Von Thea Dorn
Was ist der Unterschied zwischen Josef Fritzl und Charlotte Roche?
Im Fall Fritzl schlummert hinter der Fassade der Biederkeit der Tabubruch.
Im Fall Roche schlummert hinter der Fassade des Tabubruchs die Biederkeit.
Der Unterschied ist interessant, weil er verrät, welchen Charakter der tatsächliche und der vermeintliche Tabubruch in einer offenen Gesellschaft jeweils hat. Und weil er zeigt, auf welch kümmerlichem Niveau der in provokativer Absicht inszenierte Tabubruch unserer Tage angekommen ist.
Die Tabuzone ist der archaische Kern einer jeden Gesellschaft. Wer sie betritt, wird von der Gemeinschaft gnadenlos verstoßen. Der überführte Tabubrecher räkelt sich nicht mehr auf Talkshowsofas. Er muss sogar im Knast befürchten, gelyncht zu werden.
Für die vormodernen, religiös dominierten Gemeinschaften bestand die Welt zum überwiegenden Teil aus Tabuzonen. Aufrechte, intelligente Tabubrecher von Sokrates über Galilei bis Nietzsche haben ihren Kopf dafür hingehalten, Tabus in Frage zu stellen. Dieser Prozess nannte sich Aufklärung und führte dazu, dass in offenen Gesellschaften die Tabuzonen so abgeschmolzen sind wie die Alpengletscher. Geblieben ist ein Restbestand an archaischen Tabus wie Inzest, Sterben, Tod – und seit 1945: Der Holocaust. Jeder Provokateur, der diese Themen herausfordert, begibt sich auf dünnstes Eis. Das meiste, was heute unter dem Label „Tabubruch“ verkauft wird, beschränkt sich jedoch aufs Epater les bourgeoises, jenes Spiel mit den Tabus zweiter Klasse, die die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Selbstschutz errichtet hat. Mit reger Plastikaxt zerlegt der „linke“ Bürgerschreck die letzten Sessel, die vom konservativen Mobiliar geblieben sind, während der „rechte“ sich über die neuen Gartenzäune hermacht, die von der politischen Korrektheit gezogen wurden. Doch so wie der archaische Tabubrecher damit rechnen muss, von der gesamten Gemeinschaft verstoßen zu werden, sollte der Bürgerschreck es wenigstens aushalten, wenn ihm die bürgerliche Mitte ihre Gunst entzieht. An dieser Fähigkeit scheint es in jüngster Zeit zu mangeln.
In einem Stern-Interview fordert Charlotte Roche zum x-ten Mal den befreiten „tierischen“ Sex, und dass es einem egal sein soll, ob man Haare an den Beinen hat. Auf die Nachfrage der Interviewerin, dass ihre eigenen Beine verdächtig epiliert aussähen, gibt die Heilige Johanna der Feuchtgebiete zu: „Nee, stimmt, ich bin da gar nicht behaart. Ich habe doch selbst auch mit diesem Druck zu kämpfen. Als Viva-Moderatorin hatte ich unrasierte Achseln und habe gelitten wie ein Hund [tat das nicht zuletzt Edmund Stoiber? Anm. T.D.], weil Kollegen und Zuschauer mich fertig gemacht haben.“
Ach Gottchen. Ist Janis Joplin etwa dazu übergegangen, sich nur noch Vitamine zu spritzen, weil „Kollegen und Zuschauer“ sie als Drogenschlampe „fertig gemacht“ haben? Mit solchen Verlautbarungen biedert sich die Löwin als Bettvorlegerin für exakt jene Schlafzimmer an, die sie angeblich aufmischen will. Vom Pathos der Einsamkeit, das dem Bürgerschreck einst seine Aura verlieh, ist die Larmoyanz des Scheidungskinds geblieben, das keine Zurückweisung mehr ertragen kann.
Auch „Lady Bitch Ray“ gilt als Tabubrecherin, seit sie im Fernsehen fünfzehn mal fehlerfrei das Wort „Fotze“ ausgesprochen hat. In einem Song rappt sie: „Deutschland, ich ficke Dich in den Arsch“. Der besorgten deutschen Medienvertreterin säuselt sie ins Mikrofon: „Ich liebe Deutschland, denn erst hier konnte ich zu dem werden, was ich heute bin.“
Dass auf dem Boulevard keiner meint, was er sagt, und jeder alles kräht, solange es ihm Aufmerksamkeit sichert, ist nicht neu und braucht nicht zu irritieren. Kritisch wird es, wenn der Bullshit beginnt, die Agora zu überschwemmen – jenen Ort, der dem Streit um ernst gemeinte Inhalte vorbehalten sein sollte. Es ist unwürdig, wenn sich das Feuilleton von Figuren, die noch nicht einmal bereit sind, für ihre nichtigen Provokatiönchen gerade zu stehen, wochenlang die Themen diktieren lässt. Und es ist gefährlich, wenn die boulevardeske Haltung: „Alles egal, Hauptsache großes Geläut“ auch das Denken und Handeln jener bestimmt, die sich durch intellektuelle Redlichkeit auszeichnen müssten.
„Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.“ Mit diesem Satz warb die Bild-Zeitung im vergangenen Jahr. Gandhi und Einstein konnten sich nicht mehr dagegen wehren, dass ihre Gesichter für diese Bullshit-Kampagne herhalten mussten. Alice Schwarzer hätte sich wehren können.
Die diesjährige Börnepreisträgerin ist eine der wenigen Frauen, die die Geschichte der Bundesrepublik mit geprägt haben. Die von ihr initiierte Kampagne „Ich habe abgetrieben“ stellte 1971 einen echten Tabubruch dar, für den Alice Schwarzer harsche Anfeindungen und gesellschaftliche Isolation in Kauf nahm. Menschlich ist es also zu verstehen, dass der einstige Paria sein Glück nicht fassen kann, wenn ihm der Mainstream dreißig Jahre später nicht mehr kalt ins Gesicht klatscht, sondern ihn auf sanfter Woge vor sich her trägt. Das Problem ist nur, dass die Integrität der einstigen Aufklärerin dabei mit baden gegangen ist.
Als die FAZ 2007 ihr Buch „Die Antwort“ vorabdruckte, mochte man Alice Schwarzer spontan gratulieren, es so weit gebracht zu haben. Die Gratulation blieb einem jedoch im Halse stecken, als man den Preis erkannte, den sie stillschweigend dafür bezahlt hatte: Obwohl sich ihr Buch als Generalabrechnung mit den diversen Bestrebungen der letzten Jahre begriff, das Rad der Emanzipation in Richtung „natürliche Geschlechterordnung“ zurückzudrehen, wurde darin ein Name, der diesem Backlash entscheidende Impulse verliehen hat, nur am Rande und äußerst milde erwähnt: Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ.
Aber es wäre unfair, allein Alice Schwarzer Unredlichkeit vorzuwerfen. Ebenso muss sich Frank Schirrmacher die Frage gefallen lassen, wieso er in „seiner“ Zeitung ein Werk vorabdruckt, dessen Thesen er Seite für Seite als verheerend, ja nachgerade apokalyptisch falsch empfinden muss – wenn er jene Thesen, die er 2006 in seinem Buch „Minimum“ vertreten hat, tatsächlich ernst meint. Um eine inhaltliche Konfrontation mit der weltanschaulichen Opponentin kann es ihm jedenfalls nicht gegangen sein – das beweist ein langes Gespräch, das er im Juli 2006 mit Alice Schwarzer geführt hat, und in dem beide aneinander vorbei reden, um sich auf den schmalen Konsens zu einigen, das der Islamismus eine Bedrohung für den Westen darstellt.
Hat Alice Schwarzer, als sie erfuhr, dass Harald Schmidt ihr den Börnepreis 2008 verleihen will, ein Mann, der keine sexistische Zote auslässt, selbst wenn er dafür wie der Billigsprittanker drei Kilometer Umweg fahren muss – hat sie sich da wenigstens eine Sekunde lang gefragt, ob sie in dieser Comedy mitspielen soll?
Und warum hat Harald Schmidt seine Macht als alleiniger Juror dazu genutzt, ausgerechnet Alice Schwarzer zu ehren? Um endlich einmal in der Paulskirche sprechen zu dürfen – wie er im ersten Satz seiner Laudatio erklärt? Aber warum hat er den Preis dann nicht an Oliver Kahn verliehen? Oder an Michaela Schaffrath? Aus Angst, die gehobene Gesellschaft würde eine solche Provokation als Tabubruch empfinden und dem Parvenü ihre heiligen Hallen wieder verschließen? Als Feigling hatte sich „Dirty Harry“ ja bereits anlässlich des Karikaturenstreits und der Ermordung Theo van Goghs geoutet, indem er mit aasigem Lächeln versicherte, niemals eine Person oder Gruppe zu provozieren, bei er die Gefahr bestünde, sie könnte ihm die Kehle durchschneiden.
Wir sollten dem Schicksal dreimal täglich danken, dass es uns einen Staat beschert hat, in dem jene Wahrheiten, die das zivile Miteinander garantieren, mehr oder minder vollständig in der Verfassung festgeschrieben sind und von entsprechenden Institutionen geschützt werden, so dass es einstweilen keines Mutes bedarf, sie auszusprechen. Allerdings ist fraglich, wie lange dieser selige Zustand währen kann, wenn wir zulassen, dass unsere Agora zum Ego-Stadl verkommt.
Zuerst erschienen in Die Zeit Nr. 22 vom 21. Mai 2008