Die bemerkenswerten Parallelen, die Stefan Aust in seinem WELT-Artikel zwischen der DDR-Ausbürgerung von Wolf Biermann und dem Shitstorm gegen jene Schauspieler zieht, die sich mit „allesdichtmachen“ zu Wort meldeten, haben wie alle Vergleiche natürlich ihre Grenzen. Aust macht das sehr deutlich. In der DDR hätte es Artikel wie den seinen, der die zugrunde liegenden Mechanismen beleuchtet, erst gar nicht gegeben.
Die Mechanismen von Denunziation, Druck und demütigem Einknicken, die beim Vergleich mit der Biermann-Affäre hervortreten, sind aber nicht die einzigen, die in den wütenden Reaktionen auf „allesdichtmachen“ erkennbar sind. Auch für meine Ausführungen gilt deshalb: das ist kein Äpfel-und-Birnen-Vergleich der Ereignisse, sondern einer der Kräfte, die beide in dieselbe Richtung zieht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob diese soziologische „Gravitation“ ein typisch deutsches Phänomen ist, oder ob Menschen überall in ähnlichen Situationen in ähnlicher Weise reagieren. Ich überlasse es dem Leser, diesem Weg empirisch weiter zu folgen.
Bekanntlich ist das erste Opfer im Krieg immer die Wahrheit. Und machen wir uns nichts vor, gemessen an den verbreiteten Halbwahrheiten und dem Grad in dem Zorn und Verachtung jenen entgegenschlägt, die sich den ausgereichten Tagesbefehlen mit Spott, Trotz oder Gleichgültigkeit widersetzen, befinden wir uns in einer Art Krieg. Es ist ein erklärter Krieg, der Gegner ein Virus mit Mutantenarmee und die Frontlinie verläuft mitten durch Länder und Städte, Kontinente und Familien. Mauern hoch, die Reihen fest geschlossen.
Es sind gute Zeiten für Propaganda und Denunziation, denn jeder, der beim Kampf um den „Zero-Covid“ genannten Endsieg – welcher natürlich schon seit langer Zeit unmittelbar bevorsteht – Dinge infrage stellt oder Zweifel äußert, ist ein Wehrkraftzersetzer. Dabei stehen wir doch schon so kurz vor dem Sieg. Nur noch eine letzte, kurze Anstrengung. Nur noch fünf Kilometer, nur noch vier Wochen, nur noch drei Länder, nur noch zwei Armeen, nur noch diese eine, letzte Mutante.
Deutschland will, nein, muss recht behalten
Erwartungen und Forderungen halten sich in tödlicher Umarmung gefangen. Jede Zumutung ist Begründung für deren Vorgänger und Folge ihrer Nachfolger. Jede Kritik wird zur Ursache für ein mögliches Scheitern erklärt und führt in die nächste Eskalationsstufe. Nur noch eine letzte Anstrengung, nur noch… der Endsieg, das sozialistische Utopia oder der Sieg über das Virus stehen so kurz bevor. So kurz! Kein Zurück, jetzt, da wir schon so weit gekommen sind. Egal, ob die Rote Armee schon in Berlin-Adlershof steht oder wir von Ländern umzingelt sind, die in Sachen Corona zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen gelangen. Deutschland will, nein, muss recht behalten, weil sich die Verantwortlichen vor der Rechenschaft fürchten, die man von ihnen verlangen wird, sobald der letzte Traum vom „Endsieg“ geplatzt ist.
Der Widerstand der eigentlich geschlagenen deutschen Armeen war 1945 kurz vor dem Untergang wohl am stärksten. Trotz oder gerade wegen der aussichtslosen Lage? Auf die Frage, ob sie noch bis zuletzt an den „Endsieg“ geglaubt hätten, lautete die Antwort vieler Deutscher sehr häufig sinngemäß: „Ich natürlich nicht, aber die anderen. Ich, ich, ich war dagegen, aber sie, sie, sie wollten weiterkämpfen“. Sicher stimmt das für einige, aber sicher nicht für alle. Und natürlich wären offen geäußerte Zweifel am Ausgang des Krieges lebensgefährlich gewesen. Für viele war diese Haltung aber einfach der Weg des geringsten Widerstandes, indem man den eigenen Verstand zuhause ließ, weil man ja Arbeit hatte und Familie und weiterleben wollte.
Widerspruch kostet heute nicht das Leben. Ob er Karrieren beendet und auf diese Weise Leben zerstört, ist zwar ungewiss, aber die Stimmen werden lauter, die mit solchen Vernichtungsphantasien kokettieren. Eine eigene Meinung oder Einschätzung der Lage kann jedenfalls sehr hinderlich für Sendeplatz, Karriere oder Besetzung sein. Übrigens auch im Nachhinein, wenn Blindheit, Hörigkeit oder Kadavergehorsam der Vielen vor dem eigenen nicht ganz sauberen Gewissen gerechtfertigt werden muss. Jene, die es vor dem Krieg noch ins Exil schafften, die von dort aus vielleicht sogar das Wort ergriffen, wurden nach ihrer Rückkehr ab 1945 noch lange Zeit und von vielen als Verräter betrachtet. Schlimmer als selbst falsch zu liegen, ist es offenbar, wenn der Nachbar richtig lag.
Dem Auge von Mordor möglichst aus dem Weg zu gehen, in der Masse zu verschwinden und lieber zehn Mal den rechten Arm zu heben und sich einzureden, dass man innerlich zwar in der Opposition sei, dies aber aus Vorsicht oder Angst nicht zeigen könne, all diese Verhaltensweisen sehen wir in abgeschwächter Form gerade wieder. Ebenso den Neid auf jene, die den Mut haben, zu singen sowie die klammheimliche Freude, wenn die Kanarienvögel mit ihrem Lied nicht durchdringen und sich stattdessen für den Lärm entschuldigen, den sie gemacht haben.
Die Heroisierung derjenigen, die den „Kampf” ausfechten
Und noch ein Mechanismus fällt auf, dessen sich Politik und Medien heute wieder bedienen. Die Heroisierung derjenigen, die den “Kampf” ausfechten. Das sind heute das Personal der Kliniken und jene Erkrankten, die durch Bilder von Beatmungsgeräten, Fieberkampf und Tod unfreiwillig als Material für das mediale Grundrauschen der Angst herhalten und das Dressing für moralischen Volkserziehungssalat abgeben müssen. Überall hängen die Feuermelder mit der Aufschrift: „Im Fall von kritischer Satire und nachlassender Betroffenheit Scheibe einschlagen und einen Böhmermann-Tweet vorlesen“.
Die Kriegspropaganda des Hitlerregimes pflasterte die Städte mit „Er kämpft auch für dich“-Landser-Plakaten und „Der Feind hört mit“-Pauschalverdächtigungen zu. Heldenverklärung, Denunziationspflicht und ein klares Freund-Feind-Bild liegen im Krieg stets nahe beieinander. Heute fallen Front und Heimatfront gewissermaßen zusammen. Als Bezahlung soll den Frontsoldaten damals wie heute freundlicher Applaus und die Instrumentalisierung in einem perversen Opferkult genügen. Die Kriegspropaganda macht sich und ihre Politik durch bloße Aufzählung von vermeintlichen Heldentaten immun gegen jede Kritik. Die Hilferufe aus den Kliniken dienen lediglich der Erpressung von Wohlverhalten. Schließlich werden sie heute inhaltlich ebenso wenig beantwortet wie vor einem Jahr.
Die reflexhafte Reaktion einiger Medien auf die Videos von „allesdichtmachen“ vereinnahmt denn auch folgerichtig die Opfer der Pandemie und das medizinische Personal als Totschlagargumente. Also die „Gefallenen“ dieses Krieges und die „Frontsoldaten“. Die einen verstaatlicht und verherrlicht man in einem neuartigen „Volkstauertag“ am 18.4. und zielt auf die Gewissen von Regierungskritikern (die Hashtags „SieDürfenNichtUmsonstGefallenSein“, „JetztErstRecht“ und „WirKämpfenHärter“ liegen schon in der Luft).
Die anderen gelten zwar als Helden und müssen in jeder mit „Willst du etwa, dass…“ beginnenden Rede als Argumente herhalten. Ihre Bezahlung oder Arbeitsbedingungen haben sich aber trotz ihrer Systemrelevanz keinen Deut verbessert. Warum auch, denn wenn die Kliniken erst melden würden, dass sie dank ausgebauter Intensivbetten und attraktiverer Arbeitsbedingung und höheren Löhnen des Personals (und sei es nur in Pandemiezeiten) längst nicht mehr an die Kapazitätsgrenze fahren, wäre der Krieg, wären die Frontberichte, das täglich Opferzählen und die ganze Kriegsberichterstattung in Endlosschleife vorbei. Dass dieser Krieg jemals vorbei sein könnte, scheint folglich kaum jemand wirklich zu wollen.
Es sei denn, es ist kein schlichtes “Ende der Kämpfe”, sondern ein grandioser, finaler, allen Kritikern das Licht ausblasenden Endsieg über das Virus. Und diesem kurz bevorstehenden Sieg standen nun etwa 50 Schauspieler satirisch im Weg. Dabei braucht es doch nur noch diese eine kleine Anstrengung, nur noch ein verschärfter Lockdown, eine Mutante, eine geschlossene Klinik, eine Welle …wir können es noch schaffen. Wenn wir nur immer weiter Opfer bringen und nichts infrage stellen!
Doch halt! Höre ich da Artillerie aus Richtung Berlin-Adlershof? Aber das kann ja nicht sein! Wir gewinnen diesen Krieg… das habe ich erst heute wieder im Radio gehört.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.