Josep Borrell Fontelles ist „Hoher Vertreter“ der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Der 1947 in Katalonien geborene Sozialdemokrat hat viele Facetten. Lesen Sie hier, welche.
Bestimmt ist es nur eine bösartige Unterstellung von mir: Manchmal beschleicht mich unwillkürlich der Verdacht, dass Ursula von der Leyen bewusst acht Vizepräsidenten um sich geschart hat und nicht etwa nur sieben. Womöglich hätte sich sonst die Assoziation von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ allzu sehr aufgedrängt. Dabei ist mir natürlich klar, dass EU-Kommissare keineswegs Zwerge, sondern äußerst wichtige und ernstzunehmende Persönlichkeiten sind. Manche sind allerdings noch wichtiger und ernstzunehmender als andere. Josep Borrell Fontelles zum Beispiel. Neben den drei exekutiven Vize-Kommissaren Timmermans, Vestager und Dombrovskis, die für die „zentralen Themen der Agenda“ (O-Ton Bundesregierung) Green Deal, Digitalisierung und Ökonomie zuständig sind, trägt allein er noch einen weiteren Titel: Er ist nicht nur einer der Vizepräsidenten der Kommission, sondern auch „Hoher Vertreter“ der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.
Daher wird Josep Borrell Fontelles auf der offiziellen Kommissionswebseite an vierter Stelle nach Ursula von der Leyen aufgeführt. Sein Ressort ist mit „Ein stärkeres Europa in der Welt“ überschrieben. Seine Doppelfunktion wird auf der Website des diplomatischen Dienstes der Europäischen Union folgendermaßen begründet: Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 sei der Hohe Vertreter auch Vizepräsident der Europäischen Kommission, weil dies „eine weitere Koordinierung“ ermögliche und „die Kohärenz der EU-Außenpolitik“ gewährleiste, da die Europäische Kommission wichtige internationale Zuständigkeiten in den Bereichen Handel, Entwicklung, Nachbarschaftspolitik und humanitäre Hilfe habe. Salopp gesagt: Borrell ist der Außenminister der EU. Er trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei und sorgt dafür, dass die vom Europäischen Rat erlassenen Beschlüsse umgesetzt werden (s.a. hier). Darüber hinaus vertritt er den Standpunkt der EU in internationalen Organisationen wie NATO oder UN und ist Leiter der Europäischen Verteidigungsagentur, des EU-Instituts für Sicherheitsstudien sowie des diplomatischen Netzes der EU mit rund 144 diplomatischen Vertretungen in der ganzen Welt. Er trägt einen „Doppelhut“, indem er als Vorsitzender im Rat der Außenminister sowie Vizepräsident der Kommission die außenpolitischen Sphären von Rat und Kommission verbinden soll.
José Borrell, wie er auch genannt wird, wurde 1947 in Katalonien geboren und gehört der katalanischen sozialdemokratischen Partei an. Er studierte in Madrid Luftfahrtechnik und promovierte in Wirtschaftswissenschaften. Bis 2009 war er Mitglied und zwischen 2004 und 2007 Präsident des Europäischen Parlaments. Außerdem wirkte er mehrfach als Minister im spanischen Kabinett mit, beispielsweise als Minister für Infrastruktur und Transport oder auch für Umwelt. 2010 wurde Borrell zusätzlich Präsident des Europäischen Hochschulinstituts (EUI), gab dieses Amt aber 2012 schon wieder auf, weil es Kontroversen über seine nicht offengelegte Aufsichtsratsmitgliedschaft beim Energiekonzern Abengoa gab (s.a. hier). 2018 wurde er von der spanischen Wertpapieraufsichtsbehörde sogar wegen Insiderhandels zu einem Bußgeld verurteilt, da er sich kurz vor der Insolvenz von Abengoa noch um Aktienverkäufe zugunsten seiner Ehefrau gekümmert hatte.
Den Ukraine-Krieg „auf dem Schlachtfeld entschieden“
Borrells Karriere nahm dadurch jedoch keinen Schaden: Am 1. Dezember 2019 trat Borrell sein aktuelles Amt an. Und die Erwartungen an ihn sind offenbar hoch. Im persönlichen Auftragsbrief von UvdL an ihn springen Sätze ins Auge wie: „Um eine globale Führungsrolle zu übernehmen, muss die Union Entscheidungen schneller und effizienter treffen. Wir müssen den Zwang zur Einstimmigkeit überwinden, der unsere Außenpolitik behindert. Wenn Sie Vorschläge unterbreiten, sollten Sie versuchen, die Klauseln in den Verträgen zu nutzen, die es ermöglichen, bestimmte Beschlüsse im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit zu fassen.“ Und: „Wir müssen in den nächsten fünf Jahren weitere mutige Schritte in Richtung einer genuinen Europäischen Verteidigungsunion unternehmen.“
Übrigens betreibt Borrell sogar einen eigenen Blog oder lässt ihn zumindest von seinem Team betreiben. Am 1. Februar postete er dort beispielsweise: „Letzte Woche bin ich in die Region des südlichen Afrikas gereist. Auf meiner Agenda standen der EU-Südafrika-Ministerdialog sowie bilaterale Treffen in Südafrika und Botswana. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine stand ganz oben auf der Tagesordnung, nachdem der russische Außenminister nur wenige Tage zuvor Südafrika besucht hatte. Wir diskutierten über die Ursachen und Folgen des Krieges und darüber, wie er beendet werden kann.“ Euronews titelte dazu: „EU-Chef Borrell hofft, dass Südafrika Russland überzeugen kann, den Krieg in der Ukraine zu beenden.“ Im April 2022 hatte Borrell hingegen als erster europäischer Politiker davon gesprochen, dass der Ukraine-Krieg „auf dem Schlachtfeld entschieden“ werden müsse.
Neben der Ukraine stand das Thema „Zitrusfrüchte“ in Südafrika zur Debatte: Aufgrund von EU-Beschränkungen mussten die südafrikanischen Zitrusexporte in die EU vor etwa einem halben Jahr gestoppt werden. Hintergrund sind die neuen Pflanzenschutzvorschriften, die die EU im Juli letzten Jahres eingeführt hatte. Darin ist eine verstärkte Kältebehandlung für Orangenimporte aus Afrika vorgeschrieben – aus Sorge über die Falsche Codling-Motte, die Zitrusfrüchte befällt. Da drängt sich doch direkt ein Lösungsvorschlag auf: Wie wäre es, wenn die EU die Falsche Codling-Motte einfach zu den erlaubten Nahrungsmitteln hinzufügt, wie sie es ja mit Hausgrillen, gelben Mehlwürmern und Larven von Getreideschimmelkäfern schon getan hat?
Insgesamt ist Borrell natürlich keineswegs zu beneiden: Er muss sich um unüberschaubar viele Krisen gleichzeitig kümmern. Was waren das noch für Zeiten, als er etwa im Jahr 2008 in seiner Funktion als Vorsitzender des Entwicklungsausschusses des Europäischen Parlaments Stellungnahmen wie beispielsweise diejenige „für den Fischereiausschuss zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über den Abschluss des Abkommens in Form eines Briefwechsels über die Änderung des Protokolls zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und des Finanzbeitrags nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Seychellen für die Zeit vom 18. Januar 2005 bis zum 17. Januar 2011“ schreiben durfte. Borrell gilt als Mann der klaren Worte. So nannte er den Kampf von jungen Menschen gegen den Klimawandel „Greta-Syndrom“ – wofür er sich selbstverständlich im Nachhinein entschuldigte.
„Goebbels hatte kein Internet“
Doch der Mann hat viele Facetten. Borell spricht sich nämlich ebenso klar für den Aufbau eines palästinensischen Staates und für das Engagement der EU „für eine gerechte und umfassende Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Lösung“ aus. Die Jerusalem Post wirft ihm am 29.12.22 vor: „Es hat den Anschein, dass die extreme und unlogische Fixierung der EU auf Israel nicht unbedingt von den staatlichen Mitgliedern der EU geteilt wird. Sie scheint die seit Langem bestehende persönliche Abneigung und Feindseligkeit gegenüber Israel widerzuspiegeln, die der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, schon lange vor seinem Amtsantritt an den Tag gelegt hat.” Hintergrund ist das EU-Dokument „Gemeinsame Strategie zur Unterstützung Palästinas“, in dem die Verpflichtung der EU festgehalten ist, „zum Aufbau eines palästinensischen Staates innerhalb der Grenzen von 1967 beizutragen“. Die Jerusalem Post weist jedoch darauf hin, dass in den Osloer Verträgen nie eine Grenze von 1967 erwähnt werde, da es sie schlichtweg nicht gegeben habe, sondern ausschließlich eine Waffenstillstandslinie, die 1949 unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen festgelegt worden sei.
Aktuell hielt Borrell am 7. Februar die Hauptrede bei der Konferenz „Jenseits von Desinformation – EU-Reaktionen auf die Bedrohung durch ausländische Informationsmanipulation“ in Brüssel. Nach einer Schweigeminute für die Verstorbenen des Erdbebens in der Türkei und in Syrien führte Borrell aus, dass Russland schon seit vielen Jahren in Desinformation investiere. Der Krieg werde nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch im Internet geführt. Zu lügen und Desinformationen zu verbreiten, sei zwar nichts Neues; das habe Goebbels schon im Zweiten Weltkrieg erfunden. Doch was heute neu sei, seien die Intensität und die Instrumente: „Goebbels hatte kein Internet und keine Instrumente der sozialen Medien. Doch heute haben Menschen, die sich wie Goebbels verhalten – die eine Lüge 1.000-mal erzählen – eine mächtige Möglichkeit der Multiplikation mit Lichtgeschwindigkeit, um jeden überall zu erreichen.“ Borrell verweist auf den am selben Tag erschienenen ersten Bericht zu ausländischer Informationsmanipulation des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Der „Kampf der Narrative“ sei allerdings auch schon in der Pandemie zu beobachten gewesen. Borrell kündigt an, dass ein neues „Informations- und Analysezentrum“ geschaffen werden soll, um Daten über Bedrohungen durch Desinformation und durch ausländische Informationsmanipulation zu erheben.
Am selben Tag, dem 7.2.2022, veröffentlichte Borrell auf seinem Blog zudem noch eine Stellungnahme mit dem Titel „Migration ist ein Schlüsselelement unserer Außenpolitik“, in der er u.a. betont: „Ich denke, es ist wichtig, dass wir eine Festung-Europa-Mentalität vermeiden. Keine Mauer wird hoch genug sein, um Menschen einfach draußen zu halten.“ Außerdem gab er ein Statement ab zur ebenfalls am 7. Februar stattgefundenen Tagung des Assoziationsrates EU-Moldau in Brüssel, auf der sich die EU und die Republik Moldau darauf geeinigt haben, die Zusammenarbeit im Rahmen ihres Assoziierungsabkommens weiter zu verstärken:
„Wir begrüßen das starke Engagement der moldauischen Regierung für Reformen, die auf eine Annäherung der Republik Moldau an die EU abzielen, insbesondere eine umfassende Justizreform, die Bekämpfung der Korruption und die Gewährleistung der De-Politisierung der staatlichen Institutionen. Diese Reformen sind von entscheidender Bedeutung, um die Erwartungen der moldauischen Bevölkerung zu erfüllen, und ebenso wichtig für die Stärkung der allgemeinen Widerstandsfähigkeit der Republik Moldau und für die Fortschritte des Landes auf dem Weg in die EU.“
Kein Zweifel: Borrell hat viel zu tun. Besonders im Kampf gegen Korruption. Und das nicht nur in Moldawien.