagoge Messer“. Erste Aufklärung lieferte die Berliner „Mopo“. Sie berichtete, der „Messer-Mann“ habe nach Zeugenberichten „etwas“ auf Arabisch „geredet“. 

„Bild“ wurde konkreter. Bei „etwas“ handelte es sich um „Allahu akbar!“ – einen Ausruf, dessen Bedeutung speziell im Zusammenhang mit Stich- und Schneidwerkzeugen mittlerweile auch dem letzten indigenen Landei geläufig sein dürfte. Zeugen zufolge hatte der polyglotte Mitbürger der Vollständigkeit halber eine weitere Grußformel geäußert: „Fuck Israel!“ Ach ja, und aus „ein Mann“ wurde bei „Bild“ ein Syrer – das besagen jedenfalls seine Papiere, die als Geburtsort Damaskus ausweisen.

Ich fasse zusammen: Ein arabisch Erstsozialisierter läuft bewaffnet auf ein Gebäude namens „Synagoge“ zu, signalisiert die Absicht, seinem geistigen Führer alsbald persönlich gegenüberzutreten und fordert die Allgemeinheit nebenbei auf, das staatlich organisierte Judentum durchzuwemsen. Dpa vermeldet dazu, „ein politischer Hintergrund“ könne „nicht ausgeschlossen“ werden. Mein böses Ich ergänzt, dass bestimmt auch ein lustiger Spaß oder eine verlorene Wette nicht ausgeschlossen werden kann. 

Erneut ein Sack Vorurteile bestätigt

Am Samstagmorgen wurde der Syrer mit Hang zu aktiver Freizeitgestaltung übrigens aus dem Polizeigewahrsam entlassen, da „keine Haftgründe“ vorlagen. 

Falls Sie jetzt denken, der Synagogenvorfall hätte mich in meinem Bemühen um Besserwerdung weit zurückgeworfen: Es geht. Klar, zu Täter, Justiz und Berichterstattung bestätigte sich erneut ein ganzer Sack meiner üblen Vorurteile (ich gestehe, ich nenne sie immer noch „Erfahrungen“ oder „Statistiken“, nur nicht mehr so laut). Aber die Wirkung der „Ein Mann“-Meldung war begrenzt. Man ist derlei ja seit Langem gewohnt, speziell von dpa, die Chefredakteur Sven Gösmann zielstrebig von einer Nachrichtenagentur in Richtung „Zentrum für politische Schönheit“ weiterentwickelt. Nun schafft man es zuverlässig, jede Meldung, die „den Populisten“ Futter liefern könnte, so weit zu neutralisieren, dass sie mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet.

Ich blieb also einigermaßen unerschüttert. Anders erging es mir bei einer weiteren Meldung vom Samstag. Sie ahnen es, ich meine die Attacke von Paris zwei Tage zuvor. Auch hier gab es die üblichen Trigger, die umgehend meinen lauernden Argwohn weckten. „Ein Mann“ war zwar in diesem Fall etwas konkreter „ein Polizist“, aber doch ohne greifbaren persönlichen Hintergrund. Vier Kollegen hatte er, scheinbar grundlos, pünktlich zur Mittagspause weggemessert, bevor er selbst auf die rustikale Art dem humanen Genpool entzogen wurde. „Messer“, Mutmaßungen zu „psychischen Problemen“ – ich gebe zu, die Tat war eine Herausforderung für mich.

Ich wollte so gerne brav sein

Trotzdem, als braves Schaf, das ich unbedingt werden wollte, hatte ich am Donnerstag alle inneren Widerstände überwunden und beschlossen, den offiziellen französischen Verlautbarungen zu glauben: vorbildlicher Mitarbeiter, unauffällig, keine besonderen Vorkommnisse, keine Anzeichen für irgendwas.

Leider hatte man dabei ein paar Kleinigkeiten vergessen, die zunächst scheibchenweise und dann geballt am Samstag bekannt wurden: schon lange auffällig, vor zehn Jahren zum Islam konvertiert, streng- bis sprenggläubig, „veränderte Bekleidungsgewohnheiten“, marokkanische Ehefrau, Kontakt zu Salafisten, Anhänger eines extremistischen Imams, Freude über das Charlie-Hebdo-Attentat, unmittelbar vor der Tat dutzende Textnachrichten „mit religiösem Inhalt“ an die werte Gemahlin.

Tja, und so eine Nummer kommt von den laizistischen Franzosen, die bisher im Zusammenhang mit islamischen Problembären nicht durch übermäßiges Tarnen und Täuschen aufgefallen waren – jedenfalls nicht vergleichbar mit bundesdeutschen Verschleierungen. Einen kleinen Lichtblick gab es: Wenigstens kommt in Frankreich die Presse noch ihrem Auftrag zur Aufklärung nach. Trotzdem war ich nicht wenig verunsichert. Mal ehrlich, wie soll man unter solchen Voraussetzungen mit der persönlichen Optimierung in Richtung Gut- und Mutbürgertum weiterkommen? Die Franzosen waren da ganz bestimmt nicht hilfreich. 

Angesichts dieser Umstände beschloss ich, einer weiteren dpa-Meldung, über die ich bei der Synagogengoogelei gestolpert war, vorsichtshalber nicht nachzugehen. Auf Einzelheiten zu „einer Gruppe junger Männer“ und den von ihnen praktizierten „homophoben Angriff“ verzichtete ich. Man muss es ja nicht übertreiben. Eine Resthoffnung auf Eigenbesserung will ich mir schließlich erhalten.

Foto: Bundesarchiv CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia

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Dr. Joachim Lucas / 08.10.2019

Ich habe mal von einem schönen Test aus der Nachkriegszeit bzgl. der NS-Zeit gelesen. Man zieht eine Kreidelinie von 2 Metern und stellt eine Gruppe Menschen mit etwas Abstand dazu auf. Man lässt sie darüber diskutieren wie lang die Linie ist. Die in den Test Eingeweihten behaupten stur die Linie sei 4 Meter lang. Nur einer, ein Uneingeweihter, erkennt natürlich, dass die Linie erkennbar etwa 2 Meter lang ist. Am Ende ist der so kirre von der Diskussion, dass er glaubt sich mit den 2 Metern zu irren. So läuft das hier in D.

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