Markus Somm, Gastautor / 03.02.2020 / 08:56 / Foto: Pixabay / 122 / Seite ausdrucken

Singapur an der Themse - Morgendämmerung einer neuen Epoche

Woran manche nie geglaubt hatten, ist nun wahr geworden: Grossbritannien tritt aus der Europäischen Union aus, und es handelt sich wohl um das folgenreichste historische Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer. Europa, insbesondere die EU, wird sich neu erfinden müssen. Von jener Euphorie, die 1989 unseren Kontinent, und zwar den Westen wie den Osten ergriffen hatte, ist wenig übrig geblieben. Die Vereinigten Staaten von Europa – denn dieses Ziel schien Anfang der 1990er-Jahre in greifbare Nähe gerückt – finden so schnell nicht statt. Noch überwiegt business as usual.

Die meisten Politiker, Journalisten, zum Teil auch Wirtschaftsführer sind sich der Tragweite dieses mutigen, britischen Volksentscheides nicht bewusst. Sie gehen davon aus, die EU existiere einfach so weiter, sie denken, Grossbritannien sei in erster Linie von seinem Beschluss betroffen, sie meinen, die Zeiten hätten sich kaum geändert – abgesehen davon, dass es an den Rändern des politischen Spektrums etwas rumpelt, quietscht und rumort. Barbaren kriechen herum und machen Krawall, Klimajugendliche schwänzen die Schule und reden frech, ansonsten nichts Neues im Westen. Sie irren sich. Sie übersehen die Morgendämmerung einer neuen Epoche.

Atomkraft mit intakter Armee

Grossbritannien ist die zweitgrösste Volkswirtschaft Europas, zugleich für die EU neuerdings der wichtigste Handelspartner ausserhalb des Staatenbundes, das Land ist zudem eine Atommacht und verfügt über eine der wenigen noch seriösen, will heissen einsatzbereiten Armeen. Ohne Grossbritannien, das wissen die Politiker in der EU, hat jeder europäische Versuch, sich sicherheitspolitisch von den USA zu emanzipieren, den Charme eines Witzes.

Ebenso gehört London zu den bedeutendsten Finanzplätzen der Welt, gemäss dem Global Financial Centres Index ist nur New York von grösserem Gewicht, weit abgeschlagen liegen Frankfurt, Paris oder Amsterdam, selbst Zürich, ebenso eine Stadt ausserhalb der EU, ist wichtiger als die erwähnten EU-Finanzplätze. Zürich in der kleinen Schweiz liegt auf Rang 6 – vor Frankfurt im grossen Deutschland. Kaum eine europäische Firma kommt an London vorbei, wenn sie sich auf die Suche nach einer Finanzierung macht. Schliesslich besitzt Grossbritannien sieben der vierzig besten Universitäten der Welt, die EU dagegen keine, die Schweiz übrigens zwei.

Wenn die EU-Kommission sich also einbildet, die Verhandlungen mit den Briten führte sie aus einer Position der Stärke, während die Insulaner froh sein müssen, dass man mit ihnen überhaupt ins Geschäft kommen will, dann täuscht sie sich. Ebenfalls sollte die Kommission Boris Johnson nicht unterschätzen. Der britische Premierminister, den man lange als Clown verlachte, obschon man es besser wusste, hat eben eine Mehrheit erzielt von einem Ausmass, wie das keiner der amtierenden Regierungschefs in der EU je noch erleben wird

Merkel, ein erschöpftes Gespenst

Die Deutsche Angela Merkel wandelt wie ein erschöpftes Gespenst durch die Gänge ihres Amtes, eine Kanzlerin, die ihren politischen Tod längst überlebt hat; Emmanuel Macron, der Franzose, wird wohl bald von Marine Le Pen abgelöst, der Rechtspopulistin, sofern er nicht schleunigst Reformen durchsetzt, wie sie das letzte Mal Napoleon Bonaparte gelungen sind. Es sieht schlecht aus.

Jahre des Selbstbetrugs. Was hat man die Briten verspottet, und ihre Demokratie, eine der ältesten der Welt, für tot erklärt, wie gross war die Vorfreude auf das Debakel, das ihrer Wirtschaft angeblich drohte: alles falsch. Immerhin, der eine oder andere Journalist ist aufgewacht. So schreibt die Frankfurter Allgemeine: "Die Katastrophenpropheten zum Brexit-Votum vor dreieinhalb Jahren, die einen Wirtschaftseinbruch vorhersagten, lagen falsch. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit sank, eine Million neue Jobs wurden geschaffen." Es dürfte noch besser werden

"Singapur an der Themse" soll, so hört man, der Albtraum der Eurokraten bedeuten, also die Vorstellung, dass Grossbritannien sich von all jenen Regulierungen der EU befreit, die sich als wenig sinnvoll erwiesen haben, um Wohlstand zu schaffen. Den Wettbewerb der Systeme, wir wissen das als Schweizer nur zu gut, scheuen die Kommissäre in Brüssel wie der Teufel das Weihwasser. Niemand soll merken, wie miserabel sie regieren. Eben erst hat Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU, dies betont: Man könne nie zulassen, dass London sich darauf kapriziere, andere, sprich: wirtschaftsfreundlichere, Regulierungen anzuwenden. Wie die katholische Kirche kann man die EU offenbar nie verlassen, auch wenn man sie verlassen hat.

Zuerst erschienen in der Schweizer SonntagsZeitung

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Leserpost

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Franck Royale / 03.02.2020

Nach der schwachen Angela Merkel werden in Deutschland mutmaßlich Klimasozialisten + Dschihadisten die politische Leere und Schwäche des bürgerlichen Lagers für sich nutzen - mit fatalen Folgen für ganz Europa. So könnte sich die Geschichte tatsächlich wiederholen, und sich am Ende mit Frankreich, den USA und GB wieder eine Allianz gegen die Deutschen bilden.

Gabriele Klein / 03.02.2020

“Wie die katholische Kirche kann man die EU offenbar nie verlassen, auch wenn man sie verlassen hat.” Toller Artikel, Danke!  Allerding, die “katholische Kirche” hätte ich durch die” ÖR ” ersetzt.

Ilona Grimm / 03.02.2020

@Gertraude Wenz zu Johannes Schuster: Liebe Frau Wenz, Sie haben ja Recht. Es ist allerdings ein Fehler, die Amtskirche mit der christlichen Lehre zu verwechseln. Bedford-Strohm betrachte ich als Feind des Christentums und Judentums. Ich kritisiere ihn und den gesamten Rat der EKD häufig, aber ich erhalte schon länger überhaupt keine Antwort mehr. Wohingegen Bedford-Strom Andersdenkende „zur Rede stellen“ will. In mir bewirken solche Worte die Assoziation mit „an die Wand stellen“. Obwohl ich eine gläubige Christin bin, habe ich seit mindestens einem Jahr keine Kirche mehr betreten, weil ich Religionsvermischung und Islamophilie nicht ertragen kann. Diese Leute aufzuklären, ist genauso unmöglich, wie einen Klimaapokalyptiker oder einen EEG-Propheten über seinen Irrweg aufzuklären. Leider ist es tatsächlich so, dass insbesondere bis zum Anschlag akademisierte Theologen den Kern des Christentums nicht kennen. Dafür kennen sie ihren ökologischen Fußabdruck und die LSBTTQ-/Gender-Lehre umso besser. Leider sind auch viele „fromme“ Christen mit dem Zeitgeist-Virus der Theologen-Kirche infiziert, weil sie nicht selber denken und lesen können.—//—Noch ein bisschen Bibel, Mk. 3,35: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester“. Obwohl die Leitung der Kirche(n) unerbittlich mit unserer angeblichen Verpflichtung zu christlicher Nächstenliebe um sich schlägt, wenn wir die unbegrenzte Zuwanderung Kulturfremder aus islamischen Ländern und Afrika nicht nur nicht begrüßen, sondern ablehnen, gibt es diese Verpflichtung nach der Bibel überhaupt nicht. Wir sind unseren „Brüdern und Schwestern“ im christlichen Glauben verpflichtet, sonst niemandem.—//—Und hier noch ein Hinweis darauf, wo das Gericht Gottes beginnt: 1. Petr. 4, 17: „Denn die Zeit ist da, dass das Gericht anfängt an dem Hause Gottes“ [was wohl nichts Anderes heißt als an der Amtskirche].

Jens Richter / 03.02.2020

Neun von zehn Achselesern bejubeln den Brexit (wie übrigens einst den “Arabischen Frühlimg”). In England selbst sind es nur rund 5.2 von zehn Briten. Seltsam. Aber gut, es war eine demokratische Entscheidung so wie es eine demokratische Entscheidung ist, wenn rund 85% der deutschen Wähler die Merkelregierung unterstützen. Das müssen wir doch genauso akzeptieren, oder nicht? Oder lese ich hier was von “blöden Wählern” oder “Schlafmicheln”? Nana.

Hans-Peter Dollhopf / 03.02.2020

Hallo Frau/Herr B. Eifler, ich mache gerade um Viertel vor neun meinen walk-through durch unsere gemeinsamen Leserbriefe. Ich lese gerade, Sie spekulieren: “Sollte Großbritanien auch noch aus dem CO2-Zertifikatehandel aussteigen, so würde dort auf der Insel der Platz knapp werden, wenn viele davon betroffene Unternehmen eine Verlagerung ins Auge fassen.” Wie geil ist das denn! Das UK macht ab dem 31. Dezember 2020 absolut genau das, was es selbst will und ermöglicht damit Fortschritt, Hoffnung und Zukunft für andere! Hail Robin of Sherwood Forest!

Jutta Schäfer / 03.02.2020

Die EU wird sich ändern oder - wahrscheinlicher - zugrunde gehen. Der EU in ihrer heutigen Form kann man den Niedergang nur wünschen. Wir verdanken den Engländern viel. Eine englische Erfolgsgeschichte wird die EU-Entwicklung in Richtung Sozialismus durchkreuzen. Es wird allerhöchste Zeit.

J. Gruber / 03.02.2020

In vielen Zeitungsberichten wird auf die Bedeutung des EU-Binnenmarktes abgestellt, der den Briten in Zukunft fehlen wird. Da sollte man sich die wichtigsten Außenhandelspartner der Bundesrepublik Deutschland ansehen: VR China, Niederlande (ein Spezialfall - die stehen da nicht wegen ihrem Käse und den Schnittblumen, sondern weil das Rohöl aus den arabischen Staaten in Rotterdam gelöscht wird), USA, dann erst an vierter Stelle Frankreich. Also kann man offensichtlich auch ohne Binnenmarkt Geschäfte machen.   Abschließend noch eine Bemerkung zum politischen Stil: Der EU-Beitritt wurde bekanntlich jahrelang durch den französischen Präsidenten de Gaulle abgeblockt. Dass jetzt die EU beim Austritt des Königreichs mit Barnier einen Franzosen als Verhandlungsführer einsetzt, zeugt nicht von Feingefühl.

Alexander Wildenhoff / 03.02.2020

Endlich Klartext, Herr Somm. Die intelligenten Blogs um Achse und Tichy und andere haben das ja schon eine Weile vertreten.  Und gottseidank hat Henryk Broder in Stuttgart klargemacht, was im Zusammenhang mit der hochverehrten und hochkompetenten Claudia Roth vom deutschen Justiz- und Eliten-System zu halten ist.  Ja Herr Somm, Singapur an der Themse wird es geben, die Gespenster an der Spree werden es nicht bemerken.  Ich hoffe das Neue Westfernsehen in Zürich, die NZZ, wird darüber schreiben.  Denn im Gespenster-KiKa der FAZ, Zeit, Spiegel, SZ et al wird man es sicher nicht tun.

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