Gerald Wolf, Gastautor / 21.08.2022 / 12:00 / Foto: Pixabay / 50 / Seite ausdrucken

Sich schämen. Oder lieber nicht

Die Fähigkeit zur Scham zeichnet den Menschen aus. Für steile politische Karrieren ist sie ein Hindernis. In der reinen Biologie ist sie nicht greifbar. Ein essayistischer Streifzug, der bis in die eigene Kindheit zurückgeht.

Der Mensch: das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, was Grund dazu hat. Mark Twain

Sich schämen – in der Kindheit klappte das auf Anhieb. Wer von uns beim Schwindeln oder beim Mopsen erwischt wurde, lief rot an und stotterte beim Versuch, sich herauszureden. Irgendwann war es dann so ziemlich vorbei mit der Schamröte, und die Ausreden kamen glatter daher. Aus manchen sind wahre Meister geworden. Ohne verlegen zu werden, behaupten sie Dinge, von denen sie genau wissen, dass sie nicht stimmen. Oder nur halb. Der eine oder andere schafft das sogar bei kapitalen Lügen. Trockenen Auges und ohne schamhaftes Grinsen.

Mitunter gehört die Schamlosigkeit zur beruflichen Praxis. Nicht nur für Politiker oder Journalisten gilt das und für Geschäfts- und Werbefachleute, sondern auch für Homöopathen und Juristen, für so manchen Lehrer und Pfarrer. Nicht plumpe Lügen sind es, derer sie sich bedienen. Viel raffinierter ist es, die Wahrheit zu verdrehen oder Belangvolles einfach beiseitezulassen. Zum Beispiel die Argumente der Opposition. Oder wenn ein Gebrauchtwagenhändler „vergisst“, auf den kleinen Motorschaden hinzuweisen, oder wenn Hersteller von Medikamenten oder Impfstoffen Nebenwirkungen verschweigen. Schamröte bedeutete in vielen solchen Fällen Berufsunfähigkeit. Wohl kaum eine Versicherung würde dafür aufkommen wollen.

Nicht nur an das Ver-schweigen ist als Schamgrund zu denken, auch an das Schweigen an sich. Zum Beispiel an das Schweigen in der Art von Duckmäusern. Dem Chef gegenüber zum Beispiel oder bei kritikwürdigen politischen Verhältnissen. Ein ganzes Volk kann das betreffen. Und noch nie ist von einem Volk die Rede gewesen, dessen Angehörige sich durch chronische Schamesröte auszeichneten.

Das Schamgefühl der uns regierenden Politiker

Man möchte annehmen, dass die moralischen Anforderungen für jene besonders hoch sind, die öffentliche Ämter begleiten. Denn jedermann (und jedefrau) kann ihnen bei deren Ausgestaltung zugucken. Was nicht alles erfährt der Bürger von heute über die Personen des öffentlichen Lebens und deren Praktiken. Je höher die Position, umso krasser das Missverhältnis von Sachkenntnis und Redegewandtheit. Alles ohne auch nur einen Anflug von Scham. 

„Die Politik, das Paradies zungenfertiger Schwätzer“, wusste schon George Bernhard Shaw.

Wann jemals hat einer von denen da oben öffentlich bekannt, sich eines Fehlers wegen zu schämen, oder für eine Unachtsamkeit, eine unpassende Bemerkung, ein falsches Urteil? Nicht um Moral geht es auf diesen Feldern, sondern um Macht. Und diese zu bewahren, ist oberstes Gebot. Anzeichen von Scham schaden da nur. Und warum sich schämen, fragen sich die Politiker*innen, wenn sie sich mit dicken, von Verbrennungsmotoren angetriebenen Limousinen an ihrem Volk (von ihnen „Zivilgesellschaft“ genannt) vorbeifahren lassen, während sie ihm zurufen, besser auf das Auto zu verzichten und aufs Fahrrad umzusteigen. Oder auf öffentliche Verkehrsmittel.

Das Schamgefühl der uns regierenden Politiker springt selbst dann nicht an, wenn sie ihre Kinder auf Privatschulen schicken, weil sie diesen das Niveau an den öffentlichen Schulen nicht zumuten wollen. Oder wenn es um ihre grandiosen Gehälter geht, um vertuschte Geldeinnahmen oder geschönte Lebensläufe, um erfundene Studienabschlüsse oder fehlende Berufserfahrungen. Geschweige denn um Mängel an höherer Bildung. Wissenschaftler werden von ihnen und ihren Medien in schamloser Weise diskreditiert, wenn sie mit ihren Ansichten dem von der Politik gelenkten Mainstream widersprechen. Dazu passt, dass öffentliche und wirklich freie Diskurse genau eben durch jene verhindert werden, die an der Spitze stehen und einer solchen Bildung dringend bedürfen. 

Wie funktioniert das mit dem Verachten?

Mark Twain hat mit seinem eingangs zitierten Aphorismus natürlich recht. Wie auch sollte die Schamreaktion bei einem Tier möglich sein? Offenkundig setzt sie Geist voraus, etwa in der Art, dass die Spielregeln des sozialen Miteinanders als solche erkannt werden und mit ihnen eben auch ein Verstoß, den es zu verachten gilt. Und bei uns? Wie funktioniert das mit dem Verachten bei uns, zumal dann, wenn es gegen uns selbst gerichtet ist und das Gewissen anspringen lässt? Zumindest anspringen lassen sollte. Und wie „geht“ das mit dem Schamgefühl, falls es in der Tiefe unserer Seele noch aufkommt, oben aber nicht mehr ankommt? Die Antwort ist so klar wie einfach: Niemand weiß es!

Gefühle gehören zum Bereich des Subjektiven, und der ist absolut privat, nämlich nur von innen her erkennbar. Zwar können wir uns mit jemand anderem über unsere Gefühle unterhalten, aber eben nur, weil wir dabei unterstellen, dass dessen Empfindungen den unseren entsprechen. Gleichviel, ob es sich um das Sinnesgefühl für die Farbe Blau handelt, das für den Duft von Zimt oder für den Schmerz im großen Zeh. Dasselbe gilt für Emotionen − für Freude, für Wut oder Stolz. Und – was sonst? − für das Schamgefühl, begleitet von einem peinlichen Berührtsein und dem Wunsch, im Boden zu versinken.

Objektiv zu belegen ist, dass all das, was wir als Seele bezeichnen und mit ihr wie auch immer zusammenhängt, von unserem Gehirn produziert wird, von dessen Nervenzellen und den sie begleitenden Gliazellen. Weder das Herz produziert Gefühle (es kann von Mensch zu Mensch verpflanzt oder durch ein künstliches Herz ersetzt werden, die Gefühle bleiben davon unberührt), noch der Bauch, noch die Kniescheibe.

Bloß eben, wie machen die Zellen des Gehirns die Gefühle und überhaupt das, was wir die „Seele“ nennen, den Geist, das Bewusstsein, das bewusste Sein? Leider wissen wir noch nicht einmal, wie – im konkreten (!) Fall − zwei oder drei Nervenzellen unseres Gehirns über ihre jeweils hunderte oder tausende Kontaktstellen, die Synapsen, zusammenarbeiten, geschweige denn, wie das bei zehntausenden solcher Zellen „geht“ oder gar bei all den 100 Milliarden (!) unseres Gehirns. Die Erfahrungsansätze beschränken sich daher heute und mit Sicherheit auch in aller Zukunft auf modellhafte Strukturen und Funktionsmechanismen. Seien es Moleküle, Zellelemente oder Verbände aus mehreren Zellen oder gar das Gehirn in seiner Gänze. So sehr die Bilder beeindrucken mögen, die wir mit den heutigen Techniken der Hirnforschung erhalten, allzumal mit der funktionellen Kernspintomografie, sie sind entweder viel zu grob oder viel zu fein, um ein reelles Bild vom Zusammenwirken all der Strukturen des Gehirns und deren Funktionsmechanismen zu ergeben. Die Komplexität des Gehirns ist „überastronomisch“ groß und schon damit menschlichem Erkenntnisvermögen für immer entzogen.

Wie eigentlich fing das damals an mit dem Schämen?

Wir werden nicht mit der Schamfähigkeit geboren, dennoch ist sie – im Sinne der Genetik – uns angeboren, d.h. in unserem Erbgut verankert. Aus solcher Anlage heraus entwickelt sich das Schamgefühl im reifenden Gehirn als eine der letzten der seelischen Empfindungsqualitäten. Schon im ersten Lebensjahr zeigen sich die für die Freude und das Lachen, die für die Angst, Zuneigung und Neugier. Gefühle der sozialen Art aber, solche wie Neid oder Stolz oder eben auch das Schamgefühl, sind komplexerer Art und kommen erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres auf. Dann nämlich, wenn das Kind beginnt, sich im Kreis der Anderen als eigenständige Person zu begreifen.

Wie war denn das bei unsereinem, mögen wir uns fragen, damals, als wir zum ersten Male so etwas wie Scham empfanden? Der Autor hat in sich herumgeforscht, und zum Vorschein kam: Die (ältere) Schwester war zum Geburtstag mit ein paar Süßigkeiten beschenkt worden, und er – also ich! – hatte davon etwas stibitzt. Auf die Frage hin, ob ich es gewesen sei, mag ich mit einem entschiedenen „Neijen!“ protestiert haben. Und: Ich schämte mich. Welch eigenartiges Gefühl! Dazu vermutlich ein flammendes Rot im Gesicht, vielleicht auch glasige Augen und bei näherem Befragen das Stottern. Oder Wut – wieso und warum denn gerade ich, ich, der ich doch …! 

Meine Tochter, nach ihrer frühesten Erinnerung befragt, meinte, sich für einen Jungen im Kindergarten geschämt zu haben. Der hatte der Puppe ihrer Freundin den Arm ausgerissen, einfach so, nur um sie zu ärgern. Und die Freundin weinte fürchterlich.

Wissen und Ge-Wissen

Sich zu schämen, setzt das Wissen um das Unrecht voraus, das Ge-Wissen, und das wiederum wird von dem Gefühl der Schuld begleitet. Womöglich auch von dem der Reue. Sehr unangenehm ist das. Verdammt peinlich, wie man nun dasteht. Und dann der Entschluss: Nie wieder! Misslichkeiten solcherart wirken lange fort, mitunter lebenslang, und mögen so oder so für das Zusammenleben in einer Gesellschaft bestimmend sein. In einer, in der jeder jeden kennt. Ohne Polizei, ohne Paragrafen und ohne Richter. Wir Menschen sind Kleingruppen-„gemacht“. Die Evolution sorgt eben nicht nur für die Entwicklung körperlicher Merkmale, sondern auch für psychische und soziale. Ihr oberstes Prinzip ist Funktionstüchtigkeit. Die Schamfähigkeit gehört dazu. Was aber den Einzelnen veranlasst, sich im Fall eines Falles zu schämen, hängt von seiner individuellen Veranlagung ab, von der Erziehung im sozialen Umfeld und von der aktuellen Befindlichkeit.

In der Anonymität der Großgesellschaften reichen die evolutiv herausgebildeten sozialen Sicherungsmechanismen nicht aus und müssen durch von „oben“ verordnete Rechtsnormen ersetzt werden. Oft so weitgehend, dass es die Entwicklung moralischer Wertvorstellungen nach persönlichen Maßstäben infragestellt. So auch deren erzieherische Kompetenz. „Persönlichkeitsrechte“ und Kaltschnäuzigkeit ersetzen zunehmend die Herzensbildung und mit ihr die Schamfähigkeit. Kein Pranger mehr „dank“ Anonymisierung. Was haben wir Älteren uns seinerzeit geschämt, wenn wir nach vorn zum Lehrerpult mussten, um uns eine Fünf in der Mathearbeit abzuholen. Dazu noch der bissige Tadel. Welch Ansporn fürs nächste Mal! Und heute? Zunehmend sind Ansporn und Leistung zur Sache von Anderen geworden. Von solchen sonstwo auf der Welt. Dafür müssen wir uns doch nicht etwa schämen! Oder?

Gerald Wolf ist emeritierter Magdeburger Universitätsprofessor, Hirnforscher und Institutsdirektor. In seinen Vorträgen und Publikationen widmet sich Wolf der Natur des Menschen, vorzugsweise dem Gehirn und dem, was es aus uns macht.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Wilfried Cremer / 21.08.2022

@ Etliche: Der Hund schämt sich nicht, wenn er etwas stibitzt hat, sondern er ist ängstlich, weil (eventuell) Ärger droht. Ein Gedächtnis hat er nämlich. Immer diese Vermenschlichungen.

Judith Panther / 21.08.2022

“... Mitunter gehört die Schamlosigkeit zur beruflichen Praxis. Nicht nur für Politiker ... sondern auch für Homöopathen ...” Noch so eine dämliche Bemerkung und ich gehe wieder zurück zu TE, den ich jüngst wegen seiner Zensurfreudigkeit gecancelt hatte.

Karl Braun / 21.08.2022

@Sabine Heinrich.. das mag ja sein, aber auch das ironische Anwenden dieser sch… recklichen Genderei nervt mich hier auf der Achse zunehmend, nicht nur in den Beiträgen, auch in vielen Kommentaren. Damit wertet man diesen Hirnf…i…k nur auf! Der richtige Umgang damit wäre, es rigoros NICHT nachzumachen. Es ist der Affe, der nachäfft!

Thomas Schmidt / 21.08.2022

Jede Wette dass das Schamgefühl schon vor dem menschlichen Bewusstsein existierte. Und früher hatten auch die Menschen viele Schamgefühle nicht (in Japan, in China, uns selbst im deutschen Kaiserreich wurden dringende Geschäfte völlig ungeniert auf der Straße erledigt). Die biologische Anlage ist da, sie muss aber geweckt werden, zB durch das Christentum. Geht ganz sicher auch bei Tieren, man kann bestimmt auch einen Hund so erziehen, dass er beginnt sich für seine Körperfunktionen zu schämen.

S Dietz / 21.08.2022

Nachtrag: zumindest unsere Katzen haben auch eine Art Verlegenheit gezeigt. Wenn der Sprung auf das Regal oder der Fang einer Motte schiefgingen, beispielhaft, ist es typisch dass diese sich plötzlich anfangen zu putzen, wenn das Personal (ich oder meine Frau) anwesend sind, was durchaus als Zeichen der Verlegenheit gesehen werden kann.

S Dietz / 21.08.2022

@Wolf Hagen: bzgl. der Tiere stimme ich zu. Vielleicht Scham durch schlechtes Gewissen ersetzen. Definitiv haben Hunde und Katzen so ein Verhalten, die wissen ganz genau wann und was sie falsch gemacht haben, und sitzen dann untypisch kleinlaut in einer Ecke oder sind plötzlich ganz besonders anhänglich. Unser Kater wenn etwas zu Bruch gegangen ist oder er sich was aus dem Futterschrank stibitzt hat, der Hund meiner Mutter genauso, die würden sich am liebsten unsichtbar machen oder versuchen sich einzuschmeicheln.

D.Graue / 21.08.2022

Scham ist die Erkenntnis von Fehlverhalten. Dazu müsste man zum einen wissen, was sich gehört, und zum anderen die Fähigkeit überhaupt zu verstehen, dass das eigene Handeln oder Denken möglicherweise falsch ist. Das ganze benötigt dann auch noch den Willen, darüber überhaupt zu reflektieren und die Komfortzone zu verlassen. Bei dieser Kaspertruppe, die zur Zeit in sämtlichen öffentlichen Ämtern klebt, ist weder das eine noch das andere nur ansatzweise zu erkennen. Da braucht man nichts zu erwarten.

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