Vor 25 oder 26 Jahren habe ich Claus Kleber in einer Washingtoner Bar kennengelernt. Es war eine zufällige Begegnung, aber keine unwahrscheinliche. Mein Kameramann und ich wussten natürlich, wo die öffentlich-rechtlichen Kollegen abends abhingen. Der Laden im schmucken Stadtteil Georgetown war nur ein paar Schritte von den ARD- und ZDF-Studios entfernt.
Das war für uns arme Schlucker vom noch jungen Privatfernsehen ein guter Grund, gerade dort nicht hinzugehen. Wir hielten uns in der knappen Freizeit lieber in Adams Morgan auf. Da war es zwar gefährlicher als im touristisch überlaufenen Georgetown, aber dafür sehr viel „authentischer“, wie man heute sagen würde. Und man traf dort beim Billard mit Sicherheit nicht auf Journalisten, schon gar nicht auf die ängstlichen deutschen, was den Erholungswert von Adams Morgan ungemein steigerte.
Warum wir an besagtem Abend in Georgetown waren, weiß ich nicht mehr. Genauso wenig kann ich noch sagen, worüber ich mit Claus Kleber wohl eine gute Stunde – vielleicht waren es auch anderthalb oder zwei – geplaudert habe. Woran ich mich aber ganz genau erinnere, ist der Eindruck, den er bei mir hinterließ. Er war die Ausnahme. Er war keiner von den selbstverliebten Wichtigtuern, die man im Journalismus – ganz besonders im TV-Journalismus – häufig antrifft. Im Gegenteil. Er war ausgesprochen sympathisch, offen, angenehm, ein richtig netter Kerl, dazu ein interessanter und unterhaltsamer Gesprächspartner. Glauben Sie mir, Sie hätten ihn auch gemocht.
Bis heute wundere ich mich darüber, dass Kleber nun polarisiert wie wenige andere Journalisten, dass ausgerechnet er für viele Menschen zur Hassfigur wurde. Er, der Interessierte, der Nachdenkliche, der Hinterfragende – das genaue Gegenteil eines Ideologen oder Sektierers. Eigentlich war Kleber einer, der alles mitbrachte, um ein wirklich guter Journalist zu sein und ein noch besserer zu werden. Eigentlich.
„Demokratisch unterentwickelt“
Mittlerweile hat er sich den Unmut redlich verdient mit tendenziösen, manipulativen Moderationen und Interviews. Vor ein paar Tagen war es wieder so weit. Anlass war der „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2018“, den die Bundesregierung vorgestellt hatte. Topmoderator Dr. Claus-Detlev Walter Kleber interviewte im „heute journal“ Bodo Ramelow, Linke-Ministerpräsident von Thüringen, zu der Frage, wie es um die Unterschiede zwischen Deutschland Ost und Deutschland West stehe. Zu verkosten in der ZDF-Mediathek (hier ab 8:52):
Kleber: Kommen wir zur Politik. Nach Chemnitz und Köthen sieht sich jetzt ein Klischee bestätigt, oder lebt wieder auf, dass irgendwie der Osten demokratisch ein bisschen noch unterentwickelt sei. Der Osten, der die demokratische Revolution geschafft hat – wie kann das sein?
Ramelow: Ich finde das ein ziemlich billiges Klischee, und es trifft mich auch, es verletzt mich auch. Ich habe eine Frage vor ein paar Tagen in Bad Hersfeld gestellt gekriegt, warum denn im Osten überall diese Demonstrationen sind. Und warum da denn die Nazis sind. Und da habe ich dem Journalisten gesagt, dass es 35, 40 Jahre her ist, dass ich als junger Gewerkschafter in Bad Hersfeld gegen die Nazis demonstriert hab‘ …
Kleber (unterbricht): … sprechen wir lieber über heute, Herr Ramelow. Heute sind die Stimmanteile bei der Bundestagswahl in Ihrem Bundesland doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt für die AfD. Ist das keine Sorge, ist da keine Sorge um die demokratische Kultur gerechtfertigt? Ist das normal?
Langsam, Herr Kleber!
Ramelow: Langsam, langsam, langsam, Herr Kleber! Das ist eben genau das Bild, das über den Osten gezeichnet wird …
Kleber: … na ja, das sind Zahlen …
Ramelow: … dass man es festmacht an der AfD. Nur, die AfD hat bei der letzten Sonntagsfrage, wenn ich sie richtig verfolgt hab’, 25 Prozent im Osten generell abgeschnitten, weil es ein Zeichen ist gegen die da oben und gegen die, die uns permanent ausgrenzen. Ich finde das zwar schade, und …
Kleber (unterbricht): Ist dafür nicht von Ihnen mal die Linke gegründet worden? Sind Sie gescheitert? Um diese Gefühle abzuholen …
Ramelow: Die Linke war … die Linke war so lange ein Erfolgsmodell, solange Pfarrer Hinze uns ausgegrenzt hat. Da waren wir kollektiv die Mitausgegrenzten. Und diese selbe Funktion, die weist man jetzt der AfD zu, und man macht es sich sehr einfach, indem man dann sagt, die Linke scheitert, und deswegen ist es der Aufstieg der AfD, dann hat man in Westdeutschland wieder überhaupt nichts verstanden über das, was hier gerade passiert. […] Und diese Ausgrenzungserfahrung, die heute noch stattfindet, ist es, die permanent verletzt.
Kleber: Herr Ministerpräsident, danke für das Gespräch.
Man muss kein Anhänger der AfD sein, nicht einmal Ostdeutscher, um bei den als Fragen verkleideten Unterstellungen Puls zu bekommen. Der bestbezahlte Nachrichtenmann des deutschen Fernsehens, nebenbei Honorarprofessor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, nennt Ostdeutsche „demokratisch unterentwickelt“. Nicht etwa, weil sie nicht wählen oder gerade bei Putschvorbereitungen erwischt wurden. Nein, sie gehen brav zur Wahl. Sie stimmen nur nicht so ab, wie es Herrn Kleber gefällt. Der Topjournalist beweist in aller Öffentlichkeit, dass er selbst genau das ist, was er den Ostdeutschen vorwirft: „demokratisch unterentwickelt“.
Normalität ist nicht mehr normal
Dass Claus Kleber den Unterschied zwischen undemokratisch und urdemokratisch nicht erkennt, ist das Eine. Im nächsten Moment, kaum fällt das Stichwort „Nazis“, schließt er geschmeidig an mit seiner „Sorge um die demokratische Kultur“ wegen der AfD-Stimmanteile im Osten. Und schon ist die Assoziationskette wieder geschlossen: Ossis wählen AfD, AfD ist Nazi, AfD-Wähler sind Nazis, Ossis sind Nazis.
Nun mag mancher einwenden: Na und? So geht es doch tagein, tagaus, seit Jahren schon, gerade im öffentlich-rechtlichen TV. Zweifel ist Angst, Unzufriedenheit ist Abgehängtheit, Skepsis ist Besorgtheit, Kritik ist Phobie, und alles ist sowieso rechts und damit auch gleich rechtsextrem, der Vollständigkeit halber. Was ist daran noch erwähnenswert? Das ist heute der Normalzustand, auch wenn er nicht normal ist.
Stimmt. Dass Intensivtäter Straftat um Straftat anhäufen können, ohne ins Gefängnis zu gehen, ist auch Normalzustand. Trotzdem dürfen wir uns nicht daran gewöhnen. Vielleicht nicht bei jedem, aber doch wenigstens bei jedem zehnten oder zwanzigsten Vergehen sollten wir daran erinnern, wie weit wir uns von der gewünschten und gewollten Normalität entfernt haben.
Beim Ramelow-Interview kommt noch etwas anderes hinzu. Es ist nicht irgendein Ostdeutscher oder AfD-Anhänger, der sich hier vehement gegen die öffentlich-rechtlichen Unterstellungen und Diffamierungen wehrt. Nein, es ist ausgerechnet ein führender Linker, geboren und sozialisiert im Westen, ein Spitzenmann von der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums, der sich gezwungen sieht, ostdeutsche AfD-Wähler vor „billigen Klischees“ in Schutz zu nehmen.
Aus fahrlässig wurde vorsätzlich
Da hätte selbst dem Gewohnheitstäter Kleber auffallen können, dass bei ihm etwas nicht mehr stimmt. Schließlich wurde er bereits vor geraumer Zeit öffentlich abgestraft und müsste sensibilisiert sein. Ende 2015 hatte er im „heute journal“ mit Blick auf das abgelaufene Jahr erklärt: „Hilfsbereitschaft, Empathie, Willkommen stellen in den Schatten, was Fremdenfeinde, Nationalisten und Zweifler auf die Straße bringt.“
„SPON“-Kolumnist Jan Fleischhauer spöttelte daraufhin: „Wer außerhalb der ZDF-Nachrichtenredaktion hätte gedacht, dass ,Zweifler‘ die Steigerungsform von ,Nationalist‘ und ,Fremdenfeind‘ sein könnte? […] Ich hielt ,Zweifler‘ bislang für eine neutrale Bezeichnung, die einen als Journalisten eher schmückt.“ Kleber knickte ein und bekannte: „Das war fahrlässig moderiert.“ Und weiter: „Ein Fehler und ein Eigentor. Zweifler bin ich selbst. Schon beruflich.“
Auf Fahrlässigkeit kann sich der scheinbar einsichtige Claus heute, fast drei Jahre später, nicht mehr berufen. Dafür hat er zu konsequent und unbeirrt nach seinem „Fehler“ weitergemacht. Juristen – er ist selbst einer – schließen hier auf Vorsatz. Zweifel, „schon beruflich“, können wir ihm ebenfalls nicht mehr abnehmen. Für Zweifel braucht es Abstand zum Objekt.
Dass ihm diese Distanz abhanden gekommen ist, zeigte Kleber bereits im August 2015, als er vor Rührung mit Tränen kämpfte, weil ein deutscher Busfahrer einige Migranten beim Einsteigen freundlich begrüßte. Nichts hatte Kleber jemals zuvor öffentlich derart aus der Fassung gebracht, nicht tausende Tote bei Erdbeben, Überschwemmungen oder Hungersnöten, keine sonstige menschliche Katastrophe. Aber die Willkommensduseligkeit übermannte ihn.
Wann hat Kleber den Beruf gewechselt?
Wenigstens hält der ZDF-Mann immer noch theoretisch die Fahne eines ehrenwerten Journalismus hoch, anders als zum Beispiel sein ARD-Kollege Georg Restle. Der „Monitor“-Chef verabschiedete sich kürzlich ganz offiziell von seiner eigentlichen Jobbeschreibung. Man müsse als Journalist „nicht jeden Mist abbilden“, erklärte er, sondern solle lieber „über einen werteorientierten Journalismus nachdenken“. Übersetzt: Restle will weniger von „was ist“ und mehr von „was sein soll“.
Ob Propagandist oder Prediger, Heizer oder Heulsuse, im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus. Journalisten sind sie alle nicht mehr, jedenfalls nicht so, wie sie sein sollten und müssten: Diener der Wahrheit.
Wann aber hat Claus Kleber seinen Beruf gewechselt? Wann wurde er vom Beobachter zum Botschafter? Zu einem, bei dem nicht mehr der Wille zum Erforschen im Vordergrund steht, sondern der Drang zum (Mit-)Machen? Ich kenne die Antwort nicht. Dafür habe ich seinen Weg nach unserem Kennenlernen vor einem Vierteljahrhundert nicht aufmerksam genug verfolgt.
Vielleicht ist es einfach der Job. Stellen Sie sich vor, Sie würden über Jahre fast jeden Abend zu Millionen Menschen sprechen und dafür auch noch Millionen Euro erhalten. Sind Sie ganz sicher, dass Sie Demut bewahren, nicht von der eigenen Bedeutung überwältigt werden? Der Versuchung, sich für etwas Besseres zu halten, können in solcher Position wohl nur die Besten widerstehen. Claus Kleber, der nette Kerl, gehört nicht dazu.