Man lacht über Omas Gartenzwerg und stellt sich einen Buddha ins Blumenbeet. Da sitzt der Erleuchtete brav und kann keine Dummheiten anstellen. Herkunftsland: Baumarkt. Integration: abgeschlossen. Macht Reisen wirklich klüger?
Ich träume ständig davon: Kein Ort des Planeten ist mehr vor uns sicher – Deutschland, Deutschland allerorten. Meine Ängste haben Gründe. Schließlich kann ein deutscher Normalverdiener sich heute nicht bloß auf Mallorca einen Wodka Energy zu viel bestellen, sondern im Himalaya zwischen Achttausendern meditieren oder in Kairo um Kreuzkümmel feilschen.
Die Welt ist nur einen Billigflug entfernt, und alles Fremde stirbt. Ob die Grenzen nun offen oder geschlossen sind, spielt deshalb auf unserer geschrumpften Erde keine Rolle mehr. Fragen Sie Jette Nietzard.
Woran beim Check-in für den Wochenendtrip keiner mehr denkt: Die Welt war mal vor uns sicher. Mobilität ist anormal. Im Mittelalter etwa entfernte ein typischer Bauer – und das waren fast alle – sich in seinem gesamten Leben nicht weiter als zehn Kilometer von seinem Geburtsort.
Von dieser Sesshaftigkeit hat die moderne Welt sich im Namen des Fortschritts verabschiedet. Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurde das Reisen zunächst zum Bildungsideal der Bessergestellten; durch technische Fortschritte und eine neue Mittelschicht wandelte es sich im 20. Jahrhundert zum Statussymbol der Massen.
Halb so schlimm, denke ich mir, wäre damit wenigstens ein Traum der Aufklärung wahr geworden – Lernen durch Anschauung. Aber kennt die Generation EasyJet, weil sie ständig unterwegs ist, die Welt und die Menschen, die sie bevölkern, wirklich besser?
Die innere Schweigespirale
Natürlich, auch die Deutschen wissen heute, dass eine Bolognese kein italienischer Reigentanz ist. Hartnäckig halten sich gerade unter Weltenbummlern trotzdem Bildungslücken. Eine durchaus markante: Leute, die am exotischsten herumkommen, behaupten am beharrlichsten, dass Dänen und Afghanen sich im Grunde nur durch ihre Pässe unterscheiden. Es ist die Banalität aus Bali – „one love“! Kein Zweifel, Aufklärer wie Hume oder Condillac haben die Empirie überschätzt.
Macht Reisen also dumm? Starke Vermutung: Nein, aber je tiefer in der Kalahari der Selfie-Spot lag, desto besser lässt sich die innere Schweigespirale aufrechterhalten. Man hat schließlich mit eigenen Augen gesehen, dass auch Buschleute queere „Tatorte“ gucken und ihren CO2-Fußabdruck geringhalten möchten. Stand man etwa nicht im Dreck des Globalen Südens, um das Edle im ungewaschenen Wilden zu erblicken? Instagram-Stories lügen nicht.
Selbstverständlich ist es Unfug, zu behaupten, alle Menschen seien nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch sonst gleich oder würden auch nur das Gleiche wollen. Auf Reisen weiß das jeder, wenn er nicht gerade im Netz ein gutes Bild für die Daheimgeblieben abgeben muss.
Aus gutem Grund bringt kein Tourist einem thailändischen Tuk-Tuk-Hasardeur dasselbe Vertrauen entgegen, wie er das bei einem Taxifahrer in Deutschland tun würde. Und einen Platz im Café zu reservieren, indem man sein Handy auf den gewünschten Tisch legt, gelingt zwar in Tokio, in Berlin eher nicht. Skeptiker sind eingeladen, das Gegenteil zu beweisen. Gerne mit ihrem eigenen Telefon.
Kurz: Länder funktionieren nicht gleich, Menschen unterscheiden sich voneinander, und keine Kultur ist wie die andere. Um das zu leugnen, müsste man lügen, kognitiv benachteiligt sein oder Kulturwissenschaften studiert haben.
Der Gell-Mann-Amnesie-Effekt
Erst zurück in der Heimat ereilt viele ein seltsamer Gedächtnisverlust. Ob man nun Burka oder Baseballkappe neben sich in der U-Bahn sieht: Angeblich stecken unter beiden dieselben Überzeugungen, Ängste und Hoffnungen. Glaubt man dem Katechismus der Regenbogen-Demokratie, dann schreitet die Menschheit in Vielfalt vereint als amorphe Masse voran.
Wo die Realität in der heimischen Fußgängerzone das Messer zückt, geben fehlende Therapieplätze oder Integrationskurse Anlass zur Sorge, nicht die Realität selbst. Echte Diversität, die einem beim Sightseeing in Kalkutta noch vor die Füße spuckte, ist zu Hause ein Ding der Unmöglichkeit. Die Vielfalt hat gefälligst zur aufgeräumten Ästhetik zu passen, wie sie uns vom Fairtrade-Produkt in Gestalt eines dankbaren Kaffeebauern entgegengrinst. Dann bleibt sie auch im Gedächtnis.
Der Schriftsteller Michael Crichton hat einmal ein verwandtes Phänomen beschrieben, den Gell-Mann-Amnesie-Effekt – benannt nach dem Physiker Murray Gell-Mann: „Du schlägst die Zeitung auf und liest einen Artikel über ein Thema, mit dem du dich gut auskennst. Bei Murray ist es die Physik, bei mir das Showgeschäft. Du liest den Text und merkst: Der Journalist hat weder die Fakten noch die Zusammenhänge verstanden. Oft ist der Artikel so falsch, dass er die Geschichte buchstäblich auf den Kopf stellt … Dann blätterst du weiter zu den nationalen oder internationalen Themen und tust so, als wäre der Rest der Zeitung plötzlich präziser, was zum Beispiel Palästina betrifft, als der Unsinn, den du eben gelesen hast. Du blätterst um und vergisst, was du weißt.“
Bei der Rückkehr aus dem Urlaub verhält es sich mit der selektiven Vergesslichkeit nun genau umgekehrt. Man findet nicht wie bei Crichton im Vertrauten eine Unwahrheit, die man anschließend vergisst – man birgt in der Fremde eine Wahrheit, nur um sie, zurück im Vertrauten, nicht mehr zu erinnern. Diversitätsamnesie ist standortgebunden: Spätestens am Gepäckband des Heimatflughafens sind wieder alle gleich.
Mein Kumpel, der Gemüsehändler
Was im Individuum als selektive Vergesslichkeit auftritt, zeigt sich in der Gesellschaft als moralischer Imperativ. Standortgebundene Diversitätsamnesie befällt nicht jeden, aber sie ist die erste Pflicht des tugendhaften Diversitätsverfechter. So präzise wie bei einem Naturgesetz meint dieser ableiten zu können: Im Vertrauten ist alles wie man selbst. Weshalb etwa ein türkischer Gemüsehändler im eigenen Viertel kein Faschist sein kann. Erst recht nicht, wenn er beim Zucchini-Abwiegen mit einem rumkumpelt.
Aber es kommt noch besser, denn das seltsame Vergessen der Regenbogen-Demokraten hat ein Spiegelbild: Viele Einwanderer, an denen die Alteingesessenen keine Unterschiede erkennen wollen, leiden selbst unter einer Amnesie. Ein bedeutender Teil scheint vergessen zu haben, wie es in den meisten Herkunftsländern aussieht. Und so beharren diese Migranten in ihrer neuen Heimat auf einer Kultur, die ihre alte Heimat zu einem Ort gemacht hat, in dem sie nicht mehr leben wollten. Wo die eigenen Wurzeln liegen, sprießt das Gras am grünsten. Auch eine Einsicht: Migration ging mal anders.
Fest entschlossen, zu vergessen
Was auch immer der Grund für die Vergesslichkeit auf beiden Seiten ist, das Resultat bleibt gleich: Einheimische und Neuhinzugekommene blicken einander in die leeren Augen, fest entschlossen, sich bloß nicht zu erinnern. Mindestens eine Seite ist blind vor gutem Willen und, mancher würde sagen, lebensgefährlich erkrankt. Bei Alkoholikern heißt dieses selbstverschuldete Stadium „Ich habe kein Problem“ – ein Dementi, so überzeugend wie der Sitz Burundis im UN-Menschenrechtsrat.
Von Alkoholikern, die kein Problem sehen möchten, gibt es übrigens zwei typische Kategorien. Die einen kriegen rechtzeitig die Kurve zur Erkenntnis, die anderen haben kein Problem, bis sie sich totsaufen. Reisen macht, anders als Schnaps, nicht dumm. Wie beim Nachrichtenlesen gilt jedoch: Man hat mehr davon, wenn man mitdenkt.
Was man mit ein wenig Mühe beim Reisen lernen kann: Wer sich eine Kultur schönsäuft, ist auch bloß Spießer – und genauso erkenntnisoffen. Der Horizont reicht dann gerade bis zum eigenen Weltbild. Man lacht über Omas Gartenzwerg und stellt sich einen Buddha ins Blumenbeet. Da sitzt der Erleuchtete brav und kann keine Dummheiten anstellen. Herkunftsland: Baumarkt, Integration: abgeschlossen.
Apropos – wussten Sie, dass buddhistische Mönche in Tibet als religiös legitimierte Gutsherren auftraten? Eigensinnigen Leibeigenen ließen sie auch schon mal Gliedmaßen abhacken. Ach, vergessen Sie’s.
Florian Friedman ist freier Autor und Redakteur. Für zahlreiche Magazine und Zeitungen schreibt er über gesellschaftliche Themen, Kunst, Technologie und Musik. Er lebt in Hamburg.

@ Emil Meins. Nachtrag: Vermutlich haben Sie recht. Trotzdem Misanthrop. Mein Beileid.
Wilfried Cremer / 05.10.2025 @ Herrn Fricke, wenn Sie in Deutschland an bestimmten Orten einen Rucksack liegen lassen, kommt der Räumdienst (mittlerweile auch mit Robotern). Dazu 2 Fragen: Wer hat das verursacht? Ach Herr Cremer. Ein ehemaliger Bekannter aus Rußland erzählte mir mal, wie gegen Morgen in der Kneipe, wo sie waren ein völlig Besoffener rausging und wenig später mit einem Gewehr wiederkam. Dann stellte er sich in die Mitte und sagte: Die Geschichte ist jetzt zu Ende. War sie aber nicht. Denn wenig später ging ein junger Herr mit kurz rasiertem Schädel frontal auf ihn zu, sprach mit ihm und dann nahm er sein Gewehr und verschwand. Wie wäre dieser Vorfall wohl bei uns verlaufen ?
Eines fällt auf: die “no border”-Fraktion (jeder darf sich überall niederlassen, und die Einheimischen haben das stets zu dulden und zu alimentieren) ist fast zu 100% identisch mit denen, die nie ein Zimmer in ihrer WG auch nur für eine Nacht an jemanden vermieten würden, der nicht zuvor in geradezu inquisatorischer Weise intensivst ein stundenlanges Interview absolviert hat über seine Ess- und sonstigen Gewohnheiten, politischen Ansichten, sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität etc. Diejenigen, die 2012/13 im Prenzlauer Berg in Berlin einen Kulturkampf wegen vermeintlicher Überfremdung durch Schwaben und ihre Backwerke in den Kiez-Bäckereien vom Zaun gebrochen haben (kein Scherz - das hat damals wochenlang die Feuilletons beschäftigt), waren auch identisch mit denjenigen, die dann 2015/16 eine Zeitlang zu jeder Party “ihren” Vorzeige-Flüchtling mitbrachten (meist aus Syrien), um stolz ihre Zuneigung Fremden gegenüber zu demonstrieren. Es muss auch um 2016 gewesen sein, als ein Bekannter stöhnte, er möge das Leben in seinem Kiez nicht mehr, nur noch Ausländer. Ich sah ihn fragend an - er war damals immer schon “gegen rechts” demonstrieren gegangen, woher der plötzliche Sinneswandel? Wie sich herausstellte, waren die Ausländer, die er meinte Spanier, Briten etc., die es aus beruflichen Gründen in die Hauptstadt verschlagen hatte, immer nur für ein paar Jahre, meinte er, dann seien wieder weg, daher hätten sie gar kein Interesse, Deutsch zu lernen, und in der Kita würden sie sich auch nicht vernünftig integrieren, nie an Elternabenden teilnehmen etc. Ich fand das lustig und dachte mir meinen Teil. Heute wäre ich vermutlich nicht mehr so zurückhaltend, und würde auf den Widerspruch hinweisen zwischen seiner stets demonstrativ zur Schau gestellten Freundlichkeit gegenüber nicht-europäischen (muslimischen) Zuwanderern und dem, was er über europäische Ex-Pats sagte.
@Michael Anton: Schon in der Jungsteinzeit gab es offenbar weite Reisen zu Kultstätten und überregionalen Treffen, faszinierendes Thema, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Pferde erst später als Reittiere benutzt wurden.
„ Die Mauer muß weg!“ Reisefreiheit,Bewegungsfreiheit,Rede— und Gedankenfreiheit, Handelsfreiheit— die Mauern müssen weg! Gute Reise! Möge Hermes, der Gott der Reisenden, der Kaufleute, Diebe…alle beschützen.
@Emil Meins: Wieso implizit. Ich bin immer sehr geradeheraus, was mir die Feindschaft der halben Achgut-Leserschaft eingetragen hat. Einige haben sich sogar frustriert aus dem Forum verabschiedet als sie mit der Realität konfrontiert wurden. Trotzdem Danke und schönen Gruss in die Walachei.
Der Deutsche darf sich selbst nicht mehr lieben, da liebt man halt jeden Gemüsehändler Hauptsache Hintergrund. UNd erst die Frauen. (Lass ich mal so stehen) Hat nicht Chesterton was ähnliches über das Christentum geschrieben?