Von Peter Hemmelrath.
Siham O. hat gute Chancen, als die wohl abgebrühteste und unverfrorenste Angeklagte, die das Oberlandesgericht Düsseldorf bei einem Islamismus-Verfahren je erlebt hat, in die Annalen des Gerichts einzugehen.
„Wie stehen Sie zum IS?“, wollte der Vorsitzende Richter Lars Bachler wissen. „Dazu möchte ich keine Aussage machen“, antwortete die 23-Jährige. Aufgrund ihres bodenlangen schwarzen Gewandes, ihrer schwarzen Handschuhe sowie ihrer schwarzen Gesichtsverschleierung war sie rein äußerlich nicht von der Hauptangeklagten Siham O. zu unterscheiden. Die hatte ihre Vernehmung als Leumundszeugin gefordert, um dem Gericht zu beweisen, dass sie selbst der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) stets ablehnend gegenübergestanden hatte.
Das aber ging am Dienstagvormittag gewaltig schief, denn kurz darauf brachten gezielte Nachfragen eines Vertreters der Bundesanwaltschaft hervor, dass sich der erste Mann der Zeugin einer IS-nahen Gruppe in Syrien angeschlossen hat – und der zweite wegen des Verdachts auf IS-Unterstützung in Untersuchungshaft sitzt. Als sich dann auch noch herausstellte, dass die ehemalige Mitbewohnerin von Siham O. insgesamt viermal von der Polizei an der Ausreise „in Richtung Türkei“ gehindert worden war, dürften alle im Saal gewusst haben, wie die vermeintliche Leumundszeugin einzuschätzen ist.
Womit es nur noch unfreiwillig komisch anmutete, dass der Anwalt von Siham O. sie unverdrossen weiter befragte, was sie dazu sagen könne, wie seine Mandantin dem IS gegenüberstand. Die 23-Jährige aber wich diesen Fragen geschickt aus und antwortete stattdessen stereotyp, Siham O. habe sich immer „mit dem Leid der Muslime weltweit beschäftigt“.
„Pflicht als Muslima“
Die Deutsch-Marokkanerin Siham O. muss sich seit 17. April zusammen mit anderen Angeklagten vor dem 7. Strafsenat des OLG Düsseldorf wegen mutmaßlicher Unterstützung des IS verantworten. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen vor, den IS von 2020 bis 2022 mit Geldzahlungen unterstützt zu haben. Die Zahlungen sollen sich „aus zahlreichen von den Angeschuldigten gesammelten Einzelspenden“ zusammengesetzt und in der Summe mehr als 250.000 Euro betragen haben. Mit größeren Summen dieser Gelder wurden Frauen aus von Kurden in Syrien betriebenen Gefangenenlagern freigekauft. Kleinere Summen konnten von den Empfängerinnen dazu genutzt werden, ihren Lebensstil im Lager zu verbessern.
Anfänglich war Siham O. noch von vier Mitangeklagten umgeben. Nachdem sich mehrere von ihnen geständig zeigten, wurden jedoch in zwei Fällen die entsprechenden Verfahren abgetrennt. Dass das Verfahren gegen die ebenfalls geständige Anna Y. nicht abgetrennt werden konnte, liegt nur daran, dass ihr auch angeklagter Mann Harun Y. ebenfalls bis heute bestreitet, den IS vorsätzlich unterstützt zu haben. Damit wird seit Wochen nur noch gegen das Ehepaar Y. und Siham O. verhandelt.
Dabei beharrt Siham O. bis heute auf ihrer Darstellung, sie habe mit ihrer Beteiligung an der Spendensammelkampagne nur „Frauen und Kindern helfen wollen“. Dies sei ihre „Pflicht als Muslima“ gewesen. Eine Unterstützung des IS habe sie nie beabsichtigt. Sie habe nicht einmal gewusst, dass der IS in Syrien noch aktiv war. Aufgrund ihrer Vorgeschichte, die unter anderem daraus besteht, vor Jahren 2.000 Euro für einen gefälschten französischen Reisepass bezahlt zu haben, um damit in das IS-Gebiet auszureisen, wirkten ihre Darstellungen jedoch nicht sonderlich glaubwürdig.
In den ersten Wochen des Prozesses fiel Siham O. immer wieder durch wüste Beschimpfungen der Bundesanwaltschaft auf. „Dass ich hier auf der Anklagebank sitze, ist nur der Unwissenheit der Behörden zu verdanken, die es nicht für nötig erachten, sich mit den Strukturen des Islam zu befassen“, behauptete sie etwa. Die Einschätzung der Ermittler, sie sei „radikal und gewaltbejahend“, bezeichnete sie als „Verleumdung“.
„Ich sehe hier keine Zukunft. Der Islam wird in Deutschland nicht gerne gesehen“, sagte sie an anderer Stelle. Ein „sorgloses Leben als Muslima“ sei für sie aufgrund „der Willkür der Behörden“ nicht möglich. Mehrfach beklagte sie, sie werde „als Muslima diskriminiert“.
Ein Geflecht von IS-Sympathisanten
Das Gericht aber war bemüht, ihr auch weiterhin freundlich zu begegnen. Selbst als Siham O. die Behörden mit der Formulierung „Deutschland scheint bei der Verfolgung religiöser Gruppen seine Vergangenheit nicht ganz abgestreift zu haben“ indirekt mit dem NS-Regime verglichen hatte, blieb das für sie folgenlos. Nun verschleppt die junge Frau das Prozessende seit rund drei Monaten mit immer neuen Einlassungen sowie einer Flut weiterer Beweisanträge. Darunter sind auch bereits gestellte und abgelehnte Anträge.
Die meisten ihrer Anträge haben nur wenig oder überhaupt keinen Beweiswert. Allein am Dienstag wies das Gericht fünf solcher Anträge als unbegründet zurück. Ihrer Forderung, zwei junge Frauen aus ihrem Umfeld als Leumundszeuginnen zu laden, wurde jedoch entsprochen.
Aber auch die zweite Leumundszeugin am Dienstag erwies sich als Flop: Kaum hatte die 30-Jährige Platz genommen, ließ sie den Szene-Anwalt Martin Yahya Heising holen, der wegen eines anderen Terror-Prozesses im Nebensaal saß. Heising beantragte schnell ein vollständiges Aussageverweigerungsrecht, was er unter anderem damit begründete, dass gegen den zwischenzeitlich abgeschobenen Mann der Zeugin wegen des Verdachts der IS-Unterstützung ermittelt wurde.
Die Ermittlungen würden bei einer möglichen Rückkehr des Mannes nach Deutschland wieder aufgenommen, womit die Zeugin bei einer Aussage einen nahen Angehörigen belasten könnte, argumentierte der Anwalt. Der Strafsenat stimmte dem zu, womit die junge Frau gleich wieder gehen konnte. Zurück aber blieb der Eindruck, das soziale Umfeld von Siham O. habe hauptsächlich aus einem Geflecht von IS-Sympathisanten, wenn nicht gar aktiven Unterstützern, bestanden.
Nicht minder bizarr verlief der Mittwoch, als mit der IS-Rückkehrerin Verena M. (Foto oben) eine Zeugin befragt wurde, die von Lars Bachler im Juli 2022 zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Aufgrund einer „positiven Rückmeldung“ des Aussteigerprogramms Islamismus (API) wurde das letzte Drittel ihrer Haftstrafe später zur Bewährung ausgesetzt. Tatsächlich wirkte die 35-Jährige bei ihrer Befragung ungleich gemäßigter als in ihrem eigenen Prozess, in dem sie sich abseits ihrer Distanzierung vom IS als Organisation ideologisch gefestigt präsentiert hatte.
Wann findet dieser Prozess endlich ein Ende?
Siham O., die sich in der Untersuchungshaft offenbar gründlich über ihre strafprozessualen Rechte belesen hat, hatte auf der Vernehmung von Verena M. beharrt, weil sie die – milden – Maßstäbe, die der Senat bei M. in Bezug auf deren IS-Mitgliedschaft angewendet hatte, auch in Bezug auf Elif Ö. angelegt wissen wollte. Elif Ö, von deren IS-Aktivitäten deutsche Zeitungen bereits 2015 berichtet hatten, war bei den Spendenaktivitäten Siham O.s Ansprechpartnerin auf syrischer Seite – womit das Urteil gegen Siham O. auch von der Beurteilung von Elif Ö. abhängt.
Damit aber geriet der Antrag von Siham O. auf eine Vernehmung von Verena M. zum Affront gegen Lars Bachler, dem plötzlich eines seiner eigenen Urteile entgegengehalten wurde. Tatsächlich aber wurde in der rund 35-minütigen Vernehmung von Verena M. gar nicht über seine oder andere Kriterien einer IS-Mitgliedschaft gesprochen.
Stattdessen durfte Verena M. die Zustände in den Lagern al-Hol und Roj schildern, mit denen Siham O. die „Barmherzigkeit“ ihrer Spendensammlungen gerechtfertigt hatte. Daran war jedoch nichts neu, denn dazu hatte der der Senat in den letzten Jahren gleich mehrere neutrale Zeugen ausgiebig befragt, etwa den Islamwissenschaftler Guido Steinberg sowie einen Reporter der Bild-Zeitung, der in diesen Lagern recherchiert hatte.
Damit konzentrierte sich am Mittwochmittag wieder alles auf die Frage, wann dieser Prozess endlich ein Ende finden kann. Obgleich der Senatsvorsitzende bis heute freundlich an seiner Deeskalations-Strategie festhält, dürfte ihm dennoch bewusst sein, dass Steuerzahler teure Prozessverschleppungen nur wenig lustig finden. Seine an Siham O. und ihren Anwalt gerichtete Frage, ob diese bereits am 23. Dezember zu einem Plädoyer bereit sind, wurde jedoch nur mit einem Kopfschütteln beantwortet.
Reduzierung des Strafmaßes?
Daraufhin gab Bachler seiner Hoffnung Ausdruck, dass dann im neuen Jahr plädiert und am 29. Januar das Urteil verkündet werden könne. Wäre das tatsächlich der Fall, so käme es aus vielerlei Gründen einer Erlösung gleich. Unter anderem deswegen, weil das OLG derzeit eine Flut von Islamisten-Verfahren abarbeiten muss. Der Hochsicherheitstrakt des Gerichts verfügt aber nur über zwei Säle, von denen einer nun immer wieder durch diesen inzwischen überlangen Prozess blockiert wird.
Der von Siham O. angestrebte Freispruch aber dürfte nach der Vernehmung ihrer „Leumundszeuginnen“ nur noch unwahrscheinlicher geworden sein, als er es ohnehin schon war. Aber sie dürfte gute Chancen haben, als die wohl abgebrühteste und unverfrorenste Angeklagte, die das OLG bei einem Islamismus-Verfahren je erlebt hat, in die Annalen des Gerichts einzugehen.
Und vielleicht wartet zum Schluss ja doch noch ein bisschen Belohnung auf die 26-Jährige: Denn am Dienstag forderte einer der Richter die Staatsanwälte beiläufig auf, eine ganze Reihe der in der Anklage aufgeführten Geldtransfers noch mal zu überdenken. Wenn sich die Bundesanwaltschaft darauf einlässt, hätte das eine Vereinfachung des weiteren Vorgehens zur Folge, was das langersehnte Urteil auch wahrscheinlicher machen würde.
Es hätte aber auch eine Reduzierung des Strafmaßes zur Folge. Und damit hätte es sich am Ende für Siham O. doch noch gelohnt, das Gericht zuerst monatelang zu provozieren und danach am längst fälligen Urteil zu hindern.
Peter Hemmelrath arbeitet als Journalist und Gerichtsreporter.