Sind wir die „Verkrampften“?
Hat Annegret Kramp-Karrenbauer recht, wenn sie sagt, dass wir Deutschen die verkrampfteste Nation der Welt sind? Ihr selbst gewählter Kalauer auf den Vorderteil ihres Doppelnamens, weist sie als eine der weniger Verkrampften aus. Im Übrigen, glaube ich, dürfte es tatsächlich schwer sein, heute eine verkrampftere Nation als die deutsche zu finden.
Sigmar Gabriel hat in einem Gespräch mit der Augsburger Allgemeinen den Karnevals-Witz der CDU-Vorsitzenden über die Toiletten für das dritte Geschlecht verteidigt und ihre Kritiker als Humorpolizei bezeichnet. Den Hinweis, dass auch darüber gestritten wurde, ob Kinder im Fasching als Indianer gehen dürfen, quittierte er mit dem Satz: „Wir haben sie doch nicht mehr alle.“ Womit er ziemlich recht hat. Vielleicht haben nicht alle sie nicht mehr alle, aber ganz sicher haben sehr viele sie nicht mehr alle.
Dieser letzte Satz ist zugegebenermaßen eine leichte Verhunzung unserer Sprache. Aber sie ist harmlos im Vergleich zu den Sprachverhunzern, die uns zwingen wollen, „Wählende“ statt Wähler und ähnlichen Kokolores zu schreiben. Sorry: Es handelt sich bei diesen Leuten natürlich nicht um Sprachverhunzer, sondern um Sprachverhunzende.
Ganz sicher sind wir führende Sprachverkrampfte. Einen ähnlichen Krampf gibt es zwar auch in anderen Ländern. Aber die flexible englische Sprache zum Beispiel setzt den Verkrampfungsversuchen klare Grenzen. Wo ein teacher ein Mann oder eine Frau sein kann, ist es überflüssig, nach einer bestussten Alternative Ausschau zu halten. Wären die Angelsachsen Deutsche, könnten sie aus ihren teachers zwar Teachende machen. Aber zum Glück ist diese Sprache vor dem Zugriff unserer Sprachpolizei ziemlich sicher.
Allerdings ist die Sprache nur ein – wenn auch wichtiger – Ausdruck unseres Lebens und nicht das Leben selber. Wie steht es also mit unserem Anspruch, auch im wahren Leben die Spitzenposition der Verkrampftheit innezuhaben? Was ist mit der Konkurrenz. Zum Beispiel mit der Türkei Erdogans? Was mit Kims Nordkorea? Was mit den IS-Islamisten?
Weiter unverkrampft zubeißen
Nun, im Fall der Türkei geht es mehr um Einzelpersonen, nicht um das ganze Land. Zwar strahlt Recep Erdogans Einzelverkrampfung auf seine Umgebung aus, hat sie aber noch nicht flächendeckend erfasst. So kann ich in meinen Döner-Restaurants, die Erdogan ja zu seinem Hoheitsgebiet zählt, weiter unverkrampft zubeißen. Im Falle Nordkoreas muss man bedauerlicherweise von einer Zwangsverkrampfung sprechen, die man den Betroffenen nicht zum Vorwurf machen kann. Bei dem IS wiederum findet längst eine Entkrampfung durch Niederwerfung statt. Der eine oder andere Krampf wird überleben, aber im Großen und Ganzen dürfte die Verkrampfung nach Art des „Islamischen Staates“ bald der Vergangenheit angehören.
Womit wir uns von der Gegenwart in die Vergangenheit begeben haben. Und zur Vergangenheit gibt es einiges zu sagen. Da ist erstens die deutsche Vergangenheit, womit die scheußlichen zwölf Jahre gemeint sind. Sie haben uns Nachgeborenen allen Grund zur Verkrampfung gegeben. Die braune Phase unserer Geschichte ist sicher eine Wurzel der Verkrampfung, die so viele von uns befallen hat. Besonders befallen sind viele unserer rotgrünen Mitbürger und Mitbürgerinnen. (Oder sollte ich „Mitbürgende“ sagen?) Es ist ja auch eine hochanständige Verkrampfung. Aber sie nervt inzwischen trotzdem. Und hochanständig ist sie nur bis zu einem gewissen Grad. Wenn die Verkrampfung bei einigen so weit geht, dass sie sich gegen Israel und die Juden richtet, also die Opfer zu Tätern macht, dann ist das schon mehr als eine Verkrampfung. Es ist eine zur Verhöhnung gewordene Verwirrung.
Jedenfalls war Roman Herzog sehr optimistisch, als er bei seinem Amtsantritt für ein unverkrampftes Deutschland geworben hat. Eine, wie ich finde, interessante Frage ist, wie unverkrampft wir Deutschen ohne die zwölf Nazi-Jahre wären. Unsere Geschichte weist ja schon etwas weiter zurück und hat auch seither schon ein Stück zurückgelegt. Ich fürchte, die Weltmeister der Lockerheit und der Entspannung wären wir auch bei lupenreiner Historie nicht. Italiener werden wir wohl nie. Und Wiener können wir auch nicht alle werden, auch wenn die dem deutschen Sprachraum eine vergleichsweise entspannte Oase beifügen.
Und trotzdem gab es eine Zeit, in der wir Deutschen nicht die Krampfkönige waren, und die ist noch gar nicht so lange her. Das Südafrika der Apartheid trug lange diese Krone und schmückte sich sogar mit einer ganzen politischen Klasse, die zu recht in ihrem Afrikaholländisch als die „Verkrampten“ bezeichnet wurden. Interessanterweise hat dann einer der „Verkrampten“, Pieter Botha, aktiv an der Entkrampfung seines Landes und an der Aufhebung der Apartheid mitgewirkt. Inzwischen gibt es unter der schwarzen Regierung zwar auch allerlei Krampf, aber das ist eine andere Geschichte.
Leider lässt sich der Fall Südafrika mit seiner positiven Entwicklung nicht auf Deutschland übertragen. Wir können bestenfalls auf eine ganz allmähliche Entspannung hoffen, wenn überhaupt. Zur Zeit sieht es ja eher danach aus, dass die Anspannung noch zunimmt. Wenn es im nächsten Fasching keine Witze mehr über Drittklos und keine Indianerkostüme mehr gibt, ist der Kampf gegen den Krampf wohl endgültig verloren.