Eugen Sorg, Gastautor / 11.03.2017 / 20:00 / Foto: Elvert Barnes / 4 / Seite ausdrucken

Sieg oder Tod. Die Macht der Tradition

Von Eugen Sorg.

Die Geschichte der Völker ist eine Abfolge von Perioden prekärer Stabilität und verheerender Gewalttätigkeiten. Politische Machtwechsel insbesondere beschworen seit jeher die Gefahr sozialen Chaos, die Dämonen des Bürgerkriegs herauf. Dem Sieger des Kampfs um die Herrschaft fällt alles zu: Ruhm, Reich, Schätze. Auf den Verlierer hingegen wartet der Tod oder Schlimmeres. Entsprechend gnadenlos wird der Kampf geführt.

Eine der grossen Bühnen für shakespearesche Königsdramen und andere Urszenen der Politik blieb bis in die heutigen Tage Afghanistan. In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zum Beispiel versuchte König Amanullah das Land zu modernisieren. Sein Vorbild war Atatürk. Er liess eine Verfassung schreiben, schuf eine weltliche Justiz, verbot die Sklaverei, optimierte das Steuersystem, verordnete den Beamten westliche Kleidung, gründete Mädchenschulen.

Die junge und westlich erzogene Königin Soraya warf mit einer schockierenden Geste vor versammelter Öffentlichkeit den Schleier von sich, jenes Textil, das die Entrechtung der Frau im überlieferten Islam verkörpert. Die konservativen Mullahs und die Clan­ältesten verabscheuten die säkularen Reformen. Diese beschnitten ihre traditionellen Vorrechte. Die Notabeln riefen die Stämme zum Aufstand gegen den «anti-muslimischen» König auf. Bald war ein grosser Teil des Landes in Aufruhr.

Gemüse statt Blumen

Von den Wirren profitierte Habibullah Kalakani, ein charismatischer Bandit, der sich mit Überfällen auf Reisekonvois, Entführungen, Erpressungen und tollkühner Skrupellosigkeit einen gewissen Ruf erworben hatte. Anfang 1929 marschierte der aus ärmster Familie stammende Analphabet, als «Bacha Sakao», «Sohn des Wasserträgers» in Erinnerung geblieben, mit seinen Männern in Kabul ein, liess sich zum König segnen und gab sich den Namen «Ghazi Khan», «Der Siegreiche». Er ernannte einen seiner Kumpane, einen ehemaligen Küchengehilfen der englischen Botschaft, zum Innenminister, führte die Scharia ein, schloss die Mädchenschulen und liess die Blumen vor dem Königspalast ausgraben, um Gemüse anzupflanzen.

Reformkönig Amanullah und Gattin Soraya entgingen knapp der Hinrichtung. Im weissen Rolls-Royce, begleitet von der Leibgarde und verfolgt von einem Strassenmob, gelang ihnen im letzten Moment die Flucht aus Kabul. Amanullah, der seinerseits an die Macht gelangt war, indem er seinen Amtsvorgänger, einen Onkel, ermorden liess, sollte erst 1960, in Zürich, fern der Heimat, eines natürlichen Todes sterben.

Habibullah alias Bacha Sakao wiederum konnte sich nur kurze Zeit des neuen Amtes erfreuen. Sein Coup hatte die übrigen Stämme in Schock versetzt. Der neue König war Tadschike. Seit Jahrhunderten jedoch stammten die afghanischen Herrscher immer aus denselben zwei Paschtunen-Stämmen. Mehr noch als die ungehobelten Manieren und die niedrige Herkunft störte seine ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit. Bacha Sakao verletzte die durch Tradition geheiligte Thronfolge.

Gesteinigt und gehängt

Und er gefährdete den Zugang zu den staatlichen Geldpfründen, der für den Machterhalt der eigenen erlauchten Familien unabdingbar war. Er war für die Übergangenen kein legitimer König. Innert kürzester Zeit schmiedeten die ansonsten chronisch zerstrittenen paschtunischen Stämme ein militärisches Bündnis, das Kabul neun Monate später zurückeroberte. Bacha Sakao, der in die Berge geflüchtet war, wurde mit falschen Versprechen in die Hauptstadt gelockt und zusammen mit seinen zehn engsten Weggefährten gesteinigt und öffentlich aufgehängt.

Eine der gewaltigsten Leistungen der europäisch-westlichen Zivilisation ist die Erfindung der politischen Gewaltentrennung. Rivalen müssen sich nicht mehr umbringen, um zum Erfolg zu kommen. Beide überleben und der Verlierer kann bei den nächsten Wahlen wieder antreten. Dabei sind die destruktiven Leidenschaften nicht verschwunden. Wie mächtig diese weiterhin sind, zeigt sich bei hochemotionalen Politwahlen wie neulich in den USA.

Das anhaltende mediale Kesseltreiben gegen den Sieger Trump, ein «illegitimer» Aussenseiter wie damals der Brigant von Kabul, der Hohn und der Hass, die hysterisch-­paranoiden Unterstellungen, all die symbolischen Todeswünsche der Wahlverlierer an die Adresse des demokratisch gewählten Präsidenten, sind ein Echo aus jenen Zeiten, als politische Gegner noch Todfeinde waren. Der Mensch ist gleich geblieben. Nur die hiesigen politischen Systeme sind ein wenig klüger geworden.

Zuerst erschienen in der Basler Zeitung

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Leserpost

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Geert Aufderhaydn / 12.03.2017

Schon seit langem mein Reden: der einzige Fortschritt westlicher Gesellschaften ist der, daß man den politischen Gegner nicht mehr umbringt, sondern “nur noch” wirtschaftlich ruiniert.

Heiko Stadler / 12.03.2017

Warum eine Regierung, die es mit den Gesetzen nicht so genau nimmt, so eine höllische Angst vor einem Machtwechsel hat, ist leicht zu erklären: Sie fürchtet sich vor der unabhängigen Justiz, auf die die entmachtete Regierung den Einfluss verliert.

JF Lupus / 12.03.2017

Zum einen finde ich den Vergleich Trumps mit einem Kriminellen und Straßenräuber niederster Herkunft völlig indiskutabel, zum anderen sehe ich nicht, wieso die hiesigen Systeme klüger geworden sind. Die Machthber agieren gegen alle Andersdenkenden ähnlich wie die Stammesfürsten, hier sei durchaus der Vergleich von Merkel, Maas & Co mit dem Umgang der Nazis mit politisch Andersdenkenden gestattet: diffamieren, diskriminieren, kriminalisieren. Das deutsche System ist marode und muss weg. Andere europäische Staaten sind da erheblich weiter. Aber ein Volk, dass einem Kanzlerkandidaten Schulz hintherrent und -angeblich - durch enorme Parteiewintritte in die SPD belohnt, das hat nur eines verdient: den Untergang.

Wieland Schmied / 12.03.2017

Zitat: “Nur die hiesigen politischen Systeme sind ein wenig klüger geworden.” Nicht klüger, sondern verschlagener -heute auch clever genannt -, und das hat nichts mit klüger zu tun. Im Gegenteil.

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