So sein oder nicht so sein? Das große Identitätsgehubere

Identität ist ein Begriff, den man überall bereitwillig adaptiert. Berufen sich Rechte auf eine imaginierte nationale oder – im ethnopluralistischen Neusprech – kulturelle Identität, die von inneren und äußeren Feinden geschützt werden solle, so entdecken Linke allerlei geschlechtliche, sexuelle, religiöse und ebenfalls kulturelle Identitäten, die vor „Hatespeech“ abgeschirmt werden müssen. Klare Abgrenzung scheint ein notwendiger Umstand zur Konstitution von Identität zu sein. Und doch rekurrieren Identitäre von links und rechts unentwegt auf mehr als das, wenn von Identität die Rede ist: Angestrebt ist ein festes Fundament, eine spezifische Verfasstheit, ein unveränderbares So-Sein.

Die Suche nach fester Identität und der Stolz auf das So-Sein der Einzelnen sind kaum noch wegzudenkende Alltagserscheinungen. Bei diesem postmodernen Identitätskult und seiner Betonung des Kollektiven und Unveränderbaren handelt es sich um das Gegenstück zum Individualismus.

Dass das Konzept „Identität“ jedoch kein bloß politisches Phänomen ist, zeigt bereits das gemeine Alltagsbewusstsein. Sätze wie: „Bleib so, wie du bist!“ oder „Sei du selbst!“, gehören zum tradierten Schatz bewährter Kalendersprüche und gelten als besonders löbliche Komplimente, wohingegen die Aufforderung dazu, sich zu ändern, im besten Fall als gutgemeinte, aber sofort zu sanktionierende Grenzüberschreitung, im schlechtesten Fall als brutale und unverzeihliche Beleidigung der zarten und einzigartigen Persönlichkeit wahrgenommen wird.

Nicht von ungefähr gibt es heute kaum eine größere Beleidigung, als die Beschuldigung, „fake“ – also „unecht“ und zu wenig authentisch – zu sein. Die Adressierung des unnachahmlichen Selbst seines Gegenübers als erhaltens- und schützenswert ist so Voraussetzung dafür, keine bösen Absichten unterstellt zu bekommen. Nur so lässt es sich erklären, dass bockig-infantile Aussprüche wie „Ich bin so, wie ich bin“ als Zeichen beeindruckender Selbstakzeptanz und ehrenwerter Charakterfestigkeit, nicht aber als Manifestationen der eigenen Borniertheit gewertet werden.

Vor, nach und gegen die Aufklärung

Mit Identität war nicht immer primär das unverwechselbare Selbst einer Person umrissen. Seit der Antike bezeichnete der Terminus in seiner logisch-formalen Verwendung schlicht die Übereinstimmung eines Gegenstandes mit sich selbst, oder war Aufhänger für die Frage, was die fragliche Identität eines Dings überhaupt ausmacht: Was ist das Wesen eines Baumes, der sich über die Jahreszeiten verändert? Ist ein Schiff, dessen Bestandteile nach und nach erneuert wurden, am Ende trotzdem noch das selbe Schiff? Wie ist Identität trotz ständiger Veränderung des Gegenstands möglich?

Erst im Gefolge der Aufklärung trat die Frage nach personeller Identität in den Mittelpunkt. Bestimmte man die Eigenschaften des Menschen, die man heute unter „Identität“ subsumieren würde, vorher als Aspekte der Seele eines Individuums, verorteten Immanuel Kant oder Johann Gottlieb Fichte die Identität des Menschen in seinem Selbstbewusstsein. Damit antworteten sie indirekt auf vorherige Versuche, menschliche Identität völlig zu leugnen. So behauptete der Empirist David Hume, dass allein die menschliche Wahrnehmung dafür sorge, dass ein „Ich“ als vorhanden angenommen werde. In Wirklichkeit hätte ein Individuum nie eine ganze, feststehende Identität, sondern sei von einem Moment zum nächsten vollkommen verschieden.

Hume stand mit seinen Thesen allerdings überwiegend allein da, weil die Identität des Menschen mit sich selbst durch das Selbstbewusstsein weitgehend Konsens war. Fraglich blieb, was jene Kontinuität des Selbst herstelle: das Gedächtnis, der soziale Umgang, die Biologie?

Die Psychoanalyse verlieh dem Begriff schließlich durch die Feststellung, dass es mit dem Unbewussten eine psychologische Instanz gäbe, welche die vollkommene Einheit des Ich mit sich selbst verunmögliche, eine nicht zu vernachlässigende und später dennoch verdrängte Ambivalenz. Da Identität auf Identifikation beruhe, bekam erstere von Anfang an den Charakter des Erworbenen und keineswegs Festen. Sigmund Freuds Entdeckung war wohl auch deswegen die berüchtigte dritte große Kränkung der Menschheit, weil sie mit dem Glauben an ein von Natur aus autonom handelndes und unabhängig bestehendes Selbst aufräumte und an dessen Stelle die Kluft zwischen Bewusstem und Unbewusstem sowie Ich und Ich-Ideal setzte.

Abgeschmackte Selbstvergewisserung

Mit dem Übergang des Identitätsproblems von der Philosophie und der Psychoanalyse in positivistisch domestizierte Disziplinen wie der Soziologie oder der Pädagogik verkam Identität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zentraler sozialpsychologischer Begriff zum starren Charakter einer Person, auf den sich das Kind bis zum Erwachsenenalter hin entwickelt. Vollendete Identität sei so die Zusammenfassung aller zum Merkmal verhärteten und durch Selbsterkenntnis und Sozialisation erworbenen Potenziale, Stärken, Macken und Defizite. Alles, was an die Unbeständigkeit der Identität erinnerte, wurde so zugunsten massentauglicher Selbstbespiegelung vergessen. Der Sozialphilosoph Christopher Lasch sprach gar vom „Zeitalter des Narzissmus“, in dem konzentrierte Weltabgewandtheit und liebevolle Nabelschau zueinander kommen.

Mit dem Aufkommen der Postmoderne erreichte der Identitätskult eine neue Stufe: Zum einen blieb der Identitätsbegriff nicht mehr auf einer individuellen Ebene stehen, sondern zielte fortan, begünstigt durch das Aufkommen der Cultural Studies, auf die Absolutierung verschiedener Gruppenidentitäten, die in Form von kulturellen Identitäten schon romantische Denker wie Johann Gottfried Herder und Gegenaufklärer wie Joseph de Maistre rund zwei Jahrhunderte früher für vorrangig hielten. Im 21. Jahrhundert setzte sich diese Ansicht vollends durch, und die Identität kam nun, obwohl stets im Singular verbleibend, selten ohne die Rückführung auf die Gemeinschaft aus, der man sich als Einzelner in tüchtig-fügsamer Zu- und Unterordnung einfügt. „Man glaubt, vom abstrakten Menschen zum wirklichen Menschen überzugehen und hebt die Distanz zwischen der Person und ihrer Herkunftsgemeinschaft auf“, schrieb der französische Philosoph Alain Finkielkraut dazu in kritischer Absicht (1).

Zum anderen stand nicht mehr allein das Recht auf das jeweilige So-Sein im Vordergrund. Geboten war nun auch der allumfassende, als Respekt betitelte Zuspruch gegenüber der Verfasstheit anderer Menschen. Um aber überhaupt erst für Akzeptanz werben zu können, sei aufrecht präsentierter Stolz unentbehrlich. Wie sich jenes Bekenntnis zum Stolz auf sich selbst in den vergangenen Jahrzehnten wandelte, lässt sich exemplarisch an der Schwulen- und Lesbenbewegung nachvollziehen.

Waren die „Pride Parades“ ursprünglich Inbegriff der Möglichkeit, sich als für Bürgerrechte kämpfende Minderheit Gehör zu verschaffen und durch die Berufung auf Stolz zu zeigen, dass man die Diffamierung, „unnormal“ zu sein, nicht kommentarlos auf sich sitzenlässt, so ist das Zur-Schau-Stellen von Stolz auf die eigene Sexualität bei heutigen „Christopher Street Days“ nur noch abgeschmackte Selbstvergewisserung ohne Zweck und Ziel, die immerhin als unbeabsichtigter Beweis von Adornos Diktum, dass Identität die Urform der Ideologie sei (2), dienen könnte. Stolz transformierte vom individuellen Gefühl angesichts eines nicht determinierten Sachverhalts zum erstarrten Kollektivbekenntnis, in der die als Wunsch nach Akzeptanz getarnte Anweisung, die Identität meines Gegenübers in allen Facetten zu akzeptieren und zu bejahen, inhärent enthalten war.

Denkfaulheit für Nachwuchs-Akademiker

Der Identitätskult sorgt dafür, dass die ständige Bezogenheit auf die Identität zum unhintergehbaren Gebot zwischenmenschlicher Kommunikation wird: War die Tatsache, dass man das Argumentum ad hominem, also das Eintauschen eines Arguments gegen einen Angriff auf den Gegner, immer schon als Scheinargument verurteilte, stets Beweis dafür, dass zivilisierte Diskussionen das Absehen von der Persönlichkeit des Kontrahenten erfordern, wurde jenes dauerhafte Verweisen auf die Identität des Antagonisten zum positiven, für sensibilierte Menschen erforderlichen Argumentum ad hominem. Folgt man dieser Lesart, bestimmt Identität alles. Sie ist nicht nur unveränderbar und unaufhörlich lobenswert, sondern wirkt ebenfalls vorbestimmend auf Einstellungen, Urteilsvermögen und Verhalten eines Menschen. Auf dem Spiegel-Online-Jugendportal Bento hat man beispielsweise schon gelernt, dieser Maxime zu folgen, wenn man erklären will, „warum mehr Männer als Frauen die Klimakrise leugnen“.

Dafür, dass linke Theoretiker und ihre Entourage jahrzehntelang auf die Vermittlung und das Geworden-Sein von Mensch und Gesellschaft aufmerksam gemacht hatten, verdrängten viele Linke jene Erkenntnisse erstaunlich schnell, um die Erfüllung in vereinzelt-tautologischer Beschäftigung mit sich selbst zu sichten. Schon Jean-François Lyotard – gewissermaßen der Vordenker der Postmoderne – schrieb passend dazu: „Kämpfe sind Kämpfe von Minderheiten, die Minderheiten bleiben und als solche anerkannt werden wollen.“ (3)

Aussagen wie diese, die gar keinen Hehl mehr daraus machen, dass ihnen der Minderheiten- und damit Opferstatus lieb ist, anstatt die sozialautistische Selbstumkreisung einfach abzubrechen, geben das Programm dessen wieder, was das Thema „Identität“ in den letzten Jahren immer wieder auf den Plan rief: die Identitätspolitik.

Erst diese macht es ihren Fürsprechern zufolge möglich, dass die Ansichten von Minderheiten hör- und sichtbar werden, wodurch die weiße Mehrheitsgesellschaft im gewünschten Fall dazu verleitet werde, endlich ihre Privilegien zu reflektieren. Bereits im energischen Bestehen auf vielfältigen Perspektiven, Narrativen und Diskursen entpuppte sich die Identitätspolitik als postmoderne Weiterführung des Abschieds vom Universalismus. Wenn der sogenannte Sprechort von sich aus einer Person bestimmenden Eigenschaften schon von vornherein festlegt, wem zuzuhören und beizupflichten ist, lässt sich kaum noch verbergen, dass der mittels „Intersektionalität“ starkgemachte Partikularismus letzten Endes nur camouflierte Denkfaulheit für Nachwuchs-Akademiker ist. Darüber hinaus folgt es der Prämisse, dass alles, was nicht der bösen, weißen Mehrheitsgesellschaft zugehört, ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen diese ist.

Hinter die einfachste Logik zurückfallen

Kein Zufall, dass heute Identitätspolitik, Kulturrelativismus und Islam-Apologie in ihrem gemeinsamen Hass auf den Westen und die Werte der Aufklärung eine harmonische Liaison eingegangen sind. Doch auch untereinander scheint es, als versuchten sich die Verfechter der Identitätspolitik an scheinbarer Konsequenz und unnachgiebiger Rabulistik zu überbieten: Literatur wird nur noch unter Heranziehung des Urhebers beurteilt, die Universalisierung kultureller Eigenarten wird als verwerfliche „kulturelle Aneignung“ verschrien, und die Aufklärung und ihre Folgen werden als semi-kolonialer Eurozentrismus zu Grabe getragen.

Derweil verändert sich der Umgang mit Identität. Zwar beruft man sich weiterhin beflissentlich auf Stolz, aber wer man ist und was einen auszeichnet, ist jetzt nicht mehr nur vermittelt und geworden, sondern verkommt zum je nach Gefühl frei gestaltbaren Hohlraum. Das folgt gewissermaßen dem postmodernen Credo von der Dekonstruktion, die Identitäten als instabil und konstruiert ausweist. Jedoch führte diese Losung nicht dazu, sich des Identitäts-Konzepts schlicht zu entledigen. Im Mittelpunkt steht weiterhin die Verfestigung – mit dem Unterschied, dass jetzt noch jeder frei wählen kann, welcher Zuschreibung er sich unterwerfen will. Es ist so nur konsequent, wenn irgendwann nicht mehr nur das biologische, also nicht dekonstruierbare Geschlecht je nach Belieben gewechselt werden kann und eingefordert wird, dass „jedem erlaubt sein sollte, sich als schwarz zu identifizieren, unabhängig von der Hautfarbe.“ So verkündete es zumindest die University and College Union aus Großbritannien und zeigte, dass man im identitätspolitischen Modus selbst noch hinter einfachste Logik zurückfallen kann.

Dankbar angenommen werden derartige Äußerungen jedoch immerzu, weil die Nachfrage nach Selbstfindungs-Angeboten, die festen Boden unter den Füßen versprechen, nicht abreißt. Mitunter nimmt das kuriose Ausmaße an: Seit einigen Jahren erfreuen sich beispielsweise DNA-Tests zur „Enthüllung der Ethnizität und Abstammung“ größerer Beliebtheit. Im deutschsprachigen Raum bieten etwa die Unternehmen „MyHeritage“ oder „Ancestry“ Tests an, mit denen sich angeblich herausfinden lässt, welche ethnische und geographische Herkunft die eigenen Vorfahren hatten. Prozentual schlüsselt der Test dann auf, wie viel Anteile von einer der 42 identifizierten Ethnizitäten in der DNA stecken. Allein die immensen Klickzahlen auf Videos sogenannter Influencer, welche die Tests ausprobieren, sprechen dabei für sich.

Ein Exemplar unter vielen

Die Suche nach den eigenen Wurzeln ist nur eine von vielen Formen des Bedürfnisses nach Authentizität. Gefunden wird diese wahlweise in archaisch lebenden Gemeinschaften, in offen zur Schau gestelltem, zivilisationsmüdem Furor oder im Bemühen, mit jedem gesagten Wort besonders viel Tiefe und Weisheit vorzugaukeln, wo eigentlich nur gefühliger Kitsch und abgedroschene Erbauungssprüche lauern.

Auf der Suche nach wahrhaftiger Identität scheint sich das gleiche Bedürfnis niederzuschlagen, das den dem Nationalsozialismus nahestehenden Philosophen Martin Heidegger umtrieb, wenn er von der „Eigentlichkeit“ schwärmte, um gleichzeitig alles, was im Verruf stand, wurzellos und der Alltäglichkeit verfallen zu sein, zu verdammen.

Auch der identitätspolitische Opferstatus bietet dabei das ersehnte Maß an Authentizität. Als Teil eines kulturellen, geschlechtlichen oder sexuellen Clans ist man zwar kaum mehr als ein Exemplar unter vielen. Mit dem Opferstatus Schluss zu machen, gar aus ihm ausbrechen zu wollen und damit das zu verwirklichen, wofür ansonsten das unsägliche Modewort des „Empowerment“, also der Selbstermächtigung, herhalten muss, würde aber ebenso bedeuten, jenen authentischen, gemeinschaftsstiftenden Status aufzugeben, der einen qua Identität zum autoritativen Experten für Diskriminierung macht.

Verachtete Individuation

Aus der Zeit gefallen wirken heute kritische Invektiven, die keineswegs alt sind, dafür aber überhaupt kein Interesse an der dahinwesenden Monotonie der Minderheiten zeigen. So schrieb beispielsweise der Philosoph Robert Pfaller:

„Wenn wir um irgendetwas an uns kämpfen müssen, dann ist es nicht das Besondere unserer stupiden Identität, sondern das Allgemeine an uns, das uns in die Lage versetzt, mit dieser Identität kritisch zu verfahren und gegebenenfalls mit ihr zu brechen.“ (4)

Hinzuzufügen wäre, dass es nicht nur jenes über die Identität auf die Gattung Mensch hinausweisende Allgemeine ist, das wieder stark zu machen wäre. Die Erkenntnis, dass autonome Individualität, die, wenn auch im Verschwinden begriffen, nötiger denn je wäre, weit über vermeintlich feststehende Charaktereigenschaften hinausgeht, müsste wieder reaktiviert werden. Mündigkeit als Ziel jeder Individuation setzt voraus, zu sich selbst auf Distanz gehen zu können und somit unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu Sippe und Ethnie Reflexionen zu fassen.

In einer personalen Identität kann das Individuum hingegen nie vollständig und bruchlos aufgehen – ist jede Person doch darauf angewiesen, mindestens in der Öffentlichkeit des Öfteren Affekte vorzutäuschen, zu schauspielern, sich selbst zu verlieren, selbstlos zu sein – und eben darin gerade die Kategorie des Individuums zu erfüllen. Darauf verweist auch die Etymologie des oft als Synonym für den Begriff des Individuums benutzten Wortes „Person“: das lateinische Persona, was so viel heißt wie Maske oder Rolle.

Individualität lässt sich ohne Widersprüche und Vorläufigkeit gar nicht denken. Das ganzheitliche Kollektiv welcher Art auch immer lässt indes keinen Raum für die individuierte Ambivalenz, weil es anstelle von universaler Erkenntnis nur partikulare, in der Konsequenz beliebige Sichtweisen kennt. Weil es dem Einzelnen einen sicheren Platz zuweist, ist es für viele Menschen andererseits ein Halt versprechender Sehnsuchtsort, dessen enges, einschnürendes Korsett übersehen wird.

Das selbstbestimmte Loslösen von identitären Kategorien zieht dagegen zwangsläufig den Hass derer auf sich, die sich sicher sein wollen, dass jeder Abkömmling seiner Hautfarbe, seines Geschlechts und seiner Sexualität gefälligst seinen Platz im angestammten Kollektiv einnimmt.

Die Geringschätzung des Individuums und die Glorifizierung der Identität lässt sich dadurch erklären, dass letzteres eine scheinbar konkrete, in Wirklichkeit aber unbestimmte Zurücknahme in das Ich, die Herkunft und die Vergangenheit eines Menschen darstellt, während ein mündiges Individuum auf seine zukünftige, nicht endende Verwirklichung und sein dort zu findendes Glück ausgerichtet ist. Für einen Zeitgeist, der sich unter dem Stichwort Zukunft jedoch vor allem dunkle Bedrohungsszenarien vorzustellen weiß, denen man sich in vorlaufender Ausrufung des Notstands zu unterwerfen hat, scheint diese Zurücknahme individueller Bestrebungen zugunsten identitärer Selbstfindung nur folgerichtig zu sein.

Das Problem ist gleichwohl nicht nur die identitäre Regression, dafür vielmehr die Zwangsläufigkeit ihres Misslingens auf der endlosen Suche nach Identität. Das wusste schon Theodor W. Adorno, als er schrieb: „Die Unwahrheit aller erlangten Identität ist verkehrte Gestalt ihrer Wahrheit.“ (5)

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.

 

Quellen

1) Alain Finkielkraut: „Die Niederlage des Denkens“, rororo 1989, S. 81.
2) Vgl. Theodor W. Adorno: „Negative Dialektik“, Suhrkamp 2003, S. 151.
3) Jean-François Lyotard: „Das Patchwork der Minderheiten: Für eine herrenlose Politik“, Merve 1977, S. 8.
4) Robert Pfaller: „Erwachsenensprache: Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur“,  Fischer Taschenbuch, S. 166.
5) Adorno, s. Anm. 2, S. 153.

Foto: Bildarchiv Pieterman

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Dieter Kief / 18.01.2020

Äh - ja, genau, Nico Hoppe, genau so wie Sie es so schön zitieren - die Wahrheit aller Identität beweist sich an der Unwahrheit ihres Nicht-Gelingens. - Haha - gefoppt. Die Identität ist genauso wenig luciferisch tingiert, wie Adorno je von der Fee der leichten Muse geküsst worden wäre. - Kurzum, es ist nicht die Bohne verwerflich, zu wissen und zu behaupten wer man ist, also eine Identität zu haben. Und dieses Wissen schließt, wir Menschen sind soziale TIERE, unsere Biologie mit ein. So, das ist das eine. Das andere ist nun folgendes, und das kann man bei Adornos Nachfolger lernen. Es geht in aller Kürze so: Identität ist nie nur individuell und nie allein kollektiv; die Identität ist ein Kreuzungspunkt zweier Straßen; die eine ist die individuelle Lebensgeschichte, und die andere ist unsere Herkunft, zu der auch unsere Sprache gehört. - Es ist beides, verstehen Sie? Die geniale Formel dafür lautet so: Wir individuieren uns, indem wir uns vergesellschaften. Es ist immer beides: Identität ist immer eine Gemeinschaftsveranstaltung hie und ein Individuierungsgeschehen da. Alle, die sich in diesem dynamischen Prozess auf nur eine Seite schlagen irren. Also sowohl die Apostel der reinen Individualität oder der reinen Identität, als auch diejenigen der reinen Kollektivität oder Sozialität (z. B. die Blank-slate-Anhänger in den Sozialwissenschaften). Adorno hat versucht, aus diesem Beziehungsgeflecht auszubrechen, das führte aber nur zu unendlichen Paradoxien. Er verhedderte sich, so formulierte diese Schwäche Adornos dessen Frankfurter Nachfolger, im Unterholz der Subjektphilosophie. Bzw. so: Der Nachfolger sprach nicht vom Unterholz der Subjektphilosophie, sondern er sprach in einer enigmatischen Wendung, die ebenso knapp wie treffend und kühl ist, aber desto vernichtender sich (hehe) auswirkt, von den “Aporien der Subjektphilosophie” in denen Adorno jeweilen stuck - äh stockte, nee, ooch nich’ - also: Feststeckte, ja, bzw. stak, hehe, jetzt stimmts - stimmts?!

Jürgen Probst / 18.01.2020

Mein Gott, kann man das nicht einfacher ausdrücken?! Ja, o.k, Sie sind ein kluger Mann.  

B. Ollo / 18.01.2020

“Das selbstbestimmte Loslösen von identitären Kategorien zieht dagegen zwangsläufig den Hass derer auf sich, die sich sicher sein wollen, dass jeder Abkömmling seiner Hautfarbe, seines Geschlechts und seiner Sexualität gefälligst seinen Platz im angestammten Kollektiv einnimmt.” Ja, solche Menschen werden wirklich besonders stark von potenziell ehemaligen Mitstreitern gehasst. Da fallen mir einige Beispiele ein. Vom schwulen muslimischen Blogger bis zur ehemaligen Ikone der deutschen Frauenbewegung. Da zeigt sich die ganz banale Primitivität der Ideologen und ihrer Weltsicht. Aber das Wort Kollektiv trifft es eigentlich noch viel besser.

Fritz Gessler / 18.01.2020

der identitätsfimmel (in seiner ausgeprägtesten form als genderismus frei gewählter multipler geschlechtlicher identität/en) ist das post-moderne pendant zu rassenlehre der nazis. auch diese verwies einzig auf fantasierte ethnisch/rassische identitäten - arier - jude z.b. - gemeinsam unbrestreitbar die ablehnung jeglichen klassenbegriffs (als letzte stütze des individuums in einer atomisierten durchkapitalisierten gesellschaft) - insofern die aktuellen gender-‘linken’ wesensverwandt mit den neu-rechten identitären. als letztes parodistisches zerrbild einer religiös verfassten, antikapitalistischen utopie bleibt dazu noch just der archaische islam übrig: wahrlich, statt sozialismus (grosses heilsversprechen der moderne des 19/20. jahrhunderts) jetzt der rückfall in die ideologische barbarei im 21. ‘nur stämme werden überleben!’ als neo-primitivistisches motto. und die ewig sterile selbstbespiegelung des völlig vereinzelten autisten: ich bin was ich bin und was ich will.

Rainer Althoff / 18.01.2020

Hat das hier irgendjemand verstanden?? Ich bitte um Handzeichen :)

Karla Kuhn / 18.01.2020

“Bockig-infantile Aussprüche wie „Ich bin so, wie ich bin“ werden als Zeichen beeindruckender Selbstakzeptanz und ehrenwerter Charakterfestigkeit gewertet, nicht aber als Manifestationen der eigenen Borniertheit. ”  Von Goethe stammt das Zitat: “Doch bin ich, wie ich bin, und nimm mich nur hin! Willst du Beßre besitzen, so laß dir sie schnitzen!”  Ich glaube nicht, daß Goethe dieses Zitat als “Manifestation seiner eigenen Borniertheit”  geschrieben hat.

Rudi Knoth / 18.01.2020

Das Thema der “Identität” ist mir auch in der letzten Zeit aufgefallen. Sie ist also nicht eine Kennzeichnung einer einzelnen Person, um sie von anderen Personen zu unterscheiden, sondern um eine Person einer oder mehreren Gruppen zuzuordnen. Und die Idee der Privilegierung stellt dann auch noch eine Hierarchie anhand der Hautfarbe oder des Geschlechts her. Danach ist dann Al Bundy gegenüber Michelle Obama privilegiert, obwohl der Anschein etwas anderes aussagt. Und warum ist die sogenannte “kulturelle Aneignung” so schlimm, wenn doch dies dazu führte, daß das Essen der heutigen Deutschen besser ist als ihrer germanischen Vorfahren?  Irgendwie klingt das alles recht seltsam.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Nico Hoppe, Gastautor / 10.12.2021 / 16:00 / 19

Faszination Totalitarismus

Von rechts bis links mehren sich die Stimmen, die die Stärke und Rigorosität Chinas preisen und als Vorbild für den dekadenten, im Niedergang begriffenen Westen…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 04.11.2021 / 06:14 / 72

Eine feine Linke: Klassenkampf gegen die Arbeiter

Wie die an grünen, postmodernen und identitätspolitischen Ideen orientierte linke Hipster-Mittelschicht immer mehr zum Feind der kleinen Leute wird. Während es als Binsenweisheit gilt, dass…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 15.11.2020 / 10:00 / 29

Journalistische Teufelsaustreibungen: Sie werden Trump vermissen

Am 13. November, 10 Tage nach dem eigentlichen Wahltag, beendeten auch die letzten US-Staaten die Stimmenauszählung zur US-Präsidentschaftswahl. Damit wurde das bestätigt, was schon seit…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 07.10.2020 / 17:00 / 8

Wie Topf und Deckel: Antirassismus und islamische Propaganda

Dass Pascal Bruckners Buch „Der eingebildete Rassismus – Islamophobie und Schuld“ nun auch in deutscher Sprache erscheint, dürfte für die hiesige Journaille kein Grund zur…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 28.07.2020 / 06:00 / 50

Mehr Derbheit wagen!

Wo zu recht ein zunehmend illiberaler Umgang mit nonkonformen Ansichten beklagt wird, scheint zugleich kaum ein Wille vorhanden, sich mit den Ideologien, die dem Zensurwahn…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 30.03.2020 / 16:00 / 11

„Worüber man als Jude nicht schreiben sollte“

Der von Sigmund Freud geprägten Psychoanalyse haftet heute zumeist der Ruf an, veraltet, unwissenschaftlich und empirisch nicht haltbar zu sein. In „Worüber man als Jude…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 09.02.2020 / 11:00 / 13

Hollywood: Stoppt die Volkspädagogen!

Bei allen in den vergangenen Monaten geführten Diskussionen um Verbote von Dingen, über deren Kauf und Benutzung normalerweise der Einzelne selbst unabhängig zu bestimmen hätte,…/ mehr

Nico Hoppe, Gastautor / 30.11.2019 / 06:25 / 104

Alter als Schuld

Von Nico Hoppe. Wer im Internet das letzte Wort hat, geht meist als Gewinner aus dem Ring. Doch dabei geht es weniger um überzeugende Argumente…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com