Nachdem sie erst meuchelten, fordern sie nun, dass wir der kriegerischen Antwort auf den Schrecken, den sie über uns brachten, ein Ende setzen müssen, durch das Einhalten von Milde und Moral, im Sinne einer menschlichen Gesinnung. Lassen wir uns jetzt von der Hamas Standards setzen?
Über den Terror gegen Israel und die Gewalt-Orgie gegen unschuldige Zivilisten zu schreiben, sei gut und richtig, allein schon, um den Schrecken zu verarbeiten. Auch um Verantwortung zu zeigen, sagte ein guter Freund und schickte mir ein Zitat des großen Rabbi Hillel:
„Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und solange ich nur für mich selbst bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?“
Dann tue ich das hiermit und schaue mal, was beim Schreiben herauskommt, denn meine Seele, mein Innerstes sind schwarz vor Trauer. Etwas ist zerborsten. Etwas, das – so glaube ich – nie mehr verheilen wird. Entweder ist man in diesen Tagen selbst betroffen oder hat Freunde, die betroffen sind.
Zudem frage ich mich tatsächlich, was es bringt, der geschwätzigen Ignoranz in dieser Welt den Spiegel dahingehend vorzuhalten, was sie nicht sehen und hören will, was aber alle Menschen in Israel sehen und erleben müssen. Und ob es anlässlich dieser schweigsamen Realitätsverweigerung nicht unanständig ist, unser Leid öffentlich zu machen. Unanständig den Ermordeten gegenüber.
Das Grauen ist real
Mit dem Massenmord der Hamas an rund 1.400 Israelis an einem einzigen Tag wurde für die Juden weltweit das Shoa-Höllentor ein Stück weit geöffnet, zu einem erneuten Zivilisationsbruch. Ein Tag, an dem wieder einmal das Regelwerk der Menschlichkeit versagte, sich gegen die Juden als solche wandte.
Seitdem ist das iPhone mein Tor zu den Geschehnissen in Israel, sozusagen das Fenster zur Hölle – ich bin in zwei, drei israelischen Telegram-Kanälen, die mich exzellent informieren, Tag und Nacht. Das Grauen ist real, täglich wird der gefallenen Soldaten gedacht, mit Bildern und persönlichen Angaben, sie sind meistens kaum älter als 20, und sie lösten die Bilder über die Blut- und Gewalt-Orgien ab, jene in den Kibbuzim und die von der Nova-Party.
Alltag ist die Geisel-Thematik – für die Angehörigen ein grauenhafter Zustand –, auch für meine Familie, die seit über einem Monat nach Shani Gabay sucht, sie wurde zu den Vermissten und Entführten gezählt. Sie ist die Cousine des Ehemannes meiner Nichte. Während ich an etwas anderem schreibe, liegt mein Handy ständig griffbereit, als ein Bild plötzlich den Bildschirm erleuchtet. Ungläubig nehme ich es in die Hand: Es ist Shanis Foto, das nicht nur wir über Wochen unter dem Motto „Bring Her Home Now“ verbreiteten, es kursierte weltweit.
Ja, sie ist es. Das Mädchen mit dem Strohhut, silberne Creole im Ohr, das lange braune Haar leicht ins Gesicht fallend, eine weiße Perlenkette um den Hals, das Muttermal. Warmer Glanz in den leicht geschlossenen, braunen Augen, die mit der Kamera flirten und uns mit ihrer Jugend bezaubern.
Am Mittwoch des 22. November, 15.20 Uhr, erhalte ich also folgende offizielle Nachricht auf Telegram: „Die Leiche von Shani Gabay, von der man annahm, dass sie unter den Gefangenen in Gaza war, wurde auf israelischem Gebiet gefunden und identifiziert. Die Familie wurde informiert.“
Traurige Experten
Schock, Unglauben, einfach so. Bestätigte Vorahnung, bittere Gewissheit, heiße, schmerzvolle Tränen. Über einen Monat später, auf „israelischem Gebiet gefunden und identifiziert“! Das bedeutet etwas Grundlegendes, mir ist sofort klar, was: Shani war nie eine Geisel, nie entführt worden und seit dem 7. Oktober, als sie auf der Nova-Party war, sind 47 Tage vergangen. Folgende Sprachnachricht von Verwandten aus Israel bestätigt meine dunkelsten Vorahnungen:
„Neben einem Krankenwagen, der auf dem Gebiet der Nova-Party von einer RPG getroffen wurde, (einer handbedienbaren Panzerwaffe, einer Art raketenbetriebenen Granate RPG), wurde Shanis Armband gefunden und als ihres identifiziert. Auf diesem Armband wurde die DNA eines anderen Mädchens gefunden, das bereits beerdigt war. Daraufhin wurde das bereits beerdigte Mädchen exhumiert, beim Untersuchen ihrer Gebeine, fand man auch einige sterbliche Überreste von Shani; ein paar Zähne. Diese Informationen bekamen ihre Eltern bereits am Morgen des 22. November.“
Sterbliche Überreste wurden ab dem 7. Oktober, dem schwarzen Shabbat, auf einen nahegelegenen Armeestützpunkt verbracht, Israel hat ein Verarbeitungszentrum geschaffen, das für Opfer von Terroranschlägen und Naturkatastrophen eingerichtet wurde. Die menschlichen Überreste von Shani und von dem eigens exhumierten Mädchen gingen also durch die Hände der Freiwilligen von ZAKA und Chewra Kaddischa.
Beide ehrenamtliche Organisationen sind einiges gewöhnt, gerade wenn Bombenanschläge Israel in der Vergangenheit erschütterten. Sie sind traurige Experten auf einem Gebiet, das neben neben dem Aufsammeln menschlicher Überreste das Zusammenführen von Leichen und Körperresten beinhaltet, um sie für die jüdische Bestattung vorzubereiten und um sie zu identifizieren.
Akt der Menschenliebe und Menschenwürde
Die besonders brutale Art und Weise, mit der unzählige der rund 1.400 Menschen zu Tode gebracht wurden, nur weil sie Juden waren – die Rede ist von Kindern, Kleinkindern, Jugendlichen, ganzen Familien und auch Feiernden auf der Nova-Party –, macht die Identifizierung vieler Opfer besonders schwierig. Sie ist mit nichts vergleichbar, was die ZAKA-Ehrenämtler jemals zu sehen bekamen, die Dimension übersteigt ihre Vorstellungskraft, sagen sie in Interviews. Die ZAKA-Männer sind gläubige Juden, sie tun ihre Arbeit aus innerster, humanistischer und religiöser Überzeugung, für die Ermordeten und für die Hinterbliebenen, als einen jüdischen Akt der Menschenliebe und Menschenwürde.
Sie identifizierten Shani wie gesagt mithilfe der Überreste eines anderen Mädchens, die bereits beerdigt waren. Sie fanden bei dem von einer Panzergranate zerstörten, somit vermutlich völlig ausgebrannten Krankenwagen die sterblichen Überreste eines Mädchens, darin wiederum ein paar Überreste von Shani. ZAKA dokumentierte unfassbare Gewaltszenen, eine noch nie dagewesene Lust am Morden, an Folter und Verstümmelung, lebenden Verbrennungen als gezielten Folterakt und schließlich die massenhafte Misshandlung durch sexualisierte Gewalt. Was davon erlebten diese beiden Mädchen? Beide wurden am 7. Oktober beim Supernova-Festival ermordet. Shani wurde nur 26 Jahre alt.
Bei der Nova-Party für Liebe und Frieden lagen Überlebende für Stunden unter ihren erschossenen Freunden und stellten sich tot, wie einst bei Massenerschießungen in Babi Jar, als lebende Juden unter den Leichen ihrer Angehörigen hervorkrochen, nachdem die Deutschen mit ihrer Barbarei fertig waren. Im Kibbuz Beeri sieben ZAKA-Mitarbeiter Asche, Zähne und Knochenstücke, als wären sie Archäologen. Es ist die Asche von Kindern, die gefoltert, zerstückelt und lebendig verbrannt wurden. Wer die Kibbuzim besuchte, erzählte vom Geruch des Todes in der Luft, von Asche auf seinen Kleidern.
Bei Caesarea wurden hunderte Rucksäcke, Kleidungsstücke, bunte Tücher und Taschen in allen Farben fein säuberlich zusammengefaltet, aufgereiht, für alle Hinterbliebenen der auf dem Musik-Festival abgeschlachteten jungen Israelis abholbereit: Es waren mehr als 350.
Erwartungshaltung von Mördern
Zu einem Wolkenbruch der Asche ist die Humanität Europas geworden und mancherorts schwebt sie noch als Rauchschwaden über unseren Köpfen, sie ist Asche auf unseren Häuptern. Es regen sich Stimmen, die von Israel jetzt „humanitäre Geschenke“ für Gaza einfordern, sei es Waffenruhe oder Diesel für den „humanitären Zweck“.
Besteht etwa das Überbleibsel der Humanität, ab dem 7. Oktober, aus den Forderungen, die uns die Hamas stellt? Bildet sich diese „neue Humanität“ aus der Abhängigkeit von der Herrschaft des ultimativ Bösen? Setzen jetzt fanatische Hitler-Huldiger und Geiselnehmer unsere Standards des alltäglichen Umgangs miteinander und erst recht jene Standards des Humanismus in einem Krieg, den sie selbst entfesselt haben?
Nachdem sie erst meuchelten, fordern sie nun, dass wir der kriegerischen Antwort auf den Schrecken, den sie über uns brachten, ein Ende setzen müssen, durch das Einhalten von Milde und Moral, im Sinne einer menschlichen Gesinnung! Setzt die Hamas den neuen Standard der menschlichen Zivilisation? Ist unsere Welt nun eine, die Erwartungshaltungen von barbarischen Mördern zu befriedigen sucht, die dem selbstentfachten Zivilisationsbruch huldigen: grölend, feiernd, mordend, folternd, vergewaltigend, massakrierend, verbrennend? Nach ihrer bedingungslosen Vernichtungswut wollen sie sich der von ihnen geschundenen Humanität und des Völkerrechts bedienen und uns Bedingungen stellen. Sie merken nicht einmal, dass sie selbst alles auf einem Scheiterhaufen verbrannten. Menschlichkeit, Milde und Moral.
Aber wir merken es noch, oder etwa nicht? Denn wenn nicht, ist das keine zivilisierte Welt mehr für mich. Mein Freund sagte an dieser Stelle zu mir: „Die Welt ist so zivilisiert, wie wir sie noch halten können“ und dass er „den Wert der Welt nicht den Barbaren überlassen“ wolle. Diese Welt aber wird bereits von anderen den Barbaren überlassen, wir können überhaupt nichts dagegen tun, weil die Barbaren den Standard bestimmen, den Standard unserer neuen Zivilisation. Und wir spielen ein Spiel, nach ihren teuflischen Regeln.
Muslimische Unterwerfungsdemos
So endete dieser Mittwoch für mich, vor allem für meine Familie leider nicht mit Shani und ihrem Bild in einem weltweit genutzten Telegram-Kanal. An diesem Tag endete das Grauen eben nicht mit dem bestialischen Mord an Shani, deren Tod man am Tag 47 vermeldete, da ihre DNA identifiziert werden konnte. Shani Gabay war das Kind angeheirateter Verwandtschaft, aber eben doch unumwunden ein Stück meiner Familie.
Das Grauen rückte an diesem Tag aber noch näher, ganz nahe, in meine engste Familie hinein, als mein Schwager – der iranischer Jude ist und mit meiner aus Rumänien stammenden Cousine verheiratet – mir erzählte, dass ihre Tochter als Soldatin in den Gaza-Streifen verlegt wird. Ich stelle mir daher die Frage, von welcher zivilisierten Welt die Rede ist, die wir nicht den Barbaren überlassen dürfen, denn die Welt meiner kleinen Nichte Ofek wird bereits durch die Barbaren bestimmt.
Lange vor dem 7. Oktober 2023 gellten bereits die Rufe: „Allahu Akbar“ und „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ völlig unbehelligt und im Gleichklang. Wenn Muslime den Judenmord im Namen ihrer Religion lautstark skandieren, dann glauben wir ihnen das. „Juden ins Feuer“, wurde so auch zur Devise am 7. Oktober 2023. Der westliche Zeitgeist wird von islamischen Horden bestimmt, die nach dem Juden-Massaker den uralten Judenmord europaweit in Unterwerfungsdemos grölend verlangen, ihn als den richtigen Weg für das Wohl dieser Welt heraufbeschwören und ganz nebenbei auch das islamische Kalifat.
Geheimwaffe der Terroristen
Antizionismus und AntiIsraelismus, Judenhass in Tarnfarben, werden zum angesagten Massenphänomen. Die Auslöschung des Judenstaates, gerne wahlweise auch des Judentums als Lebensgefühl des Mobs, als richtige Geisteshaltung der bewegten Massen. „Tod den Juden – Tod Israel.“ Nicht anders prophezeiten wir es, dass der Ruf nach der Auslöschung Israels lediglich das Synonym für den Ruf nach der Endlösung der Judenfrage weltweit sein würde.
Nun, da auch die Schulstreik-Kinder herangewachsen sind und sich mit der Lebensart archaischer Stammesrituale solidarisieren, bei denen Körper verstümmelt, Köpfe zu Brei getrampelt, Leichen durch die Straßen geschleift werden, werden völlig neue ethische Wertmaßstäbe gesetzt. Die Strategie der Hamas-Barbarei geht auf, denn die Gewalt-Pornos, begangen an Mädchen, Frauen, Babys, mit Body-Cams für die TikTok-Generation der westlichen Dekadenz gefilmt und verbreitet, erzeugen keinerlei Empörung oder Shit-Storm gegen die Hamas-Produzenten. Unzählige „Geistesgrößen“ offenbarten nun ihre moralische Verkommenheit, wenn Salon-Weltenverbesserer sämtlicher Couleur Israels Existenzkampf moralisch verurteilen.
Der größte Verbündete der Hamas bleibt somit der Judenhass des Westens, eine Geheimwaffe der Terroristen. Jene uralte moralische Verwerflichkeit der westlichen Welt ist die Hamas-Zauberformel, auf deren verlässliche Verkommenheit der terroristische Islam zählen kann. Der „Djihad“, die religiös-weltanschaulich motivierte islamische Revolution, und die Klima-Revolution von „Fridays For Future“, mit all ihren religiös anmutenden Weltuntergangszenarien, treffen sich zum Märtyrerkampf gegen das ultimativ Böse. Originär islamischer Judenhass und die verschwörungstheoretischen Elemente des europäischen Judenhasses, wiedererweckt in der linken Klima-Bewegung, ergeben eine toxische Mischung, mit nur einer Lösung. Quelle alles Bösen: Israel und die Juden. Alle Blütenträume von der Unschuld und linken Progressivität sind zerplatzt, das Erwachen konnte kaum hässlicher sein.
Hamas-Greta und das Klima-Kalifat!
Vor allem aber junge Israelis, wie meine Nichte Ofek, überlassen diese Welt eben doch nicht den Barbaren, obwohl Europa mit seinen verdammten Geldzahlungen an die Hamas, mögen sie auch über Umwege geschehen, die Welt für Juden zu einer Welt machen, die von Barbaren bestimmt wird. Oder gibt es eine neue Kontonummer für die diesjährigen 160 Millionen aus Deutschland?
Ofek zieht, wie viele andere junge Israelis, in den Krieg. Für Israelis ist die Armee ein Ort, an dem man seine ganzen Freunde trifft, man feiert dort auch Shabbat, trifft seine Liebste oder seinen Liebsten. Oft wird nach dem Wehrdienst geheiratet, momentan auch währenddessen. Eitan, mein Schwager, erklärte mir, Ofek sei schließlich ein „Combat Soldier“, sie wisse daher, wie man kämpft. Ihre weiteren Aufgaben seien, als Teil des Rettungs-Teams die Hamas-Tunnel zu sichern, nachdem diese zerstört wurden, sowie die Rettung verletzter Soldaten.
In Israel ist man mit Anfang 20 längst erwachsen und trifft seine eigenen Entscheidungen, das lernt man beim Wehrdienst in der IDF. Ofek traf ihre Entscheidung, für eine Versetzung an die Gaza-Grenze. Für den Fortbestand Israels und des jüdischen Volkes. Außerdem für den Fortbestand einer von Werten geleiteten Gesellschaft. Und dafür bewundere ich sie. Es ist eine Gnade, zu wissen, wer man ist und wofür man kämpft. Darin bemisst sich der Wert dieser Welt.
Seit 1897 hatte ein kleiner jüdischer Anwalt aus Wien die einzig richtige Antwort auf die vergangenen Zivilisationsbrüche und war ein Visionär dessen, was der Judenhass noch bringen würde. Seine Antwort darauf: der Zionismus. Nie mehr abhängig sein von der Gnade anderer. Zum Judenhass sagte er: „Eine Bewegung bekämpft man mit einer Gegenbewegung.“
Israel ist diese Gegenbewegung. Israel ist die Antwort auf die Barbaren. „Und solange ich nur für mich selbst bin, was bin ich?“ Das besagt ein Zitat des Rabbi Hillel. Ich bin für dich, liebe Shani, für Dich auf Ewig. Baruch Dayan Ha´emet – Und möge dir die Erde leicht sein.
Simone Schermann ist eine deutsch-jüdische Autorin. Seit 18. Mai 2018 ist sie Vorsitzende des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises (DIA) Südlicher Oberrhein mit Sitz in Ettenheim.